"Für die Anwohner des Orinoko bilden die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, einen Gegenstand der täglichen Unterhaltung. Sie haben die Sitten des Krokodils beobachtet, wie der Stierfechter die Sitten des Stieres; sie wissen die Bewegungen der Echse, ihre Angriffsmittel, den Grad ihrer Keckheit gleichsam voraus zu berechnen. Sehen sie sich bedroht, so greifen sie mit der Geistesgegenwart und Entschlossenheit, welche den Jndianern und Zambos, überhaupt den Farbigen eigen sind, zu allen den Mitteln, welche man sie von Kindheit auf kennen gelehrt. Jn Ländern, wo die Natur so gewaltig und furchtbar erscheint, ist der Mensch beständig gegen die Gefahr gerüstet. Das junge indianische Mädchen, welches sich selbst aus dem Rachen des Krokodils losgemacht, sagte: "ich wußte, daß mich der Kaiman fahren ließ, wenn ich ihm die Finger in die Augen drückte." Dieses Mädchen gehörte der dürftigen Volksklasse an, in welcher Gewöhnung an leibliche Noth die geistige Kraft steigert. Aber wahrhaft überraschend ist es, wenn man in den von Erdbeben zerrütteten Ländern Frauen aus den höchsten Gesellschaftsklassen in den Augenblicken der Gefahr dieselbe Ueberlegtheit und Entschlossenheit entwickeln sieht.
"Da das Krokodil vermöge des Baues seines Kehlkopfes, des Zungenbeines und der Faltung der Zunge die Beute unter Wasser wohl packen, aber nicht verschlingen kann, so verschwindet selten ein Mensch, als daß man es nicht ganz nah der Stelle, wo das Unglück geschehen, nach ein paar Stunden zum Vorschein kommen und seine Beute verschlingen sieht. Gleichwohl macht man selten Jagd auf diese gefährlichen Raubthiere. Sie sind sehr schlau, daher nicht leicht zu erlegen. Ein Kugelschuß ist nur dann tödtlich, wenn er in den Rachen oder in die Achselhöhle trifft (?). Die Jndianer, welche sich selten der Feuerwaffe bedienen, greifen sie mit Lanzen an, sobald sie an starke, spitze, eiserne, mit Fleisch geköderte und mittels einer Kette an Baumstämme befestigte Haken angebissen haben, gehen ihnen aber erst dann zu Leibe, wenn sie sich lange abgemüht haben, um von dem Eisen loszukommen. -- Es ist nicht wahrscheinlich, daß man es je dahin bringt, das Land von Krokodilen zu säubern, da in einem Wirrsale zahlloser Flüsse Tag für Tag neue Schwärme vom Ostabhange der Anden über den Meta und den Apure an den Küsten von spanisch Guyana herabkommen. Der Fortschritt der Gesittung wird blos das Eine bewirken, daß die Thiere scheuer und leichter zu verscheuchen sein werden."
Aus den erlegten Krokodilen scheint man in Südamerika wenig Vortheil ziehen zu können; Humboldt erwähnt nur, daß man Kaimansfett für ein vortreffliches Abführmittel hält und das weiße Fleisch wenigstens hier und da gern ißt.
Außer dem Menschen haben die Spitzkrokodile wenig Feinde, welche ihnen gefährlich werden können. Es wird Mancherlei erzählt von Kämpfen zwischen ihnen und den großen Wasserschlangen; die Berichte verdienen jedoch, meiner Ansicht nach, nicht den geringsten Glauben. Jm allgemeinen bekümmern sich auch diese Krokodile nur um diejenigen Thiere, welche ihnen Beute versprechen, während die übrigen sie vollständig gleichgültig lassen. Humboldt erzählt, daß er kleine, schnee- weiße Reiher auf ihrem Rücken, ja sogar auf ihrem Kopfe umherlaufen sah, ohne daß sie denselben Beachtung schenken, lehrt uns also ein ganz ähnliches Verhältniß kennen, wie es zwischen dem Nilkrokodile und seinem Wächter besteht. Lärmende Mitbewohner ihres Gewässers scheinen ihnen dagegen nicht zu behagen: Humboldt sah sie untertauchen, wenn Seedelfine in ihre Nähe kamen. Alte Krokodile sind, wie leicht erklärlich, gegen die Angriffe anderer Thiere hinlänglich geschützt; den Jungen aber stellen verschiedene Sumpfvögel und, wie wir oben (B. III, S. 583) gesehen haben, auch die Rabengeier mit Eifer und Geschick nach.
