Im Allgemeinen bleibt also doch das Urtheil des Quinti- lian stehen, dass Polyklet ausgezeichneter in der Bildung der Menschen, als der Götter war, dass ihm für diese pondus, die Kraft, Gewaltiges zu schaffen, abging. Eben so wahr bleibt es, dass der Kreis seiner Darstellungen eng gezogen war, dass er mit Ausschliesslichkeit jugendlichen Bildungen sich zu- neigte, und dass ihm jene vielgestaltige lebendige Naturwahr- heit fehlte, welche Myron der Wirklichkeit abgelauscht hatte. Wenn trotzdem das Alterthum seinen Ruhm neben dem des Phidias verkündigt, so dürfen wir eine zweite Eigenschaft nicht übersehen, welche Quintilian ihm neben dem decor aus- drücklich beilegt, diligentia, Sorgsamkeit in der Ausführung. Zur Erläuterung dieses Lobes kann uns ein Ausspruch dienen, welcher dem Polyklet selbst in den Mund gelegt wird, dass nemlich das Werk dann am schwersten werde, wenn der Thon (das Thonmodell) bis zum Nagel (bis zur Bearbeitung mit dem Nagel der Hand) gekommen sei 1). Das Lob des Quintilian bezieht sich also auf die feinste Vollendung und Durchbildung, welche, nicht zufrieden, alle Verhältnisse aufs genaueste be- stimmt zu haben, auch auf die reinste Darstellung jeder Form im Einzelnen bedacht ist. Einer solchen Durchführung ist, wie wir schon früher bemerkt haben, der von Polyklet vorzugs- weise gewählte Stoff, die Bronze, noch mehr als der Marmor, günstig. Die wenigen guten Bronzen, welche uns erhalten sind, genügen vollkommen, um uns die Wahrheit dieses Satzes erkennen zu lassen. Ich erinnere Beispiels halber an den Dornauszieher des Kapitols, und wir werden es begreiflich fin- den, wie die zwei würfelspielenden Knaben des Polyklet von Vielen als das vollendetste Werk des Alterthums gepriesen werden konnten.
Schliesslich wird eine Warnung nicht an unrechter Stelle sein, die Eigenschaft der Sorgsamkeit nicht in der Richtung zu deuten, wie wir sie später an Kallimachos kennen lernen werden, nemlich als eine in das Kleinliche übergehende Sorg- falt und gesuchte Zierlichkeit. Die Gefahr, dass es geschehe, liegt um so näher, als Polyklet vielfach als der Repräsentant einer specifisch zierlichen und anmuthigen Kunst hingestellt worden ist, ganz im Gegensatz zu dem oben angeführten Ur-
1) Plut. Symp. II, 3; de profect. in virt. c. 17.
Im Allgemeinen bleibt also doch das Urtheil des Quinti- lian stehen, dass Polyklet ausgezeichneter in der Bildung der Menschen, als der Götter war, dass ihm für diese pondus, die Kraft, Gewaltiges zu schaffen, abging. Eben so wahr bleibt es, dass der Kreis seiner Darstellungen eng gezogen war, dass er mit Ausschliesslichkeit jugendlichen Bildungen sich zu- neigte, und dass ihm jene vielgestaltige lebendige Naturwahr- heit fehlte, welche Myron der Wirklichkeit abgelauscht hatte. Wenn trotzdem das Alterthum seinen Ruhm neben dem des Phidias verkündigt, so dürfen wir eine zweite Eigenschaft nicht übersehen, welche Quintilian ihm neben dem decor aus- drücklich beilegt, diligentia, Sorgsamkeit in der Ausführung. Zur Erläuterung dieses Lobes kann uns ein Ausspruch dienen, welcher dem Polyklet selbst in den Mund gelegt wird, dass nemlich das Werk dann am schwersten werde, wenn der Thon (das Thonmodell) bis zum Nagel (bis zur Bearbeitung mit dem Nagel der Hand) gekommen sei 1). Das Lob des Quintilian bezieht sich also auf die feinste Vollendung und Durchbildung, welche, nicht zufrieden, alle Verhältnisse aufs genaueste be- stimmt zu haben, auch auf die reinste Darstellung jeder Form im Einzelnen bedacht ist. Einer solchen Durchführung ist, wie wir schon früher bemerkt haben, der von Polyklet vorzugs- weise gewählte Stoff, die Bronze, noch mehr als der Marmor, günstig. Die wenigen guten Bronzen, welche uns erhalten sind, genügen vollkommen, um uns die Wahrheit dieses Satzes erkennen zu lassen. Ich erinnere Beispiels halber an den Dornauszieher des Kapitols, und wir werden es begreiflich fin- den, wie die zwei würfelspielenden Knaben des Polyklet von Vielen als das vollendetste Werk des Alterthums gepriesen werden konnten.
