Jch hatte dieß Gedicht des Abends spät gemacht. Wie ich nun früh, mein Vögelchen zu sehen, Jhm und den andern Futter bracht: War es bereits um ihn geschehen. Jch fand ihn todt, erstarrt, und ohne Leben liegen. Hierüber stutzt ich recht. Mich übernahm, Eh ich mich recht besann, ein bittrer Gram; Es preßt und drückt mich recht ein innig Unvergnügen. Doch faßt ich bald darauf mich wieder, Und dacht: Es kömmt mir gleichsam für, Als ob dieß kleine Thier Nur darum bloß so lange leben wollen, Bis ich, durch ihn gereizt, die aufgesetzten Lieder Verfertigen und machen sollen, Die wirklich, sonder ihn, zu Gottes Ehren, Wohl nicht verfertigt worden wären.
So hast du auf der Welt was nützliches vollbracht, Geliebtes Thier, und stirbst zu rechter Zeit. Drum sag ich dir, wiewohl nicht sonder Zärtlichkeit, Die letzte gute Nacht. Und wo vielleicht, geliebtes Vögelein, Da nichts zu nichts wird, und vergehet, Dein kleines Geistchen noch bestehet: So wünsch ich, daß ihm wohl mag seyn.
Ver-
Der lehrende Vogel.
Jch hatte dieß Gedicht des Abends ſpaͤt gemacht. Wie ich nun fruͤh, mein Voͤgelchen zu ſehen, Jhm und den andern Futter bracht: War es bereits um ihn geſchehen. Jch fand ihn todt, erſtarrt, und ohne Leben liegen. Hieruͤber ſtutzt ich recht. Mich uͤbernahm, Eh ich mich recht beſann, ein bittrer Gram; Es preßt und druͤckt mich recht ein innig Unvergnuͤgen. Doch faßt ich bald darauf mich wieder, Und dacht: Es koͤmmt mir gleichſam fuͤr, Als ob dieß kleine Thier Nur darum bloß ſo lange leben wollen, Bis ich, durch ihn gereizt, die aufgeſetzten Lieder Verfertigen und machen ſollen, Die wirklich, ſonder ihn, zu Gottes Ehren, Wohl nicht verfertigt worden waͤren.
So haſt du auf der Welt was nuͤtzliches vollbracht, Geliebtes Thier, und ſtirbſt zu rechter Zeit. Drum ſag ich dir, wiewohl nicht ſonder Zaͤrtlichkeit, Die letzte gute Nacht. Und wo vielleicht, geliebtes Voͤgelein, Da nichts zu nichts wird, und vergehet, Dein kleines Geiſtchen noch beſtehet: So wuͤnſch ich, daß ihm wohl mag ſeyn.
Ver-
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Der lehrende Vogel.
Jch hatte dieß Gedicht des Abends ſpaͤt gemacht.
Wie ich nun fruͤh, mein Voͤgelchen zu ſehen,
Jhm und den andern Futter bracht:
War es bereits um ihn geſchehen.
Jch fand ihn todt, erſtarrt, und ohne Leben liegen.
Hieruͤber ſtutzt ich recht. Mich uͤbernahm,
Eh ich mich recht beſann, ein bittrer Gram;
Es preßt und druͤckt mich recht ein innig Unvergnuͤgen.
Doch faßt ich bald darauf mich wieder,
Und dacht: Es koͤmmt mir gleichſam fuͤr,
Als ob dieß kleine Thier
Nur darum bloß ſo lange leben wollen,
Bis ich, durch ihn gereizt, die aufgeſetzten Lieder
Verfertigen und machen ſollen,
Die wirklich, ſonder ihn, zu Gottes Ehren,
Wohl nicht verfertigt worden waͤren.
So haſt du auf der Welt was nuͤtzliches vollbracht,
Geliebtes Thier, und ſtirbſt zu rechter Zeit.
Drum ſag ich dir, wiewohl nicht ſonder Zaͤrtlichkeit,
Die letzte gute Nacht.
Und wo vielleicht, geliebtes Voͤgelein,
Da nichts zu nichts wird, und vergehet,
Dein kleines Geiſtchen noch beſtehet:
So wuͤnſch ich, daß ihm wohl mag ſeyn.
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 6. Hamburg, 1740, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen06_1740/279>, abgerufen am 22.11.2024.
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