Ueber die Fortpflanzung gibt schon der alte Ulloa Auskunft. Sie legen, erzählt er, binnen zwei Tagen wenigstens hundert Eier in ein Loch im Sande, decken es zu und wälzen sich darüber, um die Spuren zu verbergen. Hierauf entfernen sie sich einige Tage, kommen sodann in Begleitung des Männchens zurück, scharren den. Sand auf und zerbrechen die Schalen. Die Mutter setzt die Jungen auf den Rücken und trägt sie ins Wasser. Unterwegs holt der Rabengeier einige weg, und auch das Männchen frißt soviel als es kann; ja sogar die Mutter verzehrt diejenigen, welche herunterfallen
Brehm, Thierleben. V. 6
Spitzkrokodil.
„Für die Anwohner des Orinoko bilden die Gefahren, denen ſie ausgeſetzt ſind, einen Gegenſtand der täglichen Unterhaltung. Sie haben die Sitten des Krokodils beobachtet, wie der Stierfechter die Sitten des Stieres; ſie wiſſen die Bewegungen der Echſe, ihre Angriffsmittel, den Grad ihrer Keckheit gleichſam voraus zu berechnen. Sehen ſie ſich bedroht, ſo greifen ſie mit der Geiſtesgegenwart und Entſchloſſenheit, welche den Jndianern und Zambos, überhaupt den Farbigen eigen ſind, zu allen den Mitteln, welche man ſie von Kindheit auf kennen gelehrt. Jn Ländern, wo die Natur ſo gewaltig und furchtbar erſcheint, iſt der Menſch beſtändig gegen die Gefahr gerüſtet. Das junge indianiſche Mädchen, welches ſich ſelbſt aus dem Rachen des Krokodils losgemacht, ſagte: „ich wußte, daß mich der Kaiman fahren ließ, wenn ich ihm die Finger in die Augen drückte.“ Dieſes Mädchen gehörte der dürftigen Volksklaſſe an, in welcher Gewöhnung an leibliche Noth die geiſtige Kraft ſteigert. Aber wahrhaft überraſchend iſt es, wenn man in den von Erdbeben zerrütteten Ländern Frauen aus den höchſten Geſellſchaftsklaſſen in den Augenblicken der Gefahr dieſelbe Ueberlegtheit und Entſchloſſenheit entwickeln ſieht.
„Da das Krokodil vermöge des Baues ſeines Kehlkopfes, des Zungenbeines und der Faltung der Zunge die Beute unter Waſſer wohl packen, aber nicht verſchlingen kann, ſo verſchwindet ſelten ein Menſch, als daß man es nicht ganz nah der Stelle, wo das Unglück geſchehen, nach ein paar Stunden zum Vorſchein kommen und ſeine Beute verſchlingen ſieht. Gleichwohl macht man ſelten Jagd auf dieſe gefährlichen Raubthiere. Sie ſind ſehr ſchlau, daher nicht leicht zu erlegen. Ein Kugelſchuß iſt nur dann tödtlich, wenn er in den Rachen oder in die Achſelhöhle trifft (?). Die Jndianer, welche ſich ſelten der Feuerwaffe bedienen, greifen ſie mit Lanzen an, ſobald ſie an ſtarke, ſpitze, eiſerne, mit Fleiſch geköderte und mittels einer Kette an Baumſtämme befeſtigte Haken angebiſſen haben, gehen ihnen aber erſt dann zu Leibe, wenn ſie ſich lange abgemüht haben, um von dem Eiſen loszukommen. — Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß man es je dahin bringt, das Land von Krokodilen zu ſäubern, da in einem Wirrſale zahlloſer Flüſſe Tag für Tag neue Schwärme vom Oſtabhange der Anden über den Meta und den Apure an den Küſten von ſpaniſch Guyana herabkommen. Der Fortſchritt der Geſittung wird blos das Eine bewirken, daß die Thiere ſcheuer und leichter zu verſcheuchen ſein werden.“
Aus den erlegten Krokodilen ſcheint man in Südamerika wenig Vortheil ziehen zu können; Humboldt erwähnt nur, daß man Kaimansfett für ein vortreffliches Abführmittel hält und das weiße Fleiſch wenigſtens hier und da gern ißt.
