Eine neue Welt des Lebens thut sich vor uns auf, aber nur vor den Augen derjenigen, welche eifrig suchen. Das Vorhandensein der Säuger, Vögel, Fische, Jnsekten, theilweise auch der Krebse ist so aufdrängerisch, es ist so unmöglich, ihnen nicht zu begegnen, daß ihre Manch- faltigkeit als etwas Selbstverständliches hingenommen wird. Der Name des Wurmes wird gebraucht, um etwas Verächtliches, Aermliches, nicht Beachtenswerthes zu bezeichnen, und Jeder- mann denkt dabei an den sich hülflos im trockenen Staube krümmenden Regenwurm, wenn die aus dem täglichen Leben geschöpften Erfahrungen nicht etwa noch die nicht angenehme Erinnerung an Blutegel, eine Trichinenepidemie und finniges Fleisch mit sich bringen. Das sind unschöne, zum Theil widerliche Eindrücke, die man da empfängt; sie laden nicht gerade ein zu näherer Bekanntschaft.
Und doch, wie wir eben sagten, thut sich mit den Würmern dem Naturfreunde eine ganze neue Welt auf, welche an Manchfaltigkeit des Baues, des Lebens, des Vorkommens die meisten größeren Abtheilungen des Thierreiches übertrifft, dort in der Einfachheit der Struktur und nach ihrer mikroskopischen Kleinheit an die Jnfusorien sich anschließend, hier den Weichthieren sich nähernd, hier wieder von den ächten Gliederthieren nur schwer zu trennen. Jn der Tiefe des Meeres hausen die einen, am Ufer die anderen, andere in der Erde, einige steigen sogar auf die Gipfel der Bäume in den Tropenwäldern. Daß viele sich in die Eingeweide aller möglichen Thiere, leider auch des Menschen verirren, erweitert ihre geographische Verbreitung und macht ihre Uebersicht und systematische Bewältigung um vieles schwieriger. Wie haben sich doch seit Linne die Zeiten geändert; damals lernte man, daß es sechs Thierklassen gäbe: Säuger, Vögel, Amphibien, Fische, Jnsekten und -- Würmer. Was war nicht alles in diesen großen Topf "Würmer" hinein- geworfen! Und wie sicher wußte man, daß die Würmer "ein Herz mit nur einer Kammer, ohne Vorkammer besäßen, kaltes, weißliches Blut und keine Fühlhörner, sondern blos Fühlfäden". Auf Regenwurm, Schnecke, Seestern, Polyp mußten jene Worte passen. Auch in dem System des großen Reformators der Thierkunde, Cuvier, sind die Würmer eine sehr verwundbare Stelle. Eine Abtheilung, die Gliederwürmer, deren Körper unverkennbar aus Ringeln zusammen- gesetzt ist, reihte er, und mit großem Rechte, an die Gliederthiere. Die anderen, Eingeweide- würmer und dergleichen verwies er zu den Strahlthieren, zu denen nur einzelne verborgene und höchst problematische Beziehungen obwalten.
Gegenwärtig handelt es sich nur darum, ob die Würmer mit den Gliederthieren zu einem großen Haufen zu vereinigen seien, oder ob sie eine selbständige Abtheilung, gleichwerthig mit den Wirbelthieren, Gliederthieren zu bilden haben. Hat man zunächst die hoch entwickelten Würmer im Auge, jene Fülle mit Borsten versehener Würmer, von denen wir im Regenwurme und dessen nächsten Verwandten sozusagen auf heimischer Erde einen schwachen Abglanz besitzen, die ihre
Der Kreis der Würmer.
