Jch gedenke mit Wehmut an den größten Haufen der Menschen; und wenn ich mir vor- genommen hätte, hier weitläuftig zu seyn; so wür- de ich einige Bogen mit gerechten Klagen anfüllen. Jhr Betragen, ihre Achtlosigkeit, ihre Unempfind- lichkeit wirken, daß sie keine von den Vortheilen einsehen, die sie würklich in der Welt besitzen. Sie selber berauben sich der angenehmsten Freude und der glückseligsten Wollust, die sie in diesem mühsa- men Leben zu hoffen haben; sie machen sich selber unfähig, die Lust der Schöpfung zu empfinden, und überlassen sich freywillig solchen Beschäftigungen, deren Folgen sie der Verdrießlichkeit und dem Gra- me bloß stellen. Diese Aufführung verunehret die Menschen recht, und machet sie noch geringer als die Thiere, weil deren Achtlosigkeit und Dummheit bloß eine Folge ihrer Natur, und nicht eine Folge ih- rer Unempfindlichkeit und Gleichgültigkeit ist. Die- se unglückselige Gewohnheit ist die Quelle, warum wir so viele Fremdlinge, oder wenigstens so viele mißvergnügte Bürger in der Stadt Gottes haben. Da das gegenwärtige Gute und die Natur mit al- len ihren Reizungen den meisten Menschen unbe- kannt ist, weil sie nicht daran gedenken, und sich nicht daran zu vergnügen suchen, sondern sich nur mit dem beschäftigen und quälen, was ihnen noch fehlet; so verliehren sie leider nicht allein über diese
Lüstern-
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Vorbericht.
Jch gedenke mit Wehmut an den groͤßten Haufen der Menſchen; und wenn ich mir vor- genommen haͤtte, hier weitlaͤuftig zu ſeyn; ſo wuͤr- de ich einige Bogen mit gerechten Klagen anfuͤllen. Jhr Betragen, ihre Achtloſigkeit, ihre Unempfind- lichkeit wirken, daß ſie keine von den Vortheilen einſehen, die ſie wuͤrklich in der Welt beſitzen. Sie ſelber berauben ſich der angenehmſten Freude und der gluͤckſeligſten Wolluſt, die ſie in dieſem muͤhſa- men Leben zu hoffen haben; ſie machen ſich ſelber unfaͤhig, die Luſt der Schoͤpfung zu empfinden, und uͤberlaſſen ſich freywillig ſolchen Beſchaͤftigungen, deren Folgen ſie der Verdrießlichkeit und dem Gra- me bloß ſtellen. Dieſe Auffuͤhrung verunehret die Menſchen recht, und machet ſie noch geringer als die Thiere, weil deren Achtloſigkeit und Dummheit bloß eine Folge ihrer Natur, und nicht eine Folge ih- rer Unempfindlichkeit und Gleichguͤltigkeit iſt. Die- ſe ungluͤckſelige Gewohnheit iſt die Quelle, warum wir ſo viele Fremdlinge, oder wenigſtens ſo viele mißvergnuͤgte Buͤrger in der Stadt Gottes haben. Da das gegenwaͤrtige Gute und die Natur mit al- len ihren Reizungen den meiſten Menſchen unbe- kannt iſt, weil ſie nicht daran gedenken, und ſich nicht daran zu vergnuͤgen ſuchen, ſondern ſich nur mit dem beſchaͤftigen und quaͤlen, was ihnen noch fehlet; ſo verliehren ſie leider nicht allein uͤber dieſe
Luͤſtern-
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[0011]
Vorbericht.
Jch gedenke mit Wehmut an den groͤßten
Haufen der Menſchen; und wenn ich mir vor-
genommen haͤtte, hier weitlaͤuftig zu ſeyn; ſo wuͤr-
de ich einige Bogen mit gerechten Klagen anfuͤllen.
Jhr Betragen, ihre Achtloſigkeit, ihre Unempfind-
lichkeit wirken, daß ſie keine von den Vortheilen
einſehen, die ſie wuͤrklich in der Welt beſitzen. Sie
ſelber berauben ſich der angenehmſten Freude und
der gluͤckſeligſten Wolluſt, die ſie in dieſem muͤhſa-
men Leben zu hoffen haben; ſie machen ſich ſelber
unfaͤhig, die Luſt der Schoͤpfung zu empfinden, und
uͤberlaſſen ſich freywillig ſolchen Beſchaͤftigungen,
deren Folgen ſie der Verdrießlichkeit und dem Gra-
me bloß ſtellen. Dieſe Auffuͤhrung verunehret die
Menſchen recht, und machet ſie noch geringer als die
Thiere, weil deren Achtloſigkeit und Dummheit
bloß eine Folge ihrer Natur, und nicht eine Folge ih-
rer Unempfindlichkeit und Gleichguͤltigkeit iſt. Die-
ſe ungluͤckſelige Gewohnheit iſt die Quelle, warum
wir ſo viele Fremdlinge, oder wenigſtens ſo viele
mißvergnuͤgte Buͤrger in der Stadt Gottes haben.
Da das gegenwaͤrtige Gute und die Natur mit al-
len ihren Reizungen den meiſten Menſchen unbe-
kannt iſt, weil ſie nicht daran gedenken, und ſich
nicht daran zu vergnuͤgen ſuchen, ſondern ſich nur
mit dem beſchaͤftigen und quaͤlen, was ihnen noch
fehlet; ſo verliehren ſie leider nicht allein uͤber dieſe
Luͤſtern-
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 7. Hamburg, 1743, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen07_1743/11>, abgerufen am 21.11.2024.
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