Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Hirsche.
Es war ein angeschweister Hirsch: Er ist vorbey und fort
Doch nein;

Wie! wird er in der Flucht zu Stein?
Er fleucht, und bleibt auf einer Stelle. Dieß ist nun keine
Zauberey;

Doch ist es eine schwarze Kunst. Damit hier lange sichtbar sey,
Was sonst die Schnelligkeit uns raubet: Kann man, an diesem
armen Thier,

Entsetzen, Unmuth, Grimm und Gram, Furcht, Wüten,
Todespein und Grauen,

Nicht in den Augen nur allein, in allen seinen Gliedern, schauen.
Die Muskeln raffen sich zusammen; die strammen Nerven
reissen schier.

Hier seh ich nun zwar eine Probe, wie weit des Menschen
schlauer Geist,

Auch in den allerdicksten Wäldern, die Herrschaft über Thie-
re weist:

Doch seh ichs ohne Mitleid kaum. Wesfalls ich eilig meine
Blicke,

Um mich zu trösten, in den Wald, in die bebüschte Ferne schicke.
Jch senke mich, mit stiller Lust, in das verwachsene Gefilde;
Und wenn ich, in dem schönen Wald, mich satt und doch nicht
satt gesehn,

Weil man stets neue Schönheit spüret: So ruf ich: Jeder
muß gestehn,

Daß hier die bildende Natur, durch Ridinger, sich selbsten bilde.
No. 4.
Ob in diesem Kupferstück ich zuerst das Pflanzen-Reich,
Oder erst das Thier-Reich sehn, oder alle zwey zugleich
Schauen und bewundern wolle; zweifelt mein verwirrter
Blick.

Sucht
Die Hirſche.
Es war ein angeſchweiſter Hirſch: Er iſt vorbey und fort
Doch nein;

Wie! wird er in der Flucht zu Stein?
Er fleucht, und bleibt auf einer Stelle. Dieß iſt nun keine
Zauberey;

Doch iſt es eine ſchwarze Kunſt. Damit hier lange ſichtbar ſey,
Was ſonſt die Schnelligkeit uns raubet: Kann man, an dieſem
armen Thier,

Entſetzen, Unmuth, Grimm und Gram, Furcht, Wuͤten,
Todespein und Grauen,

Nicht in den Augen nur allein, in allen ſeinen Gliedern, ſchauen.
Die Muskeln raffen ſich zuſammen; die ſtrammen Nerven
reiſſen ſchier.

Hier ſeh ich nun zwar eine Probe, wie weit des Menſchen
ſchlauer Geiſt,

Auch in den allerdickſten Waͤldern, die Herrſchaft uͤber Thie-
re weiſt:

Doch ſeh ichs ohne Mitleid kaum. Wesfalls ich eilig meine
Blicke,

Um mich zu troͤſten, in den Wald, in die bebuͤſchte Ferne ſchicke.
Jch ſenke mich, mit ſtiller Luſt, in das verwachſene Gefilde;
Und wenn ich, in dem ſchoͤnen Wald, mich ſatt und doch nicht
ſatt geſehn,

Weil man ſtets neue Schoͤnheit ſpuͤret: So ruf ich: Jeder
muß geſtehn,

Daß hier die bildende Natur, durch Ridinger, ſich ſelbſten bilde.
No. 4.
Ob in dieſem Kupferſtuͤck ich zuerſt das Pflanzen-Reich,
Oder erſt das Thier-Reich ſehn, oder alle zwey zugleich
Schauen und bewundern wolle; zweifelt mein verwirrter
Blick.