Außer dem Menſchen haben die Spitzkrokodile wenig Feinde, welche ihnen gefährlich werden können. Es wird Mancherlei erzählt von Kämpfen zwiſchen ihnen und den großen Waſſerſchlangen; die Berichte verdienen jedoch, meiner Anſicht nach, nicht den geringſten Glauben. Jm allgemeinen bekümmern ſich auch dieſe Krokodile nur um diejenigen Thiere, welche ihnen Beute verſprechen, während die übrigen ſie vollſtändig gleichgültig laſſen. Humboldt erzählt, daß er kleine, ſchnee- weiße Reiher auf ihrem Rücken, ja ſogar auf ihrem Kopfe umherlaufen ſah, ohne daß ſie denſelben Beachtung ſchenken, lehrt uns alſo ein ganz ähnliches Verhältniß kennen, wie es zwiſchen dem Nilkrokodile und ſeinem Wächter beſteht. Lärmende Mitbewohner ihres Gewäſſers ſcheinen ihnen dagegen nicht zu behagen: Humboldt ſah ſie untertauchen, wenn Seedelfine in ihre Nähe kamen. Alte Krokodile ſind, wie leicht erklärlich, gegen die Angriffe anderer Thiere hinlänglich geſchützt; den Jungen aber ſtellen verſchiedene Sumpfvögel und, wie wir oben (B. III, S. 583) geſehen haben, auch die Rabengeier mit Eifer und Geſchick nach.
Ueber die Fortpflanzung gibt ſchon der alte Ulloa Auskunft. Sie legen, erzählt er, binnen zwei Tagen wenigſtens hundert Eier in ein Loch im Sande, decken es zu und wälzen ſich darüber, um die Spuren zu verbergen. Hierauf entfernen ſie ſich einige Tage, kommen ſodann in Begleitung des Männchens zurück, ſcharren den. Sand auf und zerbrechen die Schalen. Die Mutter ſetzt die Jungen auf den Rücken und trägt ſie ins Waſſer. Unterwegs holt der Rabengeier einige weg, und auch das Männchen frißt ſoviel als es kann; ja ſogar die Mutter verzehrt diejenigen, welche herunterfallen
Brehm, Thierleben. V. 6
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Spitzkrokodil.
„Für die Anwohner des Orinoko bilden die Gefahren, denen ſie ausgeſetzt ſind, einen Gegenſtand
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Sitten des Stieres; ſie wiſſen die Bewegungen der Echſe, ihre Angriffsmittel, den Grad ihrer Keckheit
gleichſam voraus zu berechnen. Sehen ſie ſich bedroht, ſo greifen ſie mit der Geiſtesgegenwart und
Entſchloſſenheit, welche den Jndianern und Zambos, überhaupt den Farbigen eigen ſind, zu allen
den Mitteln, welche man ſie von Kindheit auf kennen gelehrt. Jn Ländern, wo die Natur ſo gewaltig
und furchtbar erſcheint, iſt der Menſch beſtändig gegen die Gefahr gerüſtet. Das junge indianiſche
Mädchen, welches ſich ſelbſt aus dem Rachen des Krokodils losgemacht, ſagte: „ich wußte, daß mich
der Kaiman fahren ließ, wenn ich ihm die Finger in die Augen drückte.“ Dieſes Mädchen gehörte
der dürftigen Volksklaſſe an, in welcher Gewöhnung an leibliche Noth die geiſtige Kraft ſteigert. Aber
wahrhaft überraſchend iſt es, wenn man in den von Erdbeben zerrütteten Ländern Frauen aus den
höchſten Geſellſchaftsklaſſen in den Augenblicken der Gefahr dieſelbe Ueberlegtheit und Entſchloſſenheit
entwickeln ſieht.
