lungen, welche die reinste körperliche Schönheit in durchaus selbstständiger Weise zu entfalten erlauben, nicht dieselbe einer rein geistigen Idee unterzuordnen verlangen. Wie aber? das Ideal der Hera, ist es nicht Polyklet, dem wir das- selbe verdanken? ist es nicht ein Ideal, auf welches Beschrän- kungen, wie sie Quintilian dem Polyklet gegenüber macht: deest pondus, auctoritatem deorum non explevisse, keine An- wendung finden? Allerdings, und ich will den Widerspruch nicht leugnen, in dem sich hier die Zeugnisse des Alterthums und, auf dieselben gestützt, auch wir uns zu befinden schei- nen. Allein dennoch ist er nicht gross genug, um alles bisher Gesagte umzustossen. Wir finden in den Urtheilen der Alten Polyklet häufig dem Phidias zur Seite oder gegenüber gestellt. Bei Phidias herrschte die Gewalt der Idee überall, und je höher die Idee, desto mehr war das Werk davon erfüllt, wäh- rend in minder erhabenen Aufgaben der Künstler sich sogar mit geringerem Erfolge bewegte. Das Umgekehrte ist bei Po- lyklet der Fall. Von dem rein Menschlichen ausgehend blieb seine Kunst, wenn auch im schönsten Sinne menschlich; und nur ausnahmsweise ist es ihm gelungen, sich bis zur Idee der Gottheit zu erheben und ihr die ihrer Würde entsprechende Gestalt zu verleihen. Die Hera des Polyklet lehrt uns daher nur, dass auch eine, ich möchte sagen, kritisch-reflectirende Kunst in ihrer schönsten Entfaltung sich wohl zuweilen zu einer freien idealen Production erheben kann, keineswegs aber, dass es ihr gegeben ist, diese Höhe stets und überall zu er- reichen.
Es mag hier noch eine andere Erwägung Platz finden: ob nicht das Ideal der Hera dasjenige ist, welches unter allen Götteridealen der ganzen Kunstrichtung des Polyklet noch am verwandtesten ist. Es ist das Ideal der Weiblichkeit in ihrer maassvollsten Entfaltung. Die Göttin ist nicht Jungfrau, nichr Mutter, sie ist Frau, Gattin, und zwar im strengsten, ernste- sten Sinne, sich gleich bewusst ihrer Pflichten, wie ihret Rechte, und deshalb von fast herbem Charakter. Zwar ist sie auch Königin und Gemahlin des Zeus, jedoch an Gewalt und Macht ihm nicht gewachsen, Ehrfurcht gebietend vielmehr durch den Ernst der Weiblichkeit, als durch wirkliche Kraft: also ein Musterbild der ehrbarsten Würdigkeit und der reinsten Frauenschönheit.
lungen, welche die reinste körperliche Schönheit in durchaus selbstständiger Weise zu entfalten erlauben, nicht dieselbe einer rein geistigen Idee unterzuordnen verlangen. Wie aber? das Ideal der Hera, ist es nicht Polyklet, dem wir das- selbe verdanken? ist es nicht ein Ideal, auf welches Beschrän- kungen, wie sie Quintilian dem Polyklet gegenüber macht: deest pondus, auctoritatem deorum non explevisse, keine An- wendung finden? Allerdings, und ich will den Widerspruch nicht leugnen, in dem sich hier die Zeugnisse des Alterthums und, auf dieselben gestützt, auch wir uns zu befinden schei- nen. Allein dennoch ist er nicht gross genug, um alles bisher Gesagte umzustossen. Wir finden in den Urtheilen der Alten Polyklet häufig dem Phidias zur Seite oder gegenüber gestellt. Bei Phidias herrschte die Gewalt der Idee überall, und je höher die Idee, desto mehr war das Werk davon erfüllt, wäh- rend in minder erhabenen Aufgaben der Künstler sich sogar mit geringerem Erfolge bewegte. Das Umgekehrte ist bei Po- lyklet der Fall. Von dem rein Menschlichen ausgehend blieb seine Kunst, wenn auch im schönsten Sinne menschlich; und nur ausnahmsweise ist es ihm gelungen, sich bis zur Idee der Gottheit zu erheben und ihr die ihrer Würde entsprechende Gestalt zu verleihen. Die Hera des Polyklet lehrt uns daher nur, dass auch eine, ich möchte sagen, kritisch-reflectirende Kunst in ihrer schönsten Entfaltung sich wohl zuweilen zu einer freien idealen Production erheben kann, keineswegs aber, dass es ihr gegeben ist, diese Höhe stets und überall zu er- reichen.
