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Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838.

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Gräfin kommen, so eben habe ihr der Klapperstorch ein al¬
lerliebstes Töchterchen gebracht. Da lief der Graf geschwind
hinauf in das Zimmer der Gräfin und sang den ganzen
Weg:

"Mir ist geboren ein Töchterlein,
Sein Reich lehnt auf den Schultern sein,"
und als er hinauf kam, saß die Gräfin aufrecht auf ihrem
Lager und hatte das liebe, arme Kind von Hennegau am
Herzen, und der Graf war ganz außer sich vor Freude und
lehnte sein Haupt auf die Schulter der Mutter und sah dem
Töchterlein in die lieben Augen und vergoß Freudenthränen,
dann nahm er seine Achselbänder, worauf zwei Edelsteine, die
Reichskleinode von Vadutz, befestiget waren und sagte feierlich:
"weil uns das liebe Töchterchen gerade bescheert worden ist,
da man das Verschen sang, so will ich ihm auch sein Reich auf
seine Schultern lehnen und zwar jetzt dir, als seiner treuen
Vormünderin." Da heftete er seiner Gemahlin die Achselbän¬
der mit den Edelsteinen, worauf das Wappen von Vadutz
eingeschnitten war, auf die Schultern und sagte: "Ich be¬
lehne deine Erstgeborne durch dich und alle erstgebornen Töch¬
ter ihrer Nachkommen mit dem Ländchen Vadutz, es sey ein
Frauenlehn, ein Kunkellehn in unsren Nachkommen, und sol¬
len den erstgebornen Töchtern der Grafen von Hennegau, so¬
bald sie die erste Kunkel des zartesten Flachses für die Ar¬
men, ohne den Faden zu zerreißen, abgesponnen haben, diese
Edelsteine auf die Schultern geheftet und sie so mit dem Länd¬
chen Vadutz belehnt werden." -- Du nun, liebe Gackeleia,
trägst jetzt diese Kleinodien auf deinen Achselbändern. Der
alte Graf von Hennegau sprach nichts von dem Ursprung
und den Gnaden dieser Kleinode, die bei seinen Vorfahren
schon in Vergessenheit gekommen waren, welche aber der
Ahnfrau später von drei Klosterfrauen erfuhr, denen sie zum
Lohn ein Kloster Lilienthal stiftete, es sind dieselben, welche
dort neben den Lilien bei ihr stehen. -- Wegen diesen Klei¬

Graͤfin kommen, ſo eben habe ihr der Klapperſtorch ein al¬
lerliebſtes Toͤchterchen gebracht. Da lief der Graf geſchwind
hinauf in das Zimmer der Graͤfin und ſang den ganzen
Weg:

