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Brümmer, Franz: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bd. 6. 6. Aufl. Leipzig, 1913.

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Sach
Lehrer auf einigen Dörfern der Pro-
vinz, wurde dann Hauptlehrer in
Wreschen und 1899 Rektor in Alt-
damm in Pommern.

S:

Aus dem
Herzen (Ge.), 1899. - Seerosen.
Hans Lange (2 En.), 1909.

*Sacher-Masoch, Leopold Ritter
v.
,

pseud. Charlotte Arand und
Zoe von Rodenbach, wurde am
27. Jan. 1836 zu Lemberg geboren,
wo sein Vater gleichen Namens k. k.
Hofrat und Polizeichef von Galizien
war. Seine Jugend verlebte er im
Winter in der Stadt und im Som-
mer gewöhnlich auf dem Lande, in
Zloczow oder in dem reizenden Wi-
niki. Hier durchstreifte er als Knabe,
die Flinte auf dem Rücken, auf eigene
Faust Feld und Wald, Gebirge und
Sumpf, u. sammelte unter dem gali-
zischen Volke jene Eindrücke, welche
später für seine literarische Physio-
gnomie so maßgebend wurden. Unter
den kleinrussischen Bauern, in denen
die Erinnerungen an die alte Kosaken-
freiheit und an die Kämpfe gegen
die polnische Aristokratie noch immer
lebendig waren, gewann er jenen
demokratischen Zug, der ihn später
bestimmte, seinem Vater den Eintritt
in den Staatsdienst zu verweigern.
Unauslöschliche Eindrücke machten auf
ihn die Greuel des Jahres 1846, wo
der Wahnsinn des galizischen Edel-
manns mit der Mordlust des Land-
manns Hand in Hand gingen. Jm
Jahre 1848 wurde Leopolds Vater
als Stadthauptmann und Polizeichef
nach Prag versetzt, und hier erst er-
lernte der Sohn, der bis dahin nur
polnisch und ruthenisch sprach, die
deutsche Sprache. Er besuchte hier
das Gymnasium, das er mit fünfzehn
Jahren absolvierte, beendete dann
die philosophischen Kurse u. studierte
mit Vorliebe Mathematik, Geschichte,
Naturwissenschaften und die Rechte.
Nach der Versetzung des Vaters nach
Graz (1855) vollendete Leopold von
S.-M. hierselbst seine rechtswissen-
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Sach
schaftlichen Studien, erwarb sich mit
20 Jahren die Doktorwürde, arbei-
tete dann einige Zeit im k. k. Staats-
archiv zu Wien sein Geschichtswerk
"Der Aufstand in Gent" (erschien
1857) aus u. habilitierte sich darauf
in Graz als Privatdozent der Ge-
schichte. Jm Jahre 1858 erschien
anonym S.-M.s erster Roman, und
dessen Erfolg bestimmte ihn, sich ganz
der literarischen Beschäftigung zu
widmen, obwohl er sein akademisches
Lehramt vorläufig noch beibehielt.
Nachdem er 1859 als Freiwilliger in
die österreichische Armee eingetreten
war, um gegen die Franzosen und
Jtaliener zu kämpfen, wurde er unter
Schmerling zum Professor in Lem-
berg ernannt; doch resignierte er
unter dem deutsch-feindlichen Mi-
nister Belcredi und lebte in den fol-
genden Jahren als Schriftsteller ab-
wechselnd in Graz, Prag, Salzburg
und Wien, unternahm größere Reisen
und besuchte auch von Zeit zu Zeit
seine kleinrussische Heimat, der er
eine treue Liebe bewahrte. Jm Jahre
1873 vermählte er sich und ließ sich
dann zunächst in Bruck an der Mur
nieder. Die Ehe mit seiner Frau ge-
staltete sich bald zu einer höchst un-
erträglichen, und ist wohl beiden
Gatten ein gleiches Maß von Schuld
zuzuschreiben. S.-M. war ein kranker
Psychopat, eine Persönlichkeit mit
schwerer degenerativer Veranlagung,
mit perversen, besonders nach der
sexuell-pathologischen Seite gerichte-
ten Neigungen u. Antrieben behaftet,
und der berühmte Psychiater Krafft-
Ebing in Wien hat ihn denn auch
als den Urtypus eines "Masochisten"
bezeichnet. Sein Weib, ein liederliches
Frauenzimmer, nährte nur die per-
versen Neigungen des Gatten noch
mehr, und so wurde der Zusammen-
bruch der Ehe schließlich unausbleib-
lich. Jm Jahre 1877 siedelten die
Gatten nach Graz und 1880 nach
Budapest über, wo S. kurze Zeit die

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Sach
Lehrer auf einigen Dörfern der Pro-
vinz, wurde dann Hauptlehrer in
Wreſchen und 1899 Rektor in Alt-
damm in Pommern.