Schliesslich wird eine Warnung nicht an unrechter Stelle sein, die Eigenschaft der Sorgsamkeit nicht in der Richtung zu deuten, wie wir sie später an Kallimachos kennen lernen werden, nemlich als eine in das Kleinliche übergehende Sorg- falt und gesuchte Zierlichkeit. Die Gefahr, dass es geschehe, liegt um so näher, als Polyklet vielfach als der Repräsentant einer specifisch zierlichen und anmuthigen Kunst hingestellt worden ist, ganz im Gegensatz zu dem oben angeführten Ur-
1) Plut. Symp. II, 3; de profect. in virt. c. 17.
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Menschen, als der Götter war, dass ihm für diese pondus, die
Kraft, Gewaltiges zu schaffen, abging. Eben so wahr bleibt
es, dass der Kreis seiner Darstellungen eng gezogen war,
dass er mit Ausschliesslichkeit jugendlichen Bildungen sich zu-
neigte, und dass ihm jene vielgestaltige lebendige Naturwahr-
heit fehlte, welche Myron der Wirklichkeit abgelauscht hatte.
Wenn trotzdem das Alterthum seinen Ruhm neben dem des
Phidias verkündigt, so dürfen wir eine zweite Eigenschaft
nicht übersehen, welche Quintilian ihm neben dem decor aus-
drücklich beilegt, diligentia, Sorgsamkeit in der Ausführung.
Zur Erläuterung dieses Lobes kann uns ein Ausspruch dienen,
welcher dem Polyklet selbst in den Mund gelegt wird, dass
nemlich das Werk dann am schwersten werde, wenn der Thon
(das Thonmodell) bis zum Nagel (bis zur Bearbeitung mit dem
Nagel der Hand) gekommen sei 1). Das Lob des Quintilian
bezieht sich also auf die feinste Vollendung und Durchbildung,
welche, nicht zufrieden, alle Verhältnisse aufs genaueste be-
stimmt zu haben, auch auf die reinste Darstellung jeder Form
im Einzelnen bedacht ist. Einer solchen Durchführung ist, wie
wir schon früher bemerkt haben, der von Polyklet vorzugs-
weise gewählte Stoff, die Bronze, noch mehr als der Marmor,
günstig. Die wenigen guten Bronzen, welche uns erhalten
sind, genügen vollkommen, um uns die Wahrheit dieses Satzes
erkennen zu lassen. Ich erinnere Beispiels halber an den
Dornauszieher des Kapitols, und wir werden es begreiflich fin-
den, wie die zwei würfelspielenden Knaben des Polyklet von
Vielen als das vollendetste Werk des Alterthums gepriesen
werden konnten.
Schliesslich wird eine Warnung nicht an unrechter Stelle
sein, die Eigenschaft der Sorgsamkeit nicht in der Richtung
zu deuten, wie wir sie später an Kallimachos kennen lernen
werden, nemlich als eine in das Kleinliche übergehende Sorg-
falt und gesuchte Zierlichkeit. Die Gefahr, dass es geschehe,
liegt um so näher, als Polyklet vielfach als der Repräsentant
einer specifisch zierlichen und anmuthigen Kunst hingestellt
worden ist, ganz im Gegensatz zu dem oben angeführten Ur-
1) Plut. Symp. II, 3; de profect. in virt. c. 17.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/243>, abgerufen am 22.11.2024.
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