Eine neue Welt des Lebens thut ſich vor uns auf, aber nur vor den Augen derjenigen, welche eifrig ſuchen. Das Vorhandenſein der Säuger, Vögel, Fiſche, Jnſekten, theilweiſe auch der Krebſe iſt ſo aufdrängeriſch, es iſt ſo unmöglich, ihnen nicht zu begegnen, daß ihre Manch- faltigkeit als etwas Selbſtverſtändliches hingenommen wird. Der Name des Wurmes wird gebraucht, um etwas Verächtliches, Aermliches, nicht Beachtenswerthes zu bezeichnen, und Jeder- mann denkt dabei an den ſich hülflos im trockenen Staube krümmenden Regenwurm, wenn die aus dem täglichen Leben geſchöpften Erfahrungen nicht etwa noch die nicht angenehme Erinnerung an Blutegel, eine Trichinenepidemie und finniges Fleiſch mit ſich bringen. Das ſind unſchöne, zum Theil widerliche Eindrücke, die man da empfängt; ſie laden nicht gerade ein zu näherer Bekanntſchaft.
Und doch, wie wir eben ſagten, thut ſich mit den Würmern dem Naturfreunde eine ganze neue Welt auf, welche an Manchfaltigkeit des Baues, des Lebens, des Vorkommens die meiſten größeren Abtheilungen des Thierreiches übertrifft, dort in der Einfachheit der Struktur und nach ihrer mikroſkopiſchen Kleinheit an die Jnfuſorien ſich anſchließend, hier den Weichthieren ſich nähernd, hier wieder von den ächten Gliederthieren nur ſchwer zu trennen. Jn der Tiefe des Meeres hauſen die einen, am Ufer die anderen, andere in der Erde, einige ſteigen ſogar auf die Gipfel der Bäume in den Tropenwäldern. Daß viele ſich in die Eingeweide aller möglichen Thiere, leider auch des Menſchen verirren, erweitert ihre geographiſche Verbreitung und macht ihre Ueberſicht und ſyſtematiſche Bewältigung um vieles ſchwieriger. Wie haben ſich doch ſeit Linné die Zeiten geändert; damals lernte man, daß es ſechs Thierklaſſen gäbe: Säuger, Vögel, Amphibien, Fiſche, Jnſekten und — Würmer. Was war nicht alles in dieſen großen Topf „Würmer“ hinein- geworfen! Und wie ſicher wußte man, daß die Würmer „ein Herz mit nur einer Kammer, ohne Vorkammer beſäßen, kaltes, weißliches Blut und keine Fühlhörner, ſondern blos Fühlfäden“. Auf Regenwurm, Schnecke, Seeſtern, Polyp mußten jene Worte paſſen. Auch in dem Syſtem des großen Reformators der Thierkunde, Cuvier, ſind die Würmer eine ſehr verwundbare Stelle. Eine Abtheilung, die Gliederwürmer, deren Körper unverkennbar aus Ringeln zuſammen- geſetzt iſt, reihte er, und mit großem Rechte, an die Gliederthiere. Die anderen, Eingeweide- würmer und dergleichen verwies er zu den Strahlthieren, zu denen nur einzelne verborgene und höchſt problematiſche Beziehungen obwalten.