S:

Aus dem
Herzen (Ge.), 1899. – Seeroſen.
Hans Lange (2 En.), 1909.

*Sacher-Maſoch, Leopold Ritter
v.
,

pſeud. Charlotte Arand und
Zoe von Rodenbach, wurde am
27. Jan. 1836 zu Lemberg geboren,
wo ſein Vater gleichen Namens k. k.
Hofrat und Polizeichef von Galizien
war. Seine Jugend verlebte er im
Winter in der Stadt und im Som-
mer gewöhnlich auf dem Lande, in
Zloczow oder in dem reizenden Wi-
niki. Hier durchſtreifte er als Knabe,
die Flinte auf dem Rücken, auf eigene
Fauſt Feld und Wald, Gebirge und
Sumpf, u. ſammelte unter dem gali-
ziſchen Volke jene Eindrücke, welche
ſpäter für ſeine literariſche Phyſio-
gnomie ſo maßgebend wurden. Unter
den kleinruſſiſchen Bauern, in denen
die Erinnerungen an die alte Koſaken-
freiheit und an die Kämpfe gegen
die polniſche Ariſtokratie noch immer
lebendig waren, gewann er jenen
demokratiſchen Zug, der ihn ſpäter
beſtimmte, ſeinem Vater den Eintritt
in den Staatsdienſt zu verweigern.
Unauslöſchliche Eindrücke machten auf
ihn die Greuel des Jahres 1846, wo
der Wahnſinn des galiziſchen Edel-
manns mit der Mordluſt des Land-
manns Hand in Hand gingen. Jm
Jahre 1848 wurde Leopolds Vater
als Stadthauptmann und Polizeichef
nach Prag verſetzt, und hier erſt er-
lernte der Sohn, der bis dahin nur
polniſch und rutheniſch ſprach, die
deutſche Sprache. Er beſuchte hier
das Gymnaſium, das er mit fünfzehn
Jahren abſolvierte, beendete dann
die philoſophiſchen Kurſe u. ſtudierte
mit Vorliebe Mathematik, Geſchichte,
Naturwiſſenſchaften und die Rechte.
Nach der Verſetzung des Vaters nach
Graz (1855) vollendete Leopold von
S.-M. hierſelbſt ſeine rechtswiſſen-
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Sach
ſchaftlichen Studien, erwarb ſich mit
20 Jahren die Doktorwürde, arbei-
tete dann einige Zeit im k. k. Staats-
archiv zu Wien ſein Geſchichtswerk
„Der Aufſtand in Gent“ (erſchien
1857) aus u. habilitierte ſich darauf
in Graz als Privatdozent der Ge-
ſchichte. Jm Jahre 1858 erſchien
anonym S.-M.s erſter Roman, und
deſſen Erfolg beſtimmte ihn, ſich ganz
der literariſchen Beſchäftigung zu
widmen, obwohl er ſein akademiſches
Lehramt vorläufig noch beibehielt.
Nachdem er 1859 als Freiwilliger in
die öſterreichiſche Armee eingetreten
war, um gegen die Franzoſen und
Jtaliener zu kämpfen, wurde er unter
Schmerling zum Profeſſor in Lem-
berg ernannt; doch reſignierte er
unter dem deutſch-feindlichen Mi-
niſter Belcredi und lebte in den fol-
genden Jahren als Schriftſteller ab-
wechſelnd in Graz, Prag, Salzburg
und Wien, unternahm größere Reiſen
und beſuchte auch von Zeit zu Zeit
ſeine kleinruſſiſche Heimat, der er
eine treue Liebe bewahrte. Jm Jahre
1873 vermählte er ſich und ließ ſich
dann zunächſt in Bruck an der Mur
nieder. Die Ehe mit ſeiner Frau ge-
ſtaltete ſich bald zu einer höchſt un-
erträglichen, und iſt wohl beiden
Gatten ein gleiches Maß von Schuld
zuzuſchreiben. S.-M. war ein kranker
Pſychopat, eine Perſönlichkeit mit
ſchwerer degenerativer Veranlagung,
mit perverſen, beſonders nach der
ſexuell-pathologiſchen Seite gerichte-
ten Neigungen u. Antrieben behaftet,
und der berühmte Pſychiater Krafft-
Ebing in Wien hat ihn denn auch
als den Urtypus eines „Maſochiſten“
bezeichnet. Sein Weib, ein liederliches
Frauenzimmer, nährte nur die per-
verſen Neigungen des Gatten noch
mehr, und ſo wurde der Zuſammen-
bruch der Ehe ſchließlich unausbleib-
lich. Jm Jahre 1877 ſiedelten die
