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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Herzmuschel.
ihren gefiederten Blättern beladen sind, den Seewall bedecken. Endlich eröffnet sich uns die
ganze Ausdehnung von Küste und See und die Wagenräder sinken plötzlich 6 Zoll tief in den
feuchten Sand ein. Wie glänzt und flimmert die weite Silbersee unter der aufsteigenden Sonne.
Kaum kräuselt ein leichter Wind ihre Spiegelfläche. Doch weiter draußen in der offenen See
lassen tiefblaue Linien und Streifen erkennen, daß ab und zu kommende Windstöße das
Wasser erregen."

"Wir sind am Goodrington-Sand. Denn hier zur Linken befindet sich der vorgestreckte steile
Abfall von rothem, horizontal geschichteten Sandstein, bekannt unter dem Namen "Roundham
Kopf"; jenseit desselben sehen wir "Hope's Nase" und die beiden sie bewachenden Jnselchen. Auf
der anderen Seite erstreckt sich der lange mit dem "Berry Kopf" endigende Landwall eben so weit
vor, und wir befinden uns am Rande der tiefen Bucht ungefähr gleich weit von beiden Land-
spitzen. Unmittelbar vor der Mündung des grünen Heckenganges, der in einiger Entfernung
vom Strande beginnt und sich bis zur See erstreckt, liegt eine niedrige schwarze Felsmasse,
besetzt mit Meereicheln (Balanus). Sie ist sehr zerrissen, und enge gewundene mit Sand bedeckte
Gänge durchschneiden sie in allen Richtungen, und überall sind in den Höhlungen seichte ruhige
Wassertümpel zurückgeblieben. Das sind kleine niedliche Seegärten, diese Tümpel. Hellgrüne
Blätter von Ulva schwimmen im Wasser; Knorpeltang-Büschel ergläuzen in stahlblauem, edel-
steinähnlichen Widerschein; lange und breite Blätter des gesättigt dunkelrothen Tanges geben einen
schönen Kontrast zum grünen Seelattig; und alle zusammen geben Tausenden von wachsamen,
unruhigen, vergnügten Lebewesen ein geräumiges Obdach. Man hat schwer Gehen; der Boden
ist sehr uneben und der Widerschein der Sonne auf dem Wasser erschwert einem zu sehen, wohin
man treten soll, während das Kommen und Gehen der kleinen Wellen auf dem Sand dazwischen
dem verwirrten Gehirn den Eindruck macht, als ob unter dem Fuße Alles in Bewegung sei."

"Was für ein Ding liegt dort auf jener Sandstrecke, worüber das seichte Wasser rieselt,
indem es den Sand darum fortspielt und es eben jetzt trocken setzt. Es sieht wie ein Stein aus;
aber ein schöner scharlachrother Anhang ist daran, der in diesem Augenblick wieder verschwunden
ist. Wir wollen den Moment abwarten, wo die Welle zurückgeht und dann hinlaufen. Es ist
ein schönes Exemplar der großen dornigen Herzmuschel (Cardium rusticum*) oder echinatum),
wegen welcher alle diese sandigen Küstenstrecken, welche die große Bucht von Torquay einfassen,
berühmt sind. Jn der That ist die Art kaum anderswo bekannt, so daß sie in den Büchern oft
als die Paigeton-Herzmuschel bezeichnet wird. Mit gehöriger Kochkunst zubereitet ist sie ein
wahrer Leckerbissen. Die Umwohner um Paigeton kennen die "Rothnasen", wie sie diese großen
Herzmuscheln nennen, sehr wohl und suchen sie zur Zeit der tiefen Ebbe, wenn man sie im
Sande liegen sieht, wie sie mit den gefransten Röhren gerade an der Oberfläche erscheinen. Sie
sammeln dieselben in Körben, und nachdem man sie einige Stunden im kalten Quellwasser
gereinigt hat, bratet man sie in einem Teige aus Brotkrume. So berichtet ein alter Kenner
der Muscheln und ihrer Thiere aus dem vorigen Jahrhundert. Nun, die Thiere haben ihre
Gewohnheiten und Standorte nicht verändert; noch heute finden sie sich auf denselben Plätzen,
wie vor hundert Jahren. Auch ihren Ruf haben sie nicht eingebüßt; im Gegentheil sind sie in
die Gunst mehr verfeinerter Gaumen aufgestiegen, indem die Landleute die wohlschmeckenden
Muscheln für die vornehme Welt von Torquay sammeln, sich selbst aber mit der geringeren und
kleineren eßbaren Herzmuschel (Cardium edule) begnügen, welche die Schlammbänke vor
den Flußmündungen dem Sandstrande vorzieht, jedoch auch hier nicht selten ist. Diese letztere,
obgleich der großen dornigen Art im Geschmack sehr nachstehend, bildet doch einen viel wichtigeren
Artikel unter den menschlichen Nahrungsmitteln, weil sie viel allgemeiner vorkommt, in ungeheurer
Menge, und leicht einzusammeln ist. Wo immer die Ebbe eine Schlammstrecke entblößt, kann