„Mir iſt geboren ein Toͤchterlein,
Sein Reich lehnt auf den Schultern ſein,“
und als er hinauf kam, ſaß die Graͤfin aufrecht auf ihrem
Lager und hatte das liebe, arme Kind von Hennegau am
Herzen, und der Graf war ganz außer ſich vor Freude und
lehnte ſein Haupt auf die Schulter der Mutter und ſah dem
Toͤchterlein in die lieben Augen und vergoß Freudenthraͤnen,
dann nahm er ſeine Achſelbaͤnder, worauf zwei Edelſteine, die
Reichskleinode von Vadutz, befeſtiget waren und ſagte feierlich:
„weil uns das liebe Toͤchterchen gerade beſcheert worden iſt,
da man das Verschen ſang, ſo will ich ihm auch ſein Reich auf
ſeine Schultern lehnen und zwar jetzt dir, als ſeiner treuen
Vormuͤnderin.“ Da heftete er ſeiner Gemahlin die Achſelbaͤn¬
der mit den Edelſteinen, worauf das Wappen von Vadutz
eingeſchnitten war, auf die Schultern und ſagte: „Ich be¬
lehne deine Erſtgeborne durch dich und alle erſtgebornen Toͤch¬
ter ihrer Nachkommen mit dem Laͤndchen Vadutz, es ſey ein
Frauenlehn, ein Kunkellehn in unſren Nachkommen, und ſol¬
len den erſtgebornen Toͤchtern der Grafen von Hennegau, ſo¬
bald ſie die erſte Kunkel des zarteſten Flachſes fuͤr die Ar¬
men, ohne den Faden zu zerreißen, abgeſponnen haben, dieſe
Edelſteine auf die Schultern geheftet und ſie ſo mit dem Laͤnd¬
chen Vadutz belehnt werden.“ — Du nun, liebe Gackeleia,
traͤgſt jetzt dieſe Kleinodien auf deinen Achſelbaͤndern. Der
alte Graf von Hennegau ſprach nichts von dem Urſprung
und den Gnaden dieſer Kleinode, die bei ſeinen Vorfahren
ſchon in Vergeſſenheit gekommen waren, welche aber der
Ahnfrau ſpaͤter von drei Kloſterfrauen erfuhr, denen ſie zum
Lohn ein Kloſter Lilienthal ſtiftete, es ſind dieſelben, welche
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[204/0256] Graͤfin kommen, ſo eben habe ihr der Klapperſtorch ein al¬ lerliebſtes Toͤchterchen gebracht. Da lief der Graf geſchwind hinauf in das Zimmer der Graͤfin und ſang den ganzen Weg: „Mir iſt geboren ein Toͤchterlein, Sein Reich lehnt auf den Schultern ſein,“ und als er hinauf kam, ſaß die Graͤfin aufrecht auf ihrem Lager und hatte das liebe, arme Kind von Hennegau am Herzen, und der Graf war ganz außer ſich vor Freude und lehnte ſein Haupt auf die Schulter der Mutter und ſah dem Toͤchterlein in die lieben Augen und vergoß Freudenthraͤnen, dann nahm er ſeine Achſelbaͤnder, worauf zwei Edelſteine, die Reichskleinode von Vadutz, befeſtiget waren und ſagte feierlich: „weil uns das liebe Toͤchterchen gerade beſcheert worden iſt, da man das Verschen ſang, ſo will ich ihm auch ſein Reich auf ſeine Schultern lehnen und zwar jetzt dir, als ſeiner treuen Vormuͤnderin.“ Da heftete er ſeiner Gemahlin die Achſelbaͤn¬ der mit den Edelſteinen, worauf das Wappen von Vadutz eingeſchnitten war, auf die Schultern und ſagte: „Ich be¬ lehne deine Erſtgeborne durch dich und alle erſtgebornen Toͤch¬ ter ihrer Nachkommen mit dem Laͤndchen Vadutz, es ſey ein Frauenlehn, ein Kunkellehn in unſren Nachkommen, und ſol¬ len den erſtgebornen Toͤchtern der Grafen von Hennegau, ſo¬ bald ſie die erſte Kunkel des zarteſten Flachſes fuͤr die Ar¬ men, ohne den Faden zu zerreißen, abgeſponnen haben, dieſe Edelſteine auf die Schultern geheftet und ſie ſo mit dem Laͤnd¬ chen Vadutz belehnt werden.“ — Du nun, liebe Gackeleia, traͤgſt jetzt dieſe Kleinodien auf deinen Achſelbaͤndern. Der alte Graf von Hennegau ſprach nichts von dem Urſprung und den Gnaden dieſer Kleinode, die bei ſeinen Vorfahren ſchon in Vergeſſenheit gekommen waren, welche aber der Ahnfrau ſpaͤter von drei Kloſterfrauen erfuhr, denen ſie zum Lohn ein Kloſter Lilienthal ſtiftete, es ſind dieſelben, welche dort neben den Lilien bei ihr ſtehen. — Wegen dieſen Klei¬

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Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/256>, abgerufen am 23.11.2024.