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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Krystallfischen. Rüsselrädchen.
einer pinselartigen Federspitze kann man sie abnehmen, auf ein flaches Glas bringen und sie offen
betrachten. Schon nach zwei bis drei Tagen sieht man reichliche Vermehrung der Thiere und
leere Eischalen unter den vollen Eiern. Ueber das Erkenntnißvermögen, die Wahlfähigkeit und
den Ortssinn, auch einen Gesellschaftssinn dieser Thierchen kann kein Zweifel bei denen bleiben,
welche sie mit Lust beobachten. Man mag diese Erscheinungen Jnstinkt oder, wie man will,
nennen, so bleiben es jedenfalls Geistesthätigkeiten, die man doch nur aus Eitelkeit gern niedriger
stellt, als sie es sind." Wir müssen hier zur Ergänzung unserer obigen Angaben über den Bau
des Noteus hinzufügen, daß man bei allen größeren Räderthieren in der Schlund- und Nacken-
gegend eine ansehnliche Nervenmasse, dem Schlundringe der Gliederthiere entsprechend, entdeckt hat
und daß bei vielen mit dieser Art von Gehirn Augen mit ordentlichen, lichtbrechenden und zur
Bilderzeugung dienlichen Linsen in unmittelbarer Verbindung stehen. Ueber die aus Fabelhafte
grenzende Vermehrung der Hydatina senta lesen wir ferner in dem großen Jnfusorienwerke Ehren-
bergs.
"Ein junges Thierchen bildet schon nach 2 bis 3 Stunden nach dem Auskriechen die
ersten Eikeime aus, und binnen 24 Stunden sah ich aus 2 Jndividuen: durch Eibildung (Keim-
bildung; ich weise auf die Sommereier der Daphnien S. 661) 8 entstanden, 4 aus einem größeren,
2 aus einem kleineren. Bei gleicher Fortbildung von täglich 4 Eiern und deren Ausschlüpfen,
gibt dieß in 10 auf einander folgenden Tagen eine mögliche Produktion von 1 Million 48,576
Jndividuen von einer Mutter, am folgenden 11. Tage aber 4 Millionen. Dergleichen Berech-
nungen sind nun zwar, besonders für längere Zeiträume, deßhalb sehr unsicher, weil eine solche
Produktivität, bei einem und demselben Organismus, nie sehr lange anhält, allein wenn es sich
um die Erklärung der fast plötzlichen Erscheinung großer und auffallender Mengen solcher Orga-
nismen handelt, so geben die obigen Erfahrungen dem nüchternen Beurtheiler Mittel an die Hand,
um alle eingebildete Zauberei und Mystik in das Geleise der gewöhnlicheren, an sich weit mächtiger
ergreifenden, wahren Naturgesetze zu bringen."

Die am meisten besprochenen und gemeinsten aller Räderthiere, an welchen die Radbewegung
am frühesten gesehen wurde und am öftersten und leichtesten sich beobachten läßt, gehören in die
Familie der Weichräderthierchen (Philodinaea). Unter ihnen zeichnet sich die Gattung
Rüsselrädchen (Rotifer) durch 2 auf einer Art von Stirnrüssel befindliche Augen und einen
gabelartig endenden Fuß aus, welcher, wie in der ganzen Familie, nach Art eines Fernrohres,
ein- und ausgezogen werden kann. Zumeist an Rotifer vulgaris knüpfen sich die in anderthalb
Jahrhunderten unzählig wiederholten Angaben von den laufenden Rädchen und von dem wunder-
baren Aufleben nach jahrelangem Tode. Der eigentliche Aufenthalt des Thieres sind stehende
Gewässer, in denen es sich zwischen den Wasserfäden und Algen so anhäufen kann, daß es die
kleinen Pflanzen wie ein Schimmel überzieht. Wie aber Taufende von Organismen beim Aus-
trocknen ihrer Standorte mit dem sie umgebenden Staube durch die Winde allerwärts hin aus-
gestreut und über ganze Erdtheile verbreitet werden, so auch das gemeine Räderthierchen.