*) Jst wohl nur eine Varietät von Cardium echinatum, welches im ganzen Nordseegebiete vorkommt.

Herzmuſchel.
ihren gefiederten Blättern beladen ſind, den Seewall bedecken. Endlich eröffnet ſich uns die
ganze Ausdehnung von Küſte und See und die Wagenräder ſinken plötzlich 6 Zoll tief in den
feuchten Sand ein. Wie glänzt und flimmert die weite Silberſee unter der aufſteigenden Sonne.
Kaum kräuſelt ein leichter Wind ihre Spiegelfläche. Doch weiter draußen in der offenen See
laſſen tiefblaue Linien und Streifen erkennen, daß ab und zu kommende Windſtöße das
Waſſer erregen.“

„Wir ſind am Goodrington-Sand. Denn hier zur Linken befindet ſich der vorgeſtreckte ſteile
Abfall von rothem, horizontal geſchichteten Sandſtein, bekannt unter dem Namen „Roundham
Kopf“; jenſeit deſſelben ſehen wir „Hope’s Naſe“ und die beiden ſie bewachenden Jnſelchen. Auf
der anderen Seite erſtreckt ſich der lange mit dem „Berry Kopf“ endigende Landwall eben ſo weit
vor, und wir befinden uns am Rande der tiefen Bucht ungefähr gleich weit von beiden Land-
ſpitzen. Unmittelbar vor der Mündung des grünen Heckenganges, der in einiger Entfernung
vom Strande beginnt und ſich bis zur See erſtreckt, liegt eine niedrige ſchwarze Felsmaſſe,
beſetzt mit Meereicheln (Balanus). Sie iſt ſehr zerriſſen, und enge gewundene mit Sand bedeckte
Gänge durchſchneiden ſie in allen Richtungen, und überall ſind in den Höhlungen ſeichte ruhige
Waſſertümpel zurückgeblieben. Das ſind kleine niedliche Seegärten, dieſe Tümpel. Hellgrüne
Blätter von Ulva ſchwimmen im Waſſer; Knorpeltang-Büſchel ergläuzen in ſtahlblauem, edel-
ſteinähnlichen Widerſchein; lange und breite Blätter des geſättigt dunkelrothen Tanges geben einen
ſchönen Kontraſt zum grünen Seelattig; und alle zuſammen geben Tauſenden von wachſamen,
unruhigen, vergnügten Lebeweſen ein geräumiges Obdach. Man hat ſchwer Gehen; der Boden
iſt ſehr uneben und der Widerſchein der Sonne auf dem Waſſer erſchwert einem zu ſehen, wohin
man treten ſoll, während das Kommen und Gehen der kleinen Wellen auf dem Sand dazwiſchen
dem verwirrten Gehirn den Eindruck macht, als ob unter dem Fuße Alles in Bewegung ſei.“