Gegenwärtig handelt es ſich nur darum, ob die Würmer mit den Gliederthieren zu einem großen Haufen zu vereinigen ſeien, oder ob ſie eine ſelbſtändige Abtheilung, gleichwerthig mit den Wirbelthieren, Gliederthieren zu bilden haben. Hat man zunächſt die hoch entwickelten Würmer im Auge, jene Fülle mit Borſten verſehener Würmer, von denen wir im Regenwurme und deſſen nächſten Verwandten ſozuſagen auf heimiſcher Erde einen ſchwachen Abglanz beſitzen, die ihre
<TEI><text><body><floatingText><body><pbfacs="#f0722"n="[678]"/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Der Kreis der Würmer.</hi></hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>ine neue Welt des Lebens thut ſich vor uns auf, aber nur vor den Augen derjenigen,<lb/>
welche eifrig ſuchen. Das Vorhandenſein der Säuger, Vögel, Fiſche, Jnſekten, theilweiſe auch der<lb/>
Krebſe iſt ſo aufdrängeriſch, es iſt ſo unmöglich, ihnen nicht zu begegnen, daß ihre Manch-<lb/>
faltigkeit als etwas Selbſtverſtändliches hingenommen wird. Der Name des Wurmes wird<lb/>
gebraucht, um etwas Verächtliches, Aermliches, nicht Beachtenswerthes zu bezeichnen, und Jeder-<lb/>
mann denkt dabei an den ſich hülflos im trockenen Staube krümmenden Regenwurm, wenn die<lb/>
aus dem täglichen Leben geſchöpften Erfahrungen nicht etwa noch die nicht angenehme Erinnerung<lb/>
an Blutegel, eine Trichinenepidemie und finniges Fleiſch mit ſich bringen. Das ſind unſchöne,<lb/>
zum Theil widerliche Eindrücke, die man da empfängt; ſie laden nicht gerade ein zu näherer<lb/>
Bekanntſchaft.</p><lb/><p>Und doch, wie wir eben ſagten, thut ſich mit den Würmern dem Naturfreunde eine ganze<lb/>
neue Welt auf, welche an Manchfaltigkeit des Baues, des Lebens, des Vorkommens die meiſten<lb/>
größeren Abtheilungen des Thierreiches übertrifft, dort in der Einfachheit der Struktur und nach<lb/>
ihrer mikroſkopiſchen Kleinheit an die Jnfuſorien ſich anſchließend, hier den Weichthieren ſich<lb/>
nähernd, hier wieder von den ächten Gliederthieren nur ſchwer zu trennen. Jn der Tiefe des<lb/>
Meeres hauſen die einen, am Ufer die anderen, andere in der Erde, einige ſteigen ſogar auf die<lb/>
Gipfel der Bäume in den Tropenwäldern. Daß viele ſich in die Eingeweide aller möglichen<lb/>
Thiere, leider auch des Menſchen verirren, erweitert ihre geographiſche Verbreitung und macht ihre<lb/>
Ueberſicht und ſyſtematiſche Bewältigung um vieles ſchwieriger. Wie haben ſich doch ſeit <hirendition="#g">Linné</hi><lb/>
die Zeiten geändert; damals lernte man, daß es ſechs Thierklaſſen gäbe: Säuger, Vögel, Amphibien,<lb/>
Fiſche, Jnſekten und — Würmer. Was war nicht alles in dieſen großen Topf „Würmer“ hinein-<lb/>
geworfen! Und wie ſicher wußte man, daß die Würmer „ein Herz mit nur einer Kammer, ohne<lb/>
Vorkammer beſäßen, kaltes, weißliches Blut und keine Fühlhörner, ſondern blos Fühlfäden“. Auf<lb/>
Regenwurm, Schnecke, Seeſtern, Polyp mußten jene Worte paſſen. Auch in dem Syſtem des<lb/>
großen Reformators der Thierkunde, <hirendition="#g">Cuvier,</hi>ſind die Würmer eine ſehr verwundbare Stelle.<lb/>
Eine Abtheilung, die Gliederwürmer, deren Körper unverkennbar aus Ringeln zuſammen-<lb/>
geſetzt iſt, reihte er, und mit großem Rechte, an die Gliederthiere. Die anderen, Eingeweide-<lb/>
würmer und dergleichen verwies er zu den Strahlthieren, zu denen nur einzelne verborgene und<lb/>
höchſt problematiſche Beziehungen obwalten.</p><lb/><p>Gegenwärtig handelt es ſich nur darum, ob die Würmer mit den Gliederthieren zu einem<lb/>
großen Haufen zu vereinigen ſeien, oder ob ſie eine ſelbſtändige Abtheilung, gleichwerthig mit den<lb/>
Wirbelthieren, Gliederthieren zu bilden haben. Hat man zunächſt die hoch entwickelten Würmer<lb/>
im Auge, jene Fülle mit Borſten verſehener Würmer, von denen wir im Regenwurme und deſſen<lb/>
nächſten Verwandten ſozuſagen auf heimiſcher Erde einen ſchwachen Abglanz beſitzen, die ihre<lb/></p></div></body></floatingText></body></text></TEI>
[[678]/0722]
Der Kreis der Würmer.
