Nie ist ein Mensch nach seinem Tode so geliebt worden wie Jesus Christus. - Wir haben ein Sprichwort, das sagt: "Aus den Augen, aus dem Sinn." Zur Ehre der Menschheit darf man wohl behaupten, daß dieses Wort sich nicht immer im strengen buchstäblichen Sinne erfüllt, aber nichts desto weniger wird es nur zu oft im Leben bestätigt; besonders aber ist es allgemeine Erfahrung, daß der Tod, das Grab, dem Menschen die Liebe raubt. Wie Viele, die früher allgemein beliebt und von Freunden förmlich um- schwärmt waren, sind wenige Jahre nach dem Tode fast ganz vergessen, selbst im engsten Kreise der Freunde. Selten wird ihr Name genannt; man hat neue Freunde, und darum gedenkt man nur selten der hingeschiedenen. Werden nicht manchmal selbst Diejenigen, mit welchen man durch die innigsten Bande vereinigt war, bald nach dem Tode vergessen? Geschieht das nicht selbst bei Vater und Mutter, die doch alle Liebe an die Kinder verschwendet? Die Thränen, welche man an ihrem frischen Grabe in bitterstem Schmerze weint, fließen bald nicht mehr. Die Kinder werden von den Mühen und Sorgen des Lebens in Anspruch genommen, oder die Welt mit ihren Annehmlichkeiten und Zerstreuungen übt ihren Einfluß auf sie aus, und so wird der Schmerz der trauernden Liebe nach und nach ruhiger, und wenn man auch den theueren Eltern ein gutes Andenken be- wahrt, so hat doch das Grab ihnen die Frische und
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Nie ist ein Mensch nach seinem Tode so geliebt worden wie Jesus Christus. – Wir haben ein Sprichwort, das sagt: „Aus den Augen, aus dem Sinn.“ Zur Ehre der Menschheit darf man wohl behaupten, daß dieses Wort sich nicht immer im strengen buchstäblichen Sinne erfüllt, aber nichts desto weniger wird es nur zu oft im Leben bestätigt; besonders aber ist es allgemeine Erfahrung, daß der Tod, das Grab, dem Menschen die Liebe raubt. Wie Viele, die früher allgemein beliebt und von Freunden förmlich um- schwärmt waren, sind wenige Jahre nach dem Tode fast ganz vergessen, selbst im engsten Kreise der Freunde. Selten wird ihr Name genannt; man hat neue Freunde, und darum gedenkt man nur selten der hingeschiedenen. Werden nicht manchmal selbst Diejenigen, mit welchen man durch die innigsten Bande vereinigt war, bald nach dem Tode vergessen? Geschieht das nicht selbst bei Vater und Mutter, die doch alle Liebe an die Kinder verschwendet? Die Thränen, welche man an ihrem frischen Grabe in bitterstem Schmerze weint, fließen bald nicht mehr. Die Kinder werden von den Mühen und Sorgen des Lebens in Anspruch genommen, oder die Welt mit ihren Annehmlichkeiten und Zerstreuungen übt ihren Einfluß auf sie aus, und so wird der Schmerz der trauernden Liebe nach und nach ruhiger, und wenn man auch den theueren Eltern ein gutes Andenken be- wahrt, so hat doch das Grab ihnen die Frische und
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1.
Nie ist ein Mensch nach seinem Tode so
geliebt worden wie Jesus Christus. – Wir
haben ein Sprichwort, das sagt: „Aus den Augen, aus
dem Sinn.“ Zur Ehre der Menschheit darf man wohl
behaupten, daß dieses Wort sich nicht immer im strengen
buchstäblichen Sinne erfüllt, aber nichts desto weniger
wird es nur zu oft im Leben bestätigt; besonders aber
ist es allgemeine Erfahrung, daß der Tod, das Grab,
dem Menschen die Liebe raubt. Wie Viele, die früher
allgemein beliebt und von Freunden förmlich um-
schwärmt waren, sind wenige Jahre nach dem Tode fast
ganz vergessen, selbst im engsten Kreise der Freunde.
Selten wird ihr Name genannt; man hat neue Freunde,
und darum gedenkt man nur selten der hingeschiedenen.
Werden nicht manchmal selbst Diejenigen, mit welchen
man durch die innigsten Bande vereinigt war, bald
nach dem Tode vergessen? Geschieht das nicht selbst
bei Vater und Mutter, die doch alle Liebe an die
Kinder verschwendet? Die Thränen, welche man an ihrem
frischen Grabe in bitterstem Schmerze weint, fließen bald
nicht mehr. Die Kinder werden von den Mühen und
Sorgen des Lebens in Anspruch genommen, oder die
Welt mit ihren Annehmlichkeiten und Zerstreuungen übt
ihren Einfluß auf sie aus, und so wird der Schmerz
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man auch den theueren Eltern ein gutes Andenken be-
wahrt, so hat doch das Grab ihnen die Frische und
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Bremscheid, Matthias von. Der christliche Mann in seinem Glauben und Leben. Mainz, 1901, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bremscheid_mann_1901/84>, abgerufen am 27.11.2024.
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