die Erzählung von seinem Wettstreite mit Alkamenes. Sie ist uns zwar nur von Tzetzes 1) überliefert, aber da ihr eine innere Wahrscheinlichkeit keineswegs abgeht, so nehmen wir keinen Anstand, sie wenigstens in den Hauptzügen als auf Thatsachen beruhend anzuerkennen. Die Athener wollten einst zwei Bilder der Athene auf hohen Säulen errichten und be- stellten dieselben bei Phidias und Alkamenes. Als sie fertig, aber noch nicht an dem bestimmten Orte aufgerichtet waren, gab das Volk der Statue des Alkamenes den Vorzug. Allein das Urtheil schlug plötzlich allgemein zu Gunsten des Phidias um, als beide Statuen wirklich oben auf den Säulen standen. Ob die Statue des Phidias wirklich geöffnete Lippen, aufge- blasene Nasenlöcher hatte, wie Tzetzes sagt, mag hier uner- örtert bleiben. Es genügt zu wissen, dass einzelne Theile, die früher fehlerhaft erschienen waren, durch den veränderten Standpunkt sich dem Ganzen harmonisch einfügten, und dass dies eine Folge der richtigen Beobachtung der optischen und perspectivischen Gesetze war. Es ist eine anerkannte That- sache, dass an den griechischen Tempeln die Ecksäulen stär- ker sind, als die mittleren, weil die Masse des sie umgeben- den Lichtes die wirkliche Stärke für den Augenschein vermin- dert. Nach demselben Gesetze verlangt auch eine im Freien aufgestellte Statue, um nicht mager zu erscheinen, eine grös- sere Fülle, als für einen geschlossenen Raum erforderlich ist. Eine Statue auf hoher Säule muss, auch wenn sie gradaus blicken soll, wegen des tieferen Standpunktes des Beschauers, den Kopf etwas unterwärts neigen. Bei kolossalen Figuren muss das Grössenverhältniss der oberen Theile wachsen, um sich mit den dem Auge näher stehenden Theilen ins Gleichge- wicht zu setzen. Dass Phidias solche und ähnliche Verhält- nisse bis ins Einzelne zu berücksichtigen wusste, lehrt uns nun eben jene Erzählung des Tzetzes. Will man gegen die- selbe geltend machen, dass, was der Lehrer gewusst, auch der Schüler bei ihm gelernt haben müsse, so ist dieser Grund um so weniger stichhaltig, als Feinheiten dieser Art sich nicht in wenige, leicht erkennbare allgemeine Regeln zusammenfassen lassen, sondern sich jedesmal nach den Bedürfnissen des ein- zelnen Falles modificiren. -- Von ganz besonderer Bedeutung
1) Chil. VIII, 193.
13 *
die Erzählung von seinem Wettstreite mit Alkamenes. Sie ist uns zwar nur von Tzetzes 1) überliefert, aber da ihr eine innere Wahrscheinlichkeit keineswegs abgeht, so nehmen wir keinen Anstand, sie wenigstens in den Hauptzügen als auf Thatsachen beruhend anzuerkennen. Die Athener wollten einst zwei Bilder der Athene auf hohen Säulen errichten und be- stellten dieselben bei Phidias und Alkamenes. Als sie fertig, aber noch nicht an dem bestimmten Orte aufgerichtet waren, gab das Volk der Statue des Alkamenes den Vorzug. Allein das Urtheil schlug plötzlich allgemein zu Gunsten des Phidias um, als beide Statuen wirklich oben auf den Säulen standen. Ob die Statue des Phidias wirklich geöffnete Lippen, aufge- blasene Nasenlöcher hatte, wie Tzetzes sagt, mag hier uner- örtert bleiben. Es genügt zu wissen, dass einzelne Theile, die früher fehlerhaft erschienen waren, durch den veränderten Standpunkt sich dem Ganzen harmonisch einfügten, und dass dies eine Folge der richtigen Beobachtung der optischen und perspectivischen Gesetze war. Es ist eine anerkannte That- sache, dass an den griechischen Tempeln die Ecksäulen stär- ker sind, als die mittleren, weil die Masse des sie umgeben- den