Trocknen die dasselbe beherbergenden Tümpel und Lachen ein, so ziehen sich die Rotiferen zu einer
Kugel zusammen und trocknen endlich, an ein Sandkorn, ein Pflanzentheilchen angeklebt, zu
einem undurchsichtigen, unförmlichen Stäubchen ein. Sie werden ein Spiel der Winde und
sind in der That durch dieselben über das ganze trockne Land zerstreut. Zwischen den
Flechten und dem Moose auf Baumrinden, vorzüglich aber in dem Dachmoose, sind sie überall
zu finden, sie bewohnen die ärmste Hütte, wie den Königspalast, sobald nur die Dächer alt
genug geworden, um ihre Moosvegetation zu erhalten. Bei trockner, regenloser Witterung
feiert das Leben der Rotiferen; ist es feucht und regnet es, so begehen sie ihre Auferstehung. Du
siehst unter dem Mikroskop das ungeschlachte, eckige Körnchen einigermaßen anschwellen und sich
runden. Jetzt werden einzelne Stellen etwas durchsichtig, das Naß durchtränkt den Körper, dessen
Organe, jemehr er sich voll Wasser saugt, immer deutlicher werden. Das Fußfernrohr streckt
sich um einige Glieder hervor, wie um sich vorsichtig zu orientiren, bis endlich nach einem bemerk-

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Kryſtallfiſchen. Rüſſelrädchen.
einer pinſelartigen Federſpitze kann man ſie abnehmen, auf ein flaches Glas bringen und ſie offen
betrachten. Schon nach zwei bis drei Tagen ſieht man reichliche Vermehrung der Thiere und
leere Eiſchalen unter den vollen Eiern. Ueber das Erkenntnißvermögen, die Wahlfähigkeit und
den Ortsſinn, auch einen Geſellſchaftsſinn dieſer Thierchen kann kein Zweifel bei denen bleiben,
welche ſie mit Luſt beobachten. Man mag dieſe Erſcheinungen Jnſtinkt oder, wie man will,
nennen, ſo bleiben es jedenfalls Geiſtesthätigkeiten, die man doch nur aus Eitelkeit gern niedriger
ſtellt, als ſie es ſind.“ Wir müſſen hier zur Ergänzung unſerer obigen Angaben über den Bau
des Noteus hinzufügen, daß man bei allen größeren Räderthieren in der Schlund- und Nacken-
gegend eine anſehnliche Nervenmaſſe, dem Schlundringe der Gliederthiere entſprechend, entdeckt hat
und daß bei vielen mit dieſer Art von Gehirn Augen mit ordentlichen, lichtbrechenden und zur
Bilderzeugung dienlichen Linſen in unmittelbarer Verbindung ſtehen. Ueber die aus Fabelhafte
grenzende Vermehrung der Hydatina senta leſen wir ferner in dem großen Jnfuſorienwerke Ehren-
bergs.
„Ein junges Thierchen bildet ſchon nach 2 bis 3 Stunden nach dem Auskriechen die
erſten Eikeime aus, und binnen 24 Stunden ſah ich aus 2 Jndividuen: durch Eibildung (Keim-
bildung; ich weiſe auf die Sommereier der Daphnien S. 661) 8 entſtanden, 4 aus einem größeren,
2 aus einem kleineren. Bei gleicher Fortbildung von täglich 4 Eiern und deren Ausſchlüpfen,
gibt dieß in 10 auf einander folgenden Tagen eine mögliche Produktion von 1 Million 48,576
Jndividuen von einer Mutter, am folgenden 11. Tage aber 4 Millionen. Dergleichen Berech-
nungen ſind nun zwar, beſonders für längere Zeiträume, deßhalb ſehr unſicher, weil eine ſolche
Produktivität, bei einem und demſelben Organismus, nie ſehr lange anhält, allein wenn es ſich
um die Erklärung der faſt plötzlichen Erſcheinung großer und auffallender Mengen ſolcher Orga-
nismen handelt, ſo geben die obigen Erfahrungen dem nüchternen Beurtheiler Mittel an die Hand,
um alle eingebildete Zauberei und Myſtik in das Geleiſe der gewöhnlicheren, an ſich weit mächtiger
ergreifenden, wahren Naturgeſetze zu bringen.“