Sucht
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <lg type="poem">
              <pb facs="#f0242" n="218"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Die Hir&#x017F;che.</hi> </fw><lb/>
              <l>Es war ein ange&#x017F;chwei&#x017F;ter Hir&#x017F;ch: Er i&#x017F;t vorbey und fort<lb/><hi rendition="#et">Doch nein;</hi></l><lb/>
              <l>Wie! wird er in der Flucht zu Stein?</l><lb/>
              <l>Er fleucht, und bleibt auf einer Stelle. Dieß i&#x017F;t nun keine<lb/><hi rendition="#et">Zauberey;</hi></l><lb/>
              <l>Doch i&#x017F;t es eine &#x017F;chwarze Kun&#x017F;t. Damit hier lange &#x017F;ichtbar &#x017F;ey,</l><lb/>
              <l>Was &#x017F;on&#x017F;t die Schnelligkeit uns raubet: Kann man, an die&#x017F;em<lb/><hi rendition="#et">armen Thier,</hi></l><lb/>
              <l>Ent&#x017F;etzen, Unmuth, Grimm und Gram, Furcht, Wu&#x0364;ten,<lb/><hi rendition="#et">Todespein und Grauen,</hi></l><lb/>
              <l>Nicht in den Augen nur allein, in allen &#x017F;einen Gliedern, &#x017F;chauen.</l><lb/>
              <l>Die Muskeln raffen &#x017F;ich zu&#x017F;ammen; die &#x017F;trammen Nerven<lb/><hi rendition="#et">rei&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chier.</hi></l><lb/>
              <l>Hier &#x017F;eh ich nun zwar eine Probe, wie weit des Men&#x017F;chen<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;chlauer Gei&#x017F;t,</hi></l><lb/>
              <l>Auch in den allerdick&#x017F;ten Wa&#x0364;ldern, die Herr&#x017F;chaft u&#x0364;ber Thie-<lb/><hi rendition="#et">re wei&#x017F;t:</hi></l><lb/>
              <l>Doch &#x017F;eh ichs ohne Mitleid kaum. Wesfalls ich eilig meine<lb/><hi rendition="#et">Blicke,</hi></l><lb/>
              <l>Um mich zu tro&#x0364;&#x017F;ten, in den Wald, in die bebu&#x0364;&#x017F;chte Ferne &#x017F;chicke.</l><lb/>
              <l>Jch &#x017F;enke mich, mit &#x017F;tiller Lu&#x017F;t, in das verwach&#x017F;ene Gefilde;</l><lb/>
              <l>Und wenn ich, in dem &#x017F;cho&#x0364;nen Wald, mich &#x017F;att und doch nicht<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;att ge&#x017F;ehn,</hi></l><lb/>
              <l>Weil man &#x017F;tets neue Scho&#x0364;nheit &#x017F;pu&#x0364;ret: So ruf ich: Jeder<lb/><hi rendition="#et">muß ge&#x017F;tehn,</hi></l><lb/>
              <l>Daß hier die bildende Natur, durch Ridinger, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;ten bilde.</l>
            </lg>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#aq">No.</hi> 4.</head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">O</hi>b in die&#x017F;em Kupfer&#x017F;tu&#x0364;ck ich zuer&#x017F;t das Pflanzen-Reich,</l><lb/>
              <l>Oder er&#x017F;t das Thier-Reich &#x017F;ehn, oder alle zwey zugleich</l><lb/>
              <l>Schauen und bewundern wolle; zweifelt mein verwirrter<lb/><hi rendition="#et">Blick.</hi></l><lb/>
              <fw place="bottom" type="catch">Sucht</fw><lb/>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0242] Die Hirſche. Es war ein angeſchweiſter Hirſch: Er iſt vorbey und fort Doch nein; Wie! wird er in der Flucht zu Stein? Er fleucht, und bleibt auf einer Stelle. Dieß iſt nun keine Zauberey; Doch iſt es eine ſchwarze Kunſt. Damit hier lange ſichtbar ſey, Was ſonſt die Schnelligkeit uns raubet: Kann man, an dieſem armen Thier, Entſetzen, Unmuth, Grimm und Gram, Furcht, Wuͤten, Todespein und Grauen, Nicht in den Augen nur allein, in allen ſeinen Gliedern, ſchauen. Die Muskeln raffen ſich zuſammen; die ſtrammen Nerven reiſſen ſchier. Hier ſeh ich nun zwar eine Probe, wie weit des Menſchen ſchlauer Geiſt, Auch in den allerdickſten Waͤldern, die Herrſchaft uͤber Thie- re weiſt: Doch ſeh ichs ohne Mitleid kaum. Wesfalls ich eilig meine Blicke, Um mich zu troͤſten, in den Wald, in die bebuͤſchte Ferne ſchicke. Jch ſenke mich, mit ſtiller Luſt, in das verwachſene Gefilde; Und wenn ich, in dem ſchoͤnen Wald, mich ſatt und doch nicht ſatt geſehn, Weil man ſtets neue Schoͤnheit ſpuͤret: So ruf ich: Jeder muß geſtehn, Daß hier die bildende Natur, durch Ridinger, ſich ſelbſten bilde. No. 4. Ob in dieſem Kupferſtuͤck ich zuerſt das Pflanzen-Reich, Oder erſt das Thier-Reich ſehn, oder alle zwey zugleich Schauen und bewundern wolle; zweifelt mein verwirrter Blick. Sucht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/242
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/242>, abgerufen am 23.11.2024.