Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016."O mein Kind! wir hatten Nichts genährt als die Phantasie, und sie hatte uns theils wieder aufgefressen!" -- Dieses Bekenntniß, das Brentano selbst einer Freundin ablegte, dürfte jedes weitere Wort über seine Geistesart ersparen, und man braucht nur etwa noch hinzuzunehmen, was sein Zeitgenosse Steffens von ihm sagt, er sei unter den Romantikern der Einzige gewesen, der mit Bestimmtheit zu wissen schien, daß er Nichts wollte, ein ironisch spielender Kronos, der, in rein phantastischer Dialektik durch jede folgende Bestimmung die vorhergehende vernichtend, seine eigenen Kinder verschlang. Gleichwohl, während er in muthwilliger, grundsätzlicher Willkür den ernsteren Arnim übertraf, spielte ihm seine süddeutsche Natur mitunter den Streich, seine Gestaltungen etwas voller hervortreten zu lassen. Von den drei Erzählungen, die er hinterlassen hat, können nur zwei in Betracht kommen. "Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter" werden theilweise sehr gerühmt. Die Erzählung beginnt auch mit einem höchst schnakischen Einfall, indem berichtet wird, wie der Maler Wehmüller jeden Sommer mit seinem Vorrath von einem halben Hundert Nationalgesichter, die er im Winter voraus gemalt hat, Ungarn bezieht, wo sodann ein hochedles Publicum sich sein Porträt, Stück für Stück zu einem Ducaten, selbst auswählen kann; persönliche Züge und Ehrennarben oder die Individualität des Schnurrbarts werden unentgeltlich hineingemalt, für die leergelassene Uniform aber muß nach Maßgabe ihres Reichthums nachbezahlt werden. Auch verspricht sich der Scherz gedeihlich fortzuspinnen, denn alsbald erfährt man, daß ein zweiter, ein falscher Wehmüller aufgetreten sei, von wel- „O mein Kind! wir hatten Nichts genährt als die Phantasie, und sie hatte uns theils wieder aufgefressen!“ — Dieses Bekenntniß, das Brentano selbst einer Freundin ablegte, dürfte jedes weitere Wort über seine Geistesart ersparen, und man braucht nur etwa noch hinzuzunehmen, was sein Zeitgenosse Steffens von ihm sagt, er sei unter den Romantikern der Einzige gewesen, der mit Bestimmtheit zu wissen schien, daß er Nichts wollte, ein ironisch spielender Kronos, der, in rein phantastischer Dialektik durch jede folgende Bestimmung die vorhergehende vernichtend, seine eigenen Kinder verschlang. Gleichwohl, während er in muthwilliger, grundsätzlicher Willkür den ernsteren Arnim übertraf, spielte ihm seine süddeutsche Natur mitunter den Streich, seine Gestaltungen etwas voller hervortreten zu lassen. Von den drei Erzählungen, die er hinterlassen hat, können nur zwei in Betracht kommen. „Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“ werden theilweise sehr gerühmt. Die Erzählung beginnt auch mit einem höchst schnakischen Einfall, indem berichtet wird, wie der Maler Wehmüller jeden Sommer mit seinem Vorrath von einem halben Hundert Nationalgesichter, die er im Winter voraus gemalt hat, Ungarn bezieht, wo sodann ein hochedles Publicum sich sein Porträt, Stück für Stück zu einem Ducaten, selbst auswählen kann; persönliche Züge und Ehrennarben oder die Individualität des Schnurrbarts werden unentgeltlich hineingemalt, für die leergelassene Uniform aber muß nach Maßgabe ihres Reichthums nachbezahlt werden. Auch verspricht sich der Scherz gedeihlich fortzuspinnen, denn alsbald erfährt man, daß ein zweiter, ein falscher Wehmüller aufgetreten sei, von wel- <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <pb facs="#f0007"/> <p>„O mein Kind! wir hatten Nichts genährt als die Phantasie, und sie hatte uns theils wieder aufgefressen!“ — Dieses Bekenntniß, das Brentano selbst einer Freundin ablegte, dürfte jedes weitere Wort über seine Geistesart ersparen, und man braucht nur etwa noch hinzuzunehmen, was sein Zeitgenosse Steffens von ihm sagt, er sei unter den Romantikern der Einzige gewesen, der mit Bestimmtheit zu wissen schien, daß er Nichts wollte, ein ironisch spielender Kronos, der, in rein phantastischer Dialektik durch jede folgende Bestimmung die vorhergehende vernichtend, seine eigenen Kinder verschlang. 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„O mein Kind! wir hatten Nichts genährt als die Phantasie, und sie hatte uns theils wieder aufgefressen!“ — Dieses Bekenntniß, das Brentano selbst einer Freundin ablegte, dürfte jedes weitere Wort über seine Geistesart ersparen, und man braucht nur etwa noch hinzuzunehmen, was sein Zeitgenosse Steffens von ihm sagt, er sei unter den Romantikern der Einzige gewesen, der mit Bestimmtheit zu wissen schien, daß er Nichts wollte, ein ironisch spielender Kronos, der, in rein phantastischer Dialektik durch jede folgende Bestimmung die vorhergehende vernichtend, seine eigenen Kinder verschlang. Gleichwohl, während er in muthwilliger, grundsätzlicher Willkür den ernsteren Arnim übertraf, spielte ihm seine süddeutsche Natur mitunter den Streich, seine Gestaltungen etwas voller hervortreten zu lassen.
Von den drei Erzählungen, die er hinterlassen hat, können nur zwei in Betracht kommen.
„Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“ werden theilweise sehr gerühmt. Die Erzählung beginnt auch mit einem höchst schnakischen Einfall, indem berichtet wird, wie der Maler Wehmüller jeden Sommer mit seinem Vorrath von einem halben Hundert Nationalgesichter, die er im Winter voraus gemalt hat, Ungarn bezieht, wo sodann ein hochedles Publicum sich sein Porträt, Stück für Stück zu einem Ducaten, selbst auswählen kann; persönliche Züge und Ehrennarben oder die Individualität des Schnurrbarts werden unentgeltlich hineingemalt, für die leergelassene Uniform aber muß nach Maßgabe ihres Reichthums nachbezahlt werden. Auch verspricht sich der Scherz gedeihlich fortzuspinnen, denn alsbald erfährt man, daß ein zweiter, ein falscher Wehmüller aufgetreten sei, von wel-
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Zitationshilfe: | Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/7>, abgerufen am 16.07.2024. |