„Da das Krokodil vermöge des Baues ſeines Kehlkopfes, des Zungenbeines und der Faltung
der Zunge die Beute unter Waſſer wohl packen, aber nicht verſchlingen kann, ſo verſchwindet ſelten ein
Menſch, als daß man es nicht ganz nah der Stelle, wo das Unglück geſchehen, nach ein paar Stunden
zum Vorſchein kommen und ſeine Beute verſchlingen ſieht. Gleichwohl macht man ſelten Jagd auf
dieſe gefährlichen Raubthiere. Sie ſind ſehr ſchlau, daher nicht leicht zu erlegen. Ein Kugelſchuß iſt
nur dann tödtlich, wenn er in den Rachen oder in die Achſelhöhle trifft (?). Die Jndianer, welche
ſich ſelten der Feuerwaffe bedienen, greifen ſie mit Lanzen an, ſobald ſie an ſtarke, ſpitze, eiſerne, mit
Fleiſch geköderte und mittels einer Kette an Baumſtämme befeſtigte Haken angebiſſen haben, gehen
ihnen aber erſt dann zu Leibe, wenn ſie ſich lange abgemüht haben, um von dem Eiſen loszukommen. —
Es iſt nicht wahrſcheinlich, daß man es je dahin bringt, das Land von Krokodilen zu ſäubern, da in
einem Wirrſale zahlloſer Flüſſe Tag für Tag neue Schwärme vom Oſtabhange der Anden über den
Meta und den Apure an den Küſten von ſpaniſch Guyana herabkommen. Der Fortſchritt der
Geſittung wird blos das Eine bewirken, daß die Thiere ſcheuer und leichter zu verſcheuchen
ſein werden.“
Aus den erlegten Krokodilen ſcheint man in Südamerika wenig Vortheil ziehen zu können;
Humboldt erwähnt nur, daß man Kaimansfett für ein vortreffliches Abführmittel hält und das
weiße Fleiſch wenigſtens hier und da gern ißt.
Außer dem Menſchen haben die Spitzkrokodile wenig Feinde, welche ihnen gefährlich werden
können. Es wird Mancherlei erzählt von Kämpfen zwiſchen ihnen und den großen Waſſerſchlangen;
die Berichte verdienen jedoch, meiner Anſicht nach, nicht den geringſten Glauben. Jm allgemeinen
bekümmern ſich auch dieſe Krokodile nur um diejenigen Thiere, welche ihnen Beute verſprechen,
während die übrigen ſie vollſtändig gleichgültig laſſen. Humboldt erzählt, daß er kleine, ſchnee-
weiße Reiher auf ihrem Rücken, ja ſogar auf ihrem Kopfe umherlaufen ſah, ohne daß ſie denſelben
Beachtung ſchenken, lehrt uns alſo ein ganz ähnliches Verhältniß kennen, wie es zwiſchen dem
Nilkrokodile und ſeinem Wächter beſteht. Lärmende Mitbewohner ihres Gewäſſers ſcheinen ihnen
dagegen nicht zu behagen: Humboldt ſah ſie untertauchen, wenn Seedelfine in ihre Nähe kamen.
Alte Krokodile ſind, wie leicht erklärlich, gegen die Angriffe anderer Thiere hinlänglich geſchützt; den
Jungen aber ſtellen verſchiedene Sumpfvögel und, wie wir oben (B. III, S. 583) geſehen haben,
auch die Rabengeier mit Eifer und Geſchick nach.
Ueber die Fortpflanzung gibt ſchon der alte Ulloa Auskunft. Sie legen, erzählt er, binnen
zwei Tagen wenigſtens hundert Eier in ein Loch im Sande, decken es zu und wälzen ſich darüber, um
die Spuren zu verbergen. Hierauf entfernen ſie ſich einige Tage, kommen ſodann in Begleitung des
Männchens zurück, ſcharren den. Sand auf und zerbrechen die Schalen. Die Mutter ſetzt die Jungen
auf den Rücken und trägt ſie ins Waſſer. Unterwegs holt der Rabengeier einige weg, und auch das
Männchen frißt ſoviel als es kann; ja ſogar die Mutter verzehrt diejenigen, welche herunterfallen
Brehm, Thierleben. V. 6
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/97>, abgerufen am 22.12.2024.
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