Die am meiſten beſprochenen und gemeinſten aller Räderthiere, an welchen die Radbewegung
am früheſten geſehen wurde und am öfterſten und leichteſten ſich beobachten läßt, gehören in die
Familie der Weichräderthierchen (Philodinaea). Unter ihnen zeichnet ſich die Gattung
Rüſſelrädchen (Rotifer) durch 2 auf einer Art von Stirnrüſſel befindliche Augen und einen
gabelartig endenden Fuß aus, welcher, wie in der ganzen Familie, nach Art eines Fernrohres,
ein- und ausgezogen werden kann. Zumeiſt an Rotifer vulgaris knüpfen ſich die in anderthalb
Jahrhunderten unzählig wiederholten Angaben von den laufenden Rädchen und von dem wunder-
baren Aufleben nach jahrelangem Tode. Der eigentliche Aufenthalt des Thieres ſind ſtehende
Gewäſſer, in denen es ſich zwiſchen den Waſſerfäden und Algen ſo anhäufen kann, daß es die
kleinen Pflanzen wie ein Schimmel überzieht. Wie aber Taufende von Organismen beim Aus-
trocknen ihrer Standorte mit dem ſie umgebenden Staube durch die Winde allerwärts hin aus-
geſtreut und über ganze Erdtheile verbreitet werden, ſo auch das gemeine Räderthierchen.
Trocknen die daſſelbe beherbergenden Tümpel und Lachen ein, ſo ziehen ſich die Rotiferen zu einer
Kugel zuſammen und trocknen endlich, an ein Sandkorn, ein Pflanzentheilchen angeklebt, zu
einem undurchſichtigen, unförmlichen Stäubchen ein. Sie werden ein Spiel der Winde und
ſind in der That durch dieſelben über das ganze trockne Land zerſtreut. Zwiſchen den
Flechten und dem Mooſe auf Baumrinden, vorzüglich aber in dem Dachmooſe, ſind ſie überall
zu finden, ſie bewohnen die ärmſte Hütte, wie den Königspalaſt, ſobald nur die Dächer alt
genug geworden, um ihre Moosvegetation zu erhalten. Bei trockner, regenloſer Witterung
feiert das Leben der Rotiferen; iſt es feucht und regnet es, ſo begehen ſie ihre Auferſtehung. Du
ſiehſt unter dem Mikroſkop das ungeſchlachte, eckige Körnchen einigermaßen anſchwellen und ſich
runden. Jetzt werden einzelne Stellen etwas durchſichtig, das Naß durchtränkt den Körper, deſſen
Organe, jemehr er ſich voll Waſſer ſaugt, immer deutlicher werden. Das Fußfernrohr ſtreckt
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[675/0719] Kryſtallfiſchen. Rüſſelrädchen. einer pinſelartigen Federſpitze kann man ſie abnehmen, auf ein flaches Glas bringen und ſie offen betrachten. Schon nach zwei bis drei Tagen ſieht man reichliche Vermehrung der Thiere und leere Eiſchalen unter den vollen Eiern. Ueber das Erkenntnißvermögen, die Wahlfähigkeit und den Ortsſinn, auch einen Geſellſchaftsſinn dieſer Thierchen kann kein Zweifel bei denen bleiben, welche ſie mit Luſt beobachten. Man mag dieſe Erſcheinungen Jnſtinkt oder, wie man will, nennen, ſo bleiben es jedenfalls Geiſtesthätigkeiten, die man doch nur aus Eitelkeit gern niedriger ſtellt, als ſie es ſind.“ Wir müſſen hier zur Ergänzung unſerer obigen Angaben über den Bau des Noteus hinzufügen, daß man bei allen größeren Räderthieren in der Schlund- und Nacken- gegend eine anſehnliche Nervenmaſſe, dem Schlundringe der Gliederthiere entſprechend, entdeckt hat und daß bei vielen mit dieſer Art von Gehirn Augen mit ordentlichen, lichtbrechenden und zur Bilderzeugung dienlichen Linſen in unmittelbarer Verbindung ſtehen. Ueber die aus Fabelhafte grenzende Vermehrung der Hydatina senta leſen wir ferner in dem großen Jnfuſorienwerke Ehren- bergs. „Ein junges Thierchen bildet