Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736.

Bild:
<< vorherige Seite
Vernünftiger Gebrauch des Gegen-
wärtigen.
Geliebte Menschen, lernet, lernt,
Des Gegenwärtigen geniessen!
Weil alle Dinge von uns fliessen,
Wie sich ein Strom von uns entfernt.
Durch Ueberlegen kann allein
Von uns genossen und empfunden,
Gehemmt und angehalten seyn
Der reg- und flüßigen Secunden
Entstehend' und vergehnde Schaar.
Lebt achtzig, ja, lebt hundert Jahr,
Von Glück und Kranckheit ungekräncket,
Ohn Elend, Kummer und Gefahr:
Sie sind verflossen und verschwunden,
Als wie der Tag, der gestern war,
Wo ihr nicht oft daran gedencket;
Das Leben ist wie ein Geschrey,
Denckt man nicht, daß man lebt, vorbey.
Wofern wir aber überlegen
Und, was man guts besitzt, erwegen;
Wird der Genuß so vieler Sachen,
Die unser Schöpfer uns beschehrt,
Und deren wir so wenig wehrt,
Uns froh, erkenntlich, danckbar machen.
Wir werden auch zugleich die Plagen,
Womit uns mancher Fall beschwehrt,
Geschickter werden zu ertragen.
Denn
B b 5
Vernuͤnftiger Gebrauch des Gegen-
waͤrtigen.
Geliebte Menſchen, lernet, lernt,
Des Gegenwaͤrtigen genieſſen!
Weil alle Dinge von uns flieſſen,
Wie ſich ein Strom von uns entfernt.
Durch Ueberlegen kann allein
Von uns genoſſen und empfunden,
Gehemmt und angehalten ſeyn
Der reg- und fluͤßigen Secunden
Entſtehend’ und vergehnde Schaar.
Lebt achtzig, ja, lebt hundert Jahr,
Von Gluͤck und Kranckheit ungekraͤncket,
Ohn Elend, Kummer und Gefahr:
Sie ſind verfloſſen und verſchwunden,
Als wie der Tag, der geſtern war,
Wo ihr nicht oft daran gedencket;
Das Leben iſt wie ein Geſchrey,
Denckt man nicht, daß man lebt, vorbey.
Wofern wir aber uͤberlegen
Und, was man guts beſitzt, erwegen;
Wird der Genuß ſo vieler Sachen,
Die unſer Schoͤpfer uns beſchehrt,
Und deren wir ſo wenig wehrt,
Uns froh, erkenntlich, danckbar machen.
Wir werden auch zugleich die Plagen,
Womit uns mancher Fall beſchwehrt,
Geſchickter werden zu ertragen.
Denn
B b 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0409" n="393"/>
        <lg type="poem">
          <head> <hi rendition="#fr">Vernu&#x0364;nftiger Gebrauch des Gegen-<lb/>
wa&#x0364;rtigen.</hi> </head><lb/>
          <lg n="27">
            <l><hi rendition="#in">G</hi>eliebte Men&#x017F;chen, lernet, lernt,</l><lb/>
            <l>Des Gegenwa&#x0364;rtigen genie&#x017F;&#x017F;en!</l><lb/>
            <l>Weil alle Dinge von uns flie&#x017F;&#x017F;en,</l><lb/>
            <l>Wie &#x017F;ich ein Strom von uns entfernt.</l><lb/>
            <l>Durch Ueberlegen kann allein</l><lb/>
            <l>Von uns geno&#x017F;&#x017F;en und empfunden,</l><lb/>
            <l>Gehemmt und angehalten &#x017F;eyn</l><lb/>
            <l>Der reg- und flu&#x0364;ßigen Secunden</l><lb/>
            <l>Ent&#x017F;tehend&#x2019; und vergehnde Schaar.</l><lb/>
            <l>Lebt achtzig, ja, lebt hundert Jahr,</l><lb/>
            <l>Von Glu&#x0364;ck und Kranckheit ungekra&#x0364;ncket,</l><lb/>
            <l>Ohn Elend, Kummer und Gefahr:</l><lb/>
            <l>Sie &#x017F;ind verflo&#x017F;&#x017F;en und ver&#x017F;chwunden,</l><lb/>
            <l>Als wie der Tag, der ge&#x017F;tern war,</l><lb/>
            <l>Wo ihr nicht oft daran gedencket;</l><lb/>
            <l>Das Leben i&#x017F;t wie ein Ge&#x017F;chrey,</l><lb/>
            <l>Denckt man nicht, daß man lebt, vorbey.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="28">
            <l>Wofern wir aber u&#x0364;berlegen</l><lb/>
            <l>Und, was man guts be&#x017F;itzt, erwegen;</l><lb/>
            <l>Wird der Genuß &#x017F;o vieler Sachen,</l><lb/>
            <l>Die un&#x017F;er Scho&#x0364;pfer uns be&#x017F;chehrt,</l><lb/>
            <l>Und deren wir &#x017F;o wenig wehrt,</l><lb/>
            <l>Uns froh, erkenntlich, danckbar machen.</l>
          </lg><lb/>
          <lg n="29">
            <l>Wir werden auch zugleich die Plagen,</l><lb/>
            <l>Womit uns mancher Fall be&#x017F;chwehrt,</l><lb/>
            <l>Ge&#x017F;chickter werden zu ertragen.</l>
          </lg><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">B b 5</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">Denn</fw><lb/>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[393/0409] Vernuͤnftiger Gebrauch des Gegen- waͤrtigen. Geliebte Menſchen, lernet, lernt, Des Gegenwaͤrtigen genieſſen! Weil alle Dinge von uns flieſſen, Wie ſich ein Strom von uns entfernt. Durch Ueberlegen kann allein Von uns genoſſen und empfunden, Gehemmt und angehalten ſeyn Der reg- und fluͤßigen Secunden Entſtehend’ und vergehnde Schaar. Lebt achtzig, ja, lebt hundert Jahr, Von Gluͤck und Kranckheit ungekraͤncket, Ohn Elend, Kummer und Gefahr: Sie ſind verfloſſen und verſchwunden, Als wie der Tag, der geſtern war, Wo ihr nicht oft daran gedencket; Das Leben iſt wie ein Geſchrey, Denckt man nicht, daß man lebt, vorbey. Wofern wir aber uͤberlegen Und, was man guts beſitzt, erwegen; Wird der Genuß ſo vieler Sachen, Die unſer Schoͤpfer uns beſchehrt, Und deren wir ſo wenig wehrt, Uns froh, erkenntlich, danckbar machen. Wir werden auch zugleich die Plagen, Womit uns mancher Fall beſchwehrt, Geſchickter werden zu ertragen. Denn B b 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/409
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/409>, abgerufen am 14.06.2024.