„Was für ein Ding liegt dort auf jener Sandſtrecke, worüber das ſeichte Waſſer rieſelt,
indem es den Sand darum fortſpielt und es eben jetzt trocken ſetzt. Es ſieht wie ein Stein aus;
aber ein ſchöner ſcharlachrother Anhang iſt daran, der in dieſem Augenblick wieder verſchwunden
iſt. Wir wollen den Moment abwarten, wo die Welle zurückgeht und dann hinlaufen. Es iſt
ein ſchönes Exemplar der großen dornigen Herzmuſchel (Cardium rusticum*) oder echinatum),
wegen welcher alle dieſe ſandigen Küſtenſtrecken, welche die große Bucht von Torquay einfaſſen,
berühmt ſind. Jn der That iſt die Art kaum anderswo bekannt, ſo daß ſie in den Büchern oft
als die Paigeton-Herzmuſchel bezeichnet wird. Mit gehöriger Kochkunſt zubereitet iſt ſie ein
wahrer Leckerbiſſen. Die Umwohner um Paigeton kennen die „Rothnaſen“, wie ſie dieſe großen
Herzmuſcheln nennen, ſehr wohl und ſuchen ſie zur Zeit der tiefen Ebbe, wenn man ſie im
Sande liegen ſieht, wie ſie mit den gefranſten Röhren gerade an der Oberfläche erſcheinen. Sie
ſammeln dieſelben in Körben, und nachdem man ſie einige Stunden im kalten Quellwaſſer
gereinigt hat, bratet man ſie in einem Teige aus Brotkrume. So berichtet ein alter Kenner
der Muſcheln und ihrer Thiere aus dem vorigen Jahrhundert. Nun, die Thiere haben ihre
Gewohnheiten und Standorte nicht verändert; noch heute finden ſie ſich auf denſelben Plätzen,
wie vor hundert Jahren. Auch ihren Ruf haben ſie nicht eingebüßt; im Gegentheil ſind ſie in
die Gunſt mehr verfeinerter Gaumen aufgeſtiegen, indem die Landleute die wohlſchmeckenden
Muſcheln für die vornehme Welt von Torquay ſammeln, ſich ſelbſt aber mit der geringeren und
kleineren eßbaren Herzmuſchel (Cardium edule) begnügen, welche die Schlammbänke vor
den Flußmündungen dem Sandſtrande vorzieht, jedoch auch hier nicht ſelten iſt. Dieſe letztere,
obgleich der großen dornigen Art im Geſchmack ſehr nachſtehend, bildet doch einen viel wichtigeren
Artikel unter den menſchlichen Nahrungsmitteln, weil ſie viel allgemeiner vorkommt, in ungeheurer
Menge, und leicht einzuſammeln iſt. Wo immer die Ebbe eine Schlammſtrecke entblößt, kann