Eine neue Welt des Lebens thut ſich vor uns auf, aber nur vor den Augen derjenigen,
welche eifrig ſuchen. Das Vorhandenſein der Säuger, Vögel, Fiſche, Jnſekten, theilweiſe auch der
Krebſe iſt ſo aufdrängeriſch, es iſt ſo unmöglich, ihnen nicht zu begegnen, daß ihre Manch-
faltigkeit als etwas Selbſtverſtändliches hingenommen wird. Der Name des Wurmes wird
gebraucht, um etwas Verächtliches, Aermliches, nicht Beachtenswerthes zu bezeichnen, und Jeder-
mann denkt dabei an den ſich hülflos im trockenen Staube krümmenden Regenwurm, wenn die
aus dem täglichen Leben geſchöpften Erfahrungen nicht etwa noch die nicht angenehme Erinnerung
an Blutegel, eine Trichinenepidemie und finniges Fleiſch mit ſich bringen. Das ſind unſchöne,
zum Theil widerliche Eindrücke, die man da empfängt; ſie laden nicht gerade ein zu näherer
Bekanntſchaft.
Und doch, wie wir eben ſagten, thut ſich mit den Würmern dem Naturfreunde eine ganze
neue Welt auf, welche an Manchfaltigkeit des Baues, des Lebens, des Vorkommens die meiſten
größeren Abtheilungen des Thierreiches übertrifft, dort in der Einfachheit der Struktur und nach
ihrer mikroſkopiſchen Kleinheit an die Jnfuſorien ſich anſchließend, hier den Weichthieren ſich
nähernd, hier wieder von den ächten Gliederthieren nur ſchwer zu trennen. Jn der Tiefe des
Meeres hauſen die einen, am Ufer die anderen, andere in der Erde, einige ſteigen ſogar auf die
Gipfel der Bäume in den Tropenwäldern. Daß viele ſich in die Eingeweide aller möglichen
Thiere, leider auch des Menſchen verirren, erweitert ihre geographiſche Verbreitung und macht ihre
Ueberſicht und ſyſtematiſche Bewältigung um vieles ſchwieriger. Wie haben ſich doch ſeit Linné
die Zeiten geändert; damals lernte man, daß es ſechs Thierklaſſen gäbe: Säuger, Vögel, Amphibien,
Fiſche, Jnſekten und — Würmer. Was war nicht alles in dieſen großen Topf „Würmer“ hinein-
geworfen! Und wie ſicher wußte man, daß die Würmer „ein Herz mit nur einer Kammer, ohne
Vorkammer beſäßen, kaltes, weißliches Blut und keine Fühlhörner, ſondern blos Fühlfäden“. Auf
Regenwurm, Schnecke, Seeſtern, Polyp mußten jene Worte paſſen. Auch in dem Syſtem des
großen Reformators der Thierkunde, Cuvier, ſind die Würmer eine ſehr verwundbare Stelle.
Eine Abtheilung, die Gliederwürmer, deren Körper unverkennbar aus Ringeln zuſammen-
geſetzt iſt, reihte er, und mit großem Rechte, an die Gliederthiere. Die anderen, Eingeweide-
würmer und dergleichen verwies er zu den Strahlthieren, zu denen nur einzelne verborgene und
höchſt problematiſche Beziehungen obwalten.
Gegenwärtig handelt es ſich nur darum, ob die Würmer mit den Gliederthieren zu einem
großen Haufen zu vereinigen ſeien, oder ob ſie eine ſelbſtändige Abtheilung, gleichwerthig mit den
Wirbelthieren, Gliederthieren zu bilden haben. Hat man zunächſt die hoch entwickelten Würmer
im Auge, jene Fülle mit Borſten verſehener Würmer, von denen wir im Regenwurme und deſſen
nächſten Verwandten ſozuſagen auf heimiſcher Erde einen ſchwachen Abglanz beſitzen, die ihre
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. [678]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/722>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.