Lichtes die wirkliche Stärke für den Augenschein vermin- dert. Nach demselben Gesetze verlangt auch eine im Freien aufgestellte Statue, um nicht mager zu erscheinen, eine grös- sere Fülle, als für einen geschlossenen Raum erforderlich ist. Eine Statue auf hoher Säule muss, auch wenn sie gradaus blicken soll, wegen des tieferen Standpunktes des Beschauers, den Kopf etwas unterwärts neigen. Bei kolossalen Figuren muss das Grössenverhältniss der oberen Theile wachsen, um sich mit den dem Auge näher stehenden Theilen ins Gleichge- wicht zu setzen. Dass Phidias solche und ähnliche Verhält- nisse bis ins Einzelne zu berücksichtigen wusste, lehrt uns nun eben jene Erzählung des Tzetzes. Will man gegen die- selbe geltend machen, dass, was der Lehrer gewusst, auch der Schüler bei ihm gelernt haben müsse, so ist dieser Grund um so weniger stichhaltig, als Feinheiten dieser Art sich nicht in wenige, leicht erkennbare allgemeine Regeln zusammenfassen lassen, sondern sich jedesmal nach den Bedürfnissen des ein- zelnen Falles modificiren. — Von ganz besonderer Bedeutung
1) Chil. VIII, 193.
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die Erzählung von seinem Wettstreite mit Alkamenes. Sie
ist uns zwar nur von Tzetzes 1) überliefert, aber da ihr eine
innere Wahrscheinlichkeit keineswegs abgeht, so nehmen wir
keinen Anstand, sie wenigstens in den Hauptzügen als auf
Thatsachen beruhend anzuerkennen. Die Athener wollten einst
zwei Bilder der Athene auf hohen Säulen errichten und be-
stellten dieselben bei Phidias und Alkamenes. Als sie fertig,
aber noch nicht an dem bestimmten Orte aufgerichtet waren,
gab das Volk der Statue des Alkamenes den Vorzug. Allein
das Urtheil schlug plötzlich allgemein zu Gunsten des Phidias
um, als beide Statuen wirklich oben auf den Säulen standen.
Ob die Statue des Phidias wirklich geöffnete Lippen, aufge-
blasene Nasenlöcher hatte, wie Tzetzes sagt, mag hier uner-
örtert bleiben. Es genügt zu wissen, dass einzelne Theile,
die früher fehlerhaft erschienen waren, durch den veränderten
Standpunkt sich dem Ganzen harmonisch einfügten, und dass
dies eine Folge der richtigen Beobachtung der optischen und
perspectivischen Gesetze war. Es ist eine anerkannte That-
sache, dass an den griechischen Tempeln die Ecksäulen stär-
ker sind, als die mittleren, weil die Masse des sie umgeben-
den Lichtes die wirkliche Stärke für den Augenschein vermin-
dert. Nach demselben Gesetze verlangt auch eine im Freien
aufgestellte Statue, um nicht mager zu erscheinen, eine grös-
sere Fülle, als für einen geschlossenen Raum erforderlich ist.
Eine Statue auf hoher Säule muss, auch wenn sie gradaus
blicken soll, wegen des tieferen Standpunktes des Beschauers,
den Kopf etwas unterwärts neigen. Bei kolossalen Figuren
muss das Grössenverhältniss der oberen Theile wachsen, um
sich mit den dem Auge näher stehenden Theilen ins Gleichge-
wicht zu setzen. Dass Phidias solche und ähnliche Verhält-
nisse bis ins Einzelne zu berücksichtigen wusste, lehrt uns
nun eben jene Erzählung des Tzetzes. Will man gegen die-
selbe geltend machen, dass, was der Lehrer gewusst, auch
der Schüler bei ihm gelernt haben müsse, so ist dieser Grund
um so weniger stichhaltig, als Feinheiten dieser Art sich nicht
in wenige, leicht erkennbare allgemeine Regeln zusammenfassen
lassen, sondern sich jedesmal nach den Bedürfnissen des ein-
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/208>, abgerufen am 22.11.2024.
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