Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite
Träumt die stumme Nachtigall, sie singe,
Daß das Herz des Wiederhalls zerspringe,
Träumt das blinde Huhn, es zähl' die Kerne,
Und der drei je zählte kaum, die Sterne,
Träumt das starre Erz, gar linde thau es,
Und das Eisenherz, ein Kind vertrau es,
Träumt die taube Nüchternheit, sie lausche,
Wie der Traube Schüchternheit berausche;
Kömmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen,
Führt der hellen Töne Glanzgefunkel
Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel,
Rennt den Traum sie schmerzlich übern Haufen,
Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schallmeien
Der erwachten Nacht ins Herz all schreien;
Weh, ohn Opfer gehn die süßen Wunder,
Geh'n die armen Herzen einsam unter!"

Ich nickte bejahend, wie man einem Kinde nickt, dem
man zu zuhören scheint, aber ich hörte auf die Schallmeien.
Ich bot ihr schöne Früchte, sie aß nicht. Ich fragte: "war¬
um ißt du nicht? sie sind süß." -- Da erwiederte sie mit
tiefem Schmerz: "Ohne Opfer gehn die süßen Wunder, gehn
die armen Herzen einsam unter." -- Ich wollte ihrer Empfin¬
dung ausweichen, blickte hin und wieder, aber plötzlich fühlte
ich mein Herz. Ich blickte die arme Kranke liebevoll an,
reichte ihr die Hand über die Früchte und sprach: "Iß mir
zum Opfer, armes Herz!" und sie aß. Als ich auch ge¬
nug gegessen, eilte ich wieder an den Zaun zu den Fackeln
und Schallmeien und dachte keines Hungernden, selbst meiner
kaum. -- Da rasselte es am Zaun neben mir. Klareta war
mir nachgeschlichen, und riß sich die Hände blutig in den
Dornen, um mir Rosen zu reichen. Ich sprach: "was soll
ich mit den Rosen?" -- Klareta erwiederte: "Meine Hände
bluten, mein Herz blutet; ohne Opfer gehn die süßen Wun¬
der, gehn die armen Herzen alle unter." -- Ich kehrte mit
ihr zu der Bleichhütte, saß am Feuer nieder und ließ mir

Traͤumt die ſtumme Nachtigall, ſie ſinge,
Daß das Herz des Wiederhalls zerſpringe,
Traͤumt das blinde Huhn, es zaͤhl' die Kerne,
Und der drei je zaͤhlte kaum, die Sterne,
Traͤumt das ſtarre Erz, gar linde thau es,
Und das Eiſenherz, ein Kind vertrau es,
Traͤumt die taube Nuͤchternheit, ſie lauſche,
Wie der Traube Schuͤchternheit berauſche;
Koͤmmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen,
Fuͤhrt der hellen Toͤne Glanzgefunkel
Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel,
Rennt den Traum ſie ſchmerzlich uͤbern Haufen,
Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schallmeien
Der erwachten Nacht ins Herz all ſchreien;
Weh, ohn Opfer gehn die ſuͤßen Wunder,
Geh'n die armen Herzen einſam unter!“

Ich nickte bejahend, wie man einem Kinde nickt, dem
man zu zuhoͤren ſcheint, aber ich hoͤrte auf die Schallmeien.
Ich bot ihr ſchoͤne Fruͤchte, ſie aß nicht. Ich fragte: „war¬
um ißt du nicht? ſie ſind ſuͤß.“ — Da erwiederte ſie mit
tiefem Schmerz: „Ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wunder, gehn
die armen Herzen einſam unter.“ — Ich wollte ihrer Empfin¬
dung ausweichen, blickte hin und wieder, aber ploͤtzlich fuͤhlte
ich mein Herz. Ich blickte die arme Kranke liebevoll an,
reichte ihr die Hand uͤber die Fruͤchte und ſprach: „Iß mir
zum Opfer, armes Herz!“ und ſie aß. Als ich auch ge¬
nug gegeſſen, eilte ich wieder an den Zaun zu den Fackeln
und Schallmeien und dachte keines Hungernden, ſelbſt meiner
kaum. — Da raſſelte es am Zaun neben mir. Klareta war
mir nachgeſchlichen, und riß ſich die Haͤnde blutig in den
Dornen, um mir Roſen zu reichen. Ich ſprach: „was ſoll
ich mit den Roſen?“ — Klareta erwiederte: „Meine Haͤnde
bluten, mein Herz blutet; ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wun¬
der, gehn die armen Herzen alle unter.“ — Ich kehrte mit
ihr zu der Bleichhuͤtte, ſaß am Feuer nieder und ließ mir