ſchon nach 2 bis 3 Stunden nach dem Auskriechen die erſten Eikeime aus, und binnen 24 Stunden ſah ich aus 2 Jndividuen: durch Eibildung (Keim- bildung; ich weiſe auf die Sommereier der Daphnien S. 661) 8 entſtanden, 4 aus einem größeren, 2 aus einem kleineren. Bei gleicher Fortbildung von täglich 4 Eiern und deren Ausſchlüpfen, gibt dieß in 10 auf einander folgenden Tagen eine mögliche Produktion von 1 Million 48,576 Jndividuen von einer Mutter, am folgenden 11. Tage aber 4 Millionen. Dergleichen Berech- nungen ſind nun zwar, beſonders für längere Zeiträume, deßhalb ſehr unſicher, weil eine ſolche Produktivität, bei einem und demſelben Organismus, nie ſehr lange anhält, allein wenn es ſich um die Erklärung der faſt plötzlichen Erſcheinung großer und auffallender Mengen ſolcher Orga- nismen handelt, ſo geben die obigen Erfahrungen dem nüchternen Beurtheiler Mittel an die Hand, um alle eingebildete Zauberei und Myſtik in das Geleiſe der gewöhnlicheren, an ſich weit mächtiger ergreifenden, wahren Naturgeſetze zu bringen.“ Die am meiſten beſprochenen und gemeinſten aller Räderthiere, an welchen die Radbewegung am früheſten geſehen wurde und am öfterſten und leichteſten ſich beobachten läßt, gehören in die Familie der Weichräderthierchen (Philodinaea). Unter ihnen zeichnet ſich die Gattung Rüſſelrädchen (Rotifer) durch 2 auf einer Art von Stirnrüſſel befindliche Augen und einen gabelartig endenden Fuß aus, welcher, wie in der ganzen Familie, nach Art eines Fernrohres, ein- und ausgezogen werden kann. Zumeiſt an Rotifer vulgaris knüpfen ſich die in anderthalb Jahrhunderten unzählig wiederholten Angaben von den laufenden Rädchen und von dem wunder- baren Aufleben nach jahrelangem Tode. Der eigentliche Aufenthalt des Thieres ſind ſtehende Gewäſſer, in denen es ſich zwiſchen den Waſſerfäden und Algen ſo anhäufen kann, daß es die kleinen Pflanzen wie ein Schimmel überzieht. Wie aber Taufende von Organismen beim Aus- trocknen ihrer Standorte mit dem ſie umgebenden Staube durch die Winde allerwärts hin aus- geſtreut und über ganze Erdtheile verbreitet werden, ſo auch das gemeine Räderthierchen. Trocknen die daſſelbe beherbergenden Tümpel und Lachen ein, ſo ziehen ſich die Rotiferen zu einer Kugel zuſammen und trocknen endlich, an ein Sandkorn, ein Pflanzentheilchen angeklebt, zu einem undurchſichtigen, unförmlichen Stäubchen ein. Sie werden ein Spiel der Winde und ſind in der That durch dieſelben über das ganze trockne Land zerſtreut. Zwiſchen den Flechten und dem Mooſe auf Baumrinden, vorzüglich aber in dem Dachmooſe, ſind ſie überall zu finden, ſie bewohnen die ärmſte Hütte, wie den Königspalaſt, ſobald nur die Dächer alt genug geworden, um ihre Moosvegetation zu erhalten. Bei trockner, regenloſer Witterung feiert das Leben der Rotiferen; iſt es feucht und regnet es, ſo begehen ſie ihre Auferſtehung. Du ſiehſt unter dem Mikroſkop das ungeſchlachte, eckige Körnchen einigermaßen anſchwellen und ſich runden. Jetzt werden einzelne Stellen etwas durchſichtig, das Naß durchtränkt den Körper, deſſen Organe, jemehr er ſich voll Waſſer ſaugt, immer deutlicher werden. Das Fußfernrohr ſtreckt ſich um einige Glieder hervor, wie um ſich vorſichtig zu orientiren, bis endlich nach einem bemerk- 43*

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 675. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/719>, abgerufen am 23.11.2024.