*) Jſt wohl nur eine Varietät von Cardium echinatum, welches im ganzen Nordſeegebiete vorkommt.
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[933/0981] Herzmuſchel. ihren gefiederten Blättern beladen ſind, den Seewall bedecken. Endlich eröffnet ſich uns die ganze Ausdehnung von Küſte und See und die Wagenräder ſinken plötzlich 6 Zoll tief in den feuchten Sand ein. Wie glänzt und flimmert die weite Silberſee unter der aufſteigenden Sonne. Kaum kräuſelt ein leichter Wind ihre Spiegelfläche. Doch weiter draußen in der offenen See laſſen tiefblaue Linien und Streifen erkennen, daß ab und zu kommende Windſtöße das Waſſer erregen.“ „Wir ſind am Goodrington-Sand. Denn hier zur Linken befindet ſich der vorgeſtreckte ſteile Abfall von rothem, horizontal geſchichteten Sandſtein, bekannt unter dem Namen „Roundham Kopf“; jenſeit deſſelben ſehen wir „Hope’s Naſe“ und die beiden ſie bewachenden Jnſelchen. Auf der anderen Seite erſtreckt ſich der lange mit dem „Berry Kopf“ endigende Landwall eben ſo weit vor, und wir befinden uns am Rande der tiefen Bucht ungefähr gleich weit von beiden Land- ſpitzen. Unmittelbar vor der Mündung des grünen Heckenganges, der in einiger Entfernung vom Strande beginnt und ſich bis zur See erſtreckt, liegt eine niedrige ſchwarze Felsmaſſe, beſetzt mit Meereicheln (Balanus). Sie iſt ſehr zerriſſen, und enge gewundene mit Sand bedeckte Gänge durchſchneiden ſie in allen Richtungen, und überall ſind in den Höhlungen ſeichte ruhige Waſſertümpel zurückgeblieben. Das ſind kleine niedliche Seegärten, dieſe Tümpel. Hellgrüne Blätter von Ulva ſchwimmen im Waſſer; Knorpeltang-Büſchel ergläuzen in ſtahlblauem, edel- ſteinähnlichen Widerſchein; lange und breite Blätter des geſättigt dunkelrothen Tanges geben einen ſchönen Kontraſt zum grünen Seelattig; und alle zuſammen geben Tauſenden von wachſamen, unruhigen, vergnügten Lebeweſen ein geräumiges Obdach. Man hat ſchwer Gehen; der Boden iſt ſehr uneben und der Widerſchein der Sonne auf dem Waſſer erſchwert einem zu ſehen, wohin man treten ſoll, während das Kommen und Gehen der kleinen Wellen auf dem Sand dazwiſchen dem verwirrten Gehirn den Eindruck macht, als ob unter dem Fuße Alles in Bewegung ſei.“ „Was für ein Ding liegt dort auf jener Sandſtrecke, worüber das ſeichte Waſſer rieſelt, indem es den Sand darum fortſpielt und es eben jetzt trocken ſetzt. Es ſieht wie ein Stein aus; aber ein ſchöner ſcharlachrother Anhang iſt daran, der in dieſem Augenblick wieder verſchwunden iſt. Wir wollen den Moment abwarten, wo die Welle zurückgeht und dann hinlaufen. Es iſt ein ſchönes Exemplar der großen dornigen Herzmuſchel (Cardium rusticum *) oder echinatum), wegen welcher alle dieſe ſandigen Küſtenſtrecken, welche die große Bucht von Torquay einfaſſen, berühmt ſind. Jn der That iſt die Art kaum anderswo bekannt, ſo daß ſie in den Büchern oft als die Paigeton-Herzmuſchel bezeichnet wird. Mit gehöriger Kochkunſt zubereitet iſt ſie ein wahrer Leckerbiſſen. Die Umwohner um Paigeton kennen die „Rothnaſen“, wie ſie dieſe großen Herzmuſcheln nennen, ſehr wohl und ſuchen ſie zur Zeit der tiefen Ebbe, wenn man ſie im Sande liegen ſieht, wie ſie mit den gefranſten Röhren gerade an der Oberfläche erſcheinen. Sie ſammeln dieſelben in Körben, und nachdem man ſie einige Stunden im kalten Quellwaſſer gereinigt hat, bratet man ſie in einem Teige aus Brotkrume. So berichtet ein alter Kenner der Muſcheln und ihrer Thiere aus dem vorigen Jahrhundert. Nun, die Thiere haben ihre Gewohnheiten und Standorte nicht verändert; noch heute finden ſie ſich auf denſelben Plätzen, wie vor hundert Jahren. Auch ihren Ruf haben ſie nicht eingebüßt; im Gegentheil ſind ſie in die Gunſt mehr verfeinerter Gaumen aufgeſtiegen, indem die Landleute die wohlſchmeckenden Muſcheln für die vornehme Welt von Torquay ſammeln, ſich ſelbſt aber mit der geringeren und kleineren eßbaren Herzmuſchel (Cardium edule) begnügen, welche die Schlammbänke vor den Flußmündungen dem Sandſtrande vorzieht, jedoch auch hier nicht ſelten iſt. Dieſe letztere, obgleich der großen dornigen Art im Geſchmack ſehr nachſtehend, bildet doch einen viel wichtigeren Artikel unter den menſchlichen Nahrungsmitteln, weil ſie viel allgemeiner vorkommt, in ungeheurer Menge, und leicht einzuſammeln iſt. Wo immer die Ebbe eine Schlammſtrecke entblößt, kann *) Jſt wohl nur eine Varietät von Cardium echinatum, welches im ganzen Nordſeegebiete vorkommt.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 933. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/981>, abgerufen am 23.11.2024.