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0326" n="272"/>
            <l>Tra&#x0364;umt die &#x017F;tumme Nachtigall, &#x017F;ie &#x017F;inge,</l><lb/>
            <l>Daß das Herz des Wiederhalls zer&#x017F;pringe,</l><lb/>
            <l>Tra&#x0364;umt das blinde Huhn, es za&#x0364;hl' die Kerne,</l><lb/>
            <l>Und der drei je za&#x0364;hlte kaum, die Sterne,</l><lb/>
            <l>Tra&#x0364;umt das &#x017F;tarre Erz, gar linde thau es,</l><lb/>
            <l>Und das Ei&#x017F;enherz, ein Kind vertrau es,</l><lb/>
            <l>Tra&#x0364;umt die taube Nu&#x0364;chternheit, &#x017F;ie lau&#x017F;che,</l><lb/>
            <l>Wie der Traube Schu&#x0364;chternheit berau&#x017F;che;</l><lb/>
            <l>Ko&#x0364;mmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen,</l><lb/>
            <l>Fu&#x0364;hrt der hellen To&#x0364;ne Glanzgefunkel</l><lb/>
            <l>Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel,</l><lb/>
            <l>Rennt den Traum &#x017F;ie &#x017F;chmerzlich u&#x0364;bern Haufen,</l><lb/>
            <l>Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schallmeien</l><lb/>
            <l>Der erwachten Nacht ins Herz all &#x017F;chreien;</l><lb/>
            <l>Weh, ohn Opfer gehn die &#x017F;u&#x0364;ßen Wunder,</l><lb/>
            <l>Geh'n die armen Herzen ein&#x017F;am unter!&#x201C;</l><lb/>
          </lg>
          <p>Ich nickte bejahend, wie man einem Kinde nickt, dem<lb/>
man zu zuho&#x0364;ren &#x017F;cheint, aber ich ho&#x0364;rte auf die Schallmeien.<lb/>
Ich bot ihr &#x017F;cho&#x0364;ne Fru&#x0364;chte, &#x017F;ie aß nicht. Ich fragte: &#x201E;war¬<lb/>
um ißt du nicht? &#x017F;ie &#x017F;ind &#x017F;u&#x0364;ß.&#x201C; &#x2014; Da erwiederte &#x017F;ie mit<lb/>
tiefem Schmerz: &#x201E;Ohne Opfer gehn die &#x017F;u&#x0364;ßen Wunder, gehn<lb/>
die armen Herzen ein&#x017F;am unter.&#x201C; &#x2014; Ich wollte ihrer Empfin¬<lb/>
dung ausweichen, blickte hin und wieder, aber plo&#x0364;tzlich fu&#x0364;hlte<lb/>
ich mein Herz. Ich blickte die arme Kranke liebevoll an,<lb/>
reichte ihr die Hand u&#x0364;ber die Fru&#x0364;chte und &#x017F;prach: &#x201E;Iß mir<lb/>
zum Opfer, armes Herz!&#x201C; und &#x017F;ie aß. Als ich auch ge¬<lb/>
nug gege&#x017F;&#x017F;en, eilte ich wieder an den Zaun zu den Fackeln<lb/>
und Schallmeien und dachte keines Hungernden, &#x017F;elb&#x017F;t meiner<lb/>
kaum. &#x2014; Da ra&#x017F;&#x017F;elte es am Zaun neben mir. Klareta war<lb/>
mir nachge&#x017F;chlichen, und riß &#x017F;ich die Ha&#x0364;nde blutig in den<lb/>
Dornen, um mir Ro&#x017F;en zu reichen. Ich &#x017F;prach: &#x201E;was &#x017F;oll<lb/>
ich mit den Ro&#x017F;en?&#x201C; &#x2014; Klareta erwiederte: &#x201E;Meine Ha&#x0364;nde<lb/>
bluten, mein Herz blutet; ohne Opfer gehn die &#x017F;u&#x0364;ßen Wun¬<lb/>
der, gehn die armen Herzen alle unter.&#x201C; &#x2014; Ich kehrte mit<lb/>
ihr zu der Bleichhu&#x0364;tte, &#x017F;aß am Feuer nieder und ließ mir<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272/0326] Traͤumt die ſtumme Nachtigall, ſie ſinge, Daß das Herz des Wiederhalls zerſpringe, Traͤumt das blinde Huhn, es zaͤhl' die Kerne, Und der drei je zaͤhlte kaum, die Sterne, Traͤumt das ſtarre Erz, gar linde thau es, Und das Eiſenherz, ein Kind vertrau es, Traͤumt die taube Nuͤchternheit, ſie lauſche, Wie der Traube Schuͤchternheit berauſche; Koͤmmt dann Wahrheit mutternackt gelaufen, Fuͤhrt der hellen Toͤne Glanzgefunkel Und der grellen Lichter Tanz durchs Dunkel, Rennt den Traum ſie ſchmerzlich uͤbern Haufen, Horch! die Fackel lacht, horch! Schmerz-Schallmeien Der erwachten Nacht ins Herz all ſchreien; Weh, ohn Opfer gehn die ſuͤßen Wunder, Geh'n die armen Herzen einſam unter!“ Ich nickte bejahend, wie man einem Kinde nickt, dem man zu zuhoͤren ſcheint, aber ich hoͤrte auf die Schallmeien. Ich bot ihr ſchoͤne Fruͤchte, ſie aß nicht. Ich fragte: „war¬ um ißt du nicht? ſie ſind ſuͤß.“ — Da erwiederte ſie mit tiefem Schmerz: „Ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wunder, gehn die armen Herzen einſam unter.“ — Ich wollte ihrer Empfin¬ dung ausweichen, blickte hin und wieder, aber ploͤtzlich fuͤhlte ich mein Herz. Ich blickte die arme Kranke liebevoll an, reichte ihr die Hand uͤber die Fruͤchte und ſprach: „Iß mir zum Opfer, armes Herz!“ und ſie aß. Als ich auch ge¬ nug gegeſſen, eilte ich wieder an den Zaun zu den Fackeln und Schallmeien und dachte keines Hungernden, ſelbſt meiner kaum. — Da raſſelte es am Zaun neben mir. Klareta war mir nachgeſchlichen, und riß ſich die Haͤnde blutig in den Dornen, um mir Roſen zu reichen. Ich ſprach: „was ſoll ich mit den Roſen?“ — Klareta erwiederte: „Meine Haͤnde bluten, mein Herz blutet; ohne Opfer gehn die ſuͤßen Wun¬ der, gehn die armen Herzen alle unter.“ — Ich kehrte mit ihr zu der Bleichhuͤtte, ſaß am Feuer nieder und ließ mir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/326
Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/326>, abgerufen am 21.11.2024.