Es mag hier noch eine andere Erwägung Platz finden: ob nicht das Ideal der Hera dasjenige ist, welches unter allen Götteridealen der ganzen Kunstrichtung des Polyklet noch am verwandtesten ist. Es ist das Ideal der Weiblichkeit in ihrer maassvollsten Entfaltung. Die Göttin ist nicht Jungfrau, nichr Mutter, sie ist Frau, Gattin, und zwar im strengsten, ernste- sten Sinne, sich gleich bewusst ihrer Pflichten, wie ihret Rechte, und deshalb von fast herbem Charakter. Zwar ist sie auch Königin und Gemahlin des Zeus, jedoch an Gewalt und Macht ihm nicht gewachsen, Ehrfurcht gebietend vielmehr durch den Ernst der Weiblichkeit, als durch wirkliche Kraft: also ein Musterbild der ehrbarsten Würdigkeit und der reinsten Frauenschönheit.
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lungen, welche die reinste körperliche Schönheit in durchaus
selbstständiger Weise zu entfalten erlauben, nicht dieselbe
einer rein geistigen Idee unterzuordnen verlangen. Wie aber?
das Ideal der Hera, ist es nicht Polyklet, dem wir das-
selbe verdanken? ist es nicht ein Ideal, auf welches Beschrän-
kungen, wie sie Quintilian dem Polyklet gegenüber macht:
deest pondus, auctoritatem deorum non explevisse, keine An-
wendung finden? Allerdings, und ich will den Widerspruch
nicht leugnen, in dem sich hier die Zeugnisse des Alterthums
und, auf dieselben gestützt, auch wir uns zu befinden schei-
nen. Allein dennoch ist er nicht gross genug, um alles bisher
Gesagte umzustossen. Wir finden in den Urtheilen der Alten
Polyklet häufig dem Phidias zur Seite oder gegenüber gestellt.
Bei Phidias herrschte die Gewalt der Idee überall, und je
höher die Idee, desto mehr war das Werk davon erfüllt, wäh-
rend in minder erhabenen Aufgaben der Künstler sich sogar
mit geringerem Erfolge bewegte. Das Umgekehrte ist bei Po-
lyklet der Fall. Von dem rein Menschlichen ausgehend blieb
seine Kunst, wenn auch im schönsten Sinne menschlich; und
nur ausnahmsweise ist es ihm gelungen, sich bis zur Idee der
Gottheit zu erheben und ihr die ihrer Würde entsprechende
Gestalt zu verleihen. Die Hera des Polyklet lehrt uns daher
nur, dass auch eine, ich möchte sagen, kritisch-reflectirende
Kunst in ihrer schönsten Entfaltung sich wohl zuweilen zu
einer freien idealen Production erheben kann, keineswegs aber,
dass es ihr gegeben ist, diese Höhe stets und überall zu er-
reichen.
Es mag hier noch eine andere Erwägung Platz finden:
ob nicht das Ideal der Hera dasjenige ist, welches unter allen
Götteridealen der ganzen Kunstrichtung des Polyklet noch am
verwandtesten ist. Es ist das Ideal der Weiblichkeit in ihrer
maassvollsten Entfaltung. Die Göttin ist nicht Jungfrau, nichr
Mutter, sie ist Frau, Gattin, und zwar im strengsten, ernste-
sten Sinne, sich gleich bewusst ihrer Pflichten, wie ihret
Rechte, und deshalb von fast herbem Charakter. Zwar ist sie
auch Königin und Gemahlin des Zeus, jedoch an Gewalt und
Macht ihm nicht gewachsen, Ehrfurcht gebietend vielmehr
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/242>, abgerufen am 22.11.2024.
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