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[96/0100] Sach Sach Lehrer auf einigen Dörfern der Pro- vinz, wurde dann Hauptlehrer in Wreſchen und 1899 Rektor in Alt- damm in Pommern. S: Aus dem Herzen (Ge.), 1899. – Seeroſen. Hans Lange (2 En.), 1909. *Sacher-Maſoch, Leopold Ritter v., pſeud. Charlotte Arand und Zoe von Rodenbach, wurde am 27. Jan. 1836 zu Lemberg geboren, wo ſein Vater gleichen Namens k. k. Hofrat und Polizeichef von Galizien war. Seine Jugend verlebte er im Winter in der Stadt und im Som- mer gewöhnlich auf dem Lande, in Zloczow oder in dem reizenden Wi- niki. Hier durchſtreifte er als Knabe, die Flinte auf dem Rücken, auf eigene Fauſt Feld und Wald, Gebirge und Sumpf, u. ſammelte unter dem gali- ziſchen Volke jene Eindrücke, welche ſpäter für ſeine literariſche Phyſio- gnomie ſo maßgebend wurden. Unter den kleinruſſiſchen Bauern, in denen die Erinnerungen an die alte Koſaken- freiheit und an die Kämpfe gegen die polniſche Ariſtokratie noch immer lebendig waren, gewann er jenen demokratiſchen Zug, der ihn ſpäter beſtimmte, ſeinem Vater den Eintritt in den Staatsdienſt zu verweigern. Unauslöſchliche Eindrücke machten auf ihn die Greuel des Jahres 1846, wo der Wahnſinn des galiziſchen Edel- manns mit der Mordluſt des Land- manns Hand in Hand gingen. Jm Jahre 1848 wurde Leopolds Vater als Stadthauptmann und Polizeichef nach Prag verſetzt, und hier erſt er- lernte der Sohn, der bis dahin nur polniſch und rutheniſch ſprach, die deutſche Sprache. Er beſuchte hier das Gymnaſium, das er mit fünfzehn Jahren abſolvierte, beendete dann die philoſophiſchen Kurſe u. ſtudierte mit Vorliebe Mathematik, Geſchichte, Naturwiſſenſchaften und die Rechte. Nach der Verſetzung des Vaters nach Graz (1855) vollendete Leopold von S.-M. hierſelbſt ſeine rechtswiſſen- ſchaftlichen Studien, erwarb ſich mit 20 Jahren die Doktorwürde, arbei- tete dann einige Zeit im k. k. Staats- archiv zu Wien ſein Geſchichtswerk „Der Aufſtand in Gent“ (erſchien 1857) aus u. habilitierte ſich darauf in Graz als Privatdozent der Ge- ſchichte. Jm Jahre 1858 erſchien anonym S.-M.s erſter Roman, und deſſen Erfolg beſtimmte ihn, ſich ganz der literariſchen Beſchäftigung zu widmen, obwohl er ſein akademiſches Lehramt vorläufig noch beibehielt. Nachdem er 1859 als Freiwilliger in die öſterreichiſche Armee eingetreten war, um gegen die Franzoſen und Jtaliener zu kämpfen, wurde er unter Schmerling zum Profeſſor in Lem- berg ernannt; doch reſignierte er unter dem deutſch-feindlichen Mi- niſter Belcredi und lebte in den fol- genden Jahren als Schriftſteller ab- wechſelnd in Graz, Prag, Salzburg und Wien, unternahm größere Reiſen und beſuchte auch von Zeit zu Zeit ſeine kleinruſſiſche Heimat, der er eine treue Liebe bewahrte. Jm Jahre 1873 vermählte er ſich und ließ ſich dann zunächſt in Bruck an der Mur nieder. Die Ehe mit ſeiner Frau ge- ſtaltete ſich bald zu einer höchſt un- erträglichen, und iſt wohl beiden Gatten ein gleiches Maß von Schuld zuzuſchreiben. S.-M. war ein kranker Pſychopat, eine Perſönlichkeit mit ſchwerer degenerativer Veranlagung, mit perverſen, beſonders nach der ſexuell-pathologiſchen Seite gerichte- ten Neigungen u. Antrieben behaftet, und der berühmte Pſychiater Krafft- Ebing in Wien hat ihn denn auch als den Urtypus eines „Maſochiſten“ bezeichnet. Sein Weib, ein liederliches Frauenzimmer, nährte nur die per- verſen Neigungen des Gatten noch mehr, und ſo wurde der Zuſammen- bruch der Ehe ſchließlich unausbleib- lich. Jm Jahre 1877 ſiedelten die Gatten nach Graz und 1880 nach Budapeſt über, wo S. kurze Zeit die *

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Zitationshilfe: Brümmer, Franz: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bd. 6. 6. Aufl. Leipzig, 1913, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bruemmer_lexikon06_1913/100>, abgerufen am 22.11.2024.