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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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Athen. Wo ein gewaltiger Geist eine neue Bahn gebro-
chen hat, da werden wir fast immer der Erscheinung begeg-
nen, dass die jüngeren Zeitgenossen und nächsten Nachfolger
in diese Bahn hineingezogen werden, dem bewältigenden Ein-
flusse des grossen Vorbildes sich nicht zu entziehen vermögen.
Attika hatte am Anfange dieser Periode fast gleichzeitig zwei
Geister erzeugt, welche einer und derselben Kunst nach zwei
verschiedenen Richtungen hin durchaus neue Grundlagen ga-
ben: Phidias und Myron. Vorwurf der Kunst bei dem einen
vor das Löchste geistige, bei dem anderen das höchste körper-
liche Leben. Aber obwohl sonach ihre Bestrebungen auf zwei
verschiedene Punkte gerichtet waren, so hatten doch Beide
wieder das miteinander gemeinsam, dass sie durchaus nach
Idealität strebten. Beide schaffen ihre Gestalten von innen
heraus nach einer Idee; die Formen des Körpers sind ihnen
nur Träger derselben. Aeusseren Reiz und Anmuth als für
sich bestehende Vorzüge kennen sie nicht: die Schönheit, nach
welcher sie allein streben, ist durch das Wesen jener Idee
streng begrenzt und bedingt. In derselben Richtung aber be-
wegt sich die gesammte attische Kunst dieser Periode; und
alle Eigenthümlichkeiten, welche uns von den einzelnen Künst-
lern in derselben gemeldet werden, zeigen sich fast nur als
Ausflüsse jener beiden Anfangspunkte, von denen meist einer
allein, zuweilen auch beide zugleich auf den einzelnen Künst-
ler einwirkten. Bestrebungen, wie wir sie z. B. bei Kallima-
chos gefunden haben, können in ihrer Vereinzelung diesen
allgemeinen Satz eher bestätigen, als umstossen. Am deut-
lichsten zeigt sich der Einfluss des Phidias: Alkamenes, Ago-
rakritos, Kolotes, Theokosmos, Paeonios stehen in den engsten
Beziehungen zu ihm; sie sind seine Gehülfen bei seinen aus-
gedehnten Arbeiten; und wiederum werden sie bei ihren eige-
nen Schöpfungen von ihm mit Rath und That in einer Weise
unterstützt, dass die Nachwelt über die Urheber einzelner
Werke zweifelhaft werden konnte. Noch nach der hundert-
sten Olympiade scheint sich dieser Einfluss selbst über die
Grenzen Attikas erstreckt zu haben: Damophon aus Messene
schliesst sich der attischen Schule, sowohl in Betreff der aus-
schliesslichen Behandlung religiöser Gegenstände, als hinsicht-
lich der Technik an: er giebt dem Marmor, welcher seit den
umfangreichen Tempelsculpturen in Attika immer mehr in Auf-

Athen. Wo ein gewaltiger Geist eine neue Bahn gebro-
chen hat, da werden wir fast immer der Erscheinung begeg-
nen, dass die jüngeren Zeitgenossen und nächsten Nachfolger
in diese Bahn hineingezogen werden, dem bewältigenden Ein-
flusse des grossen Vorbildes sich nicht zu entziehen vermögen.
Attika hatte am Anfange dieser Periode fast gleichzeitig zwei
Geister erzeugt, welche einer und derselben Kunst nach zwei
verschiedenen Richtungen hin durchaus neue Grundlagen ga-
ben: Phidias und Myron. Vorwurf der Kunst bei dem einen
vor das Löchste geistige, bei dem anderen das höchste körper-
liche Leben. Aber obwohl sonach ihre Bestrebungen auf zwei
verschiedene Punkte gerichtet waren, so hatten doch Beide
wieder das miteinander gemeinsam, dass sie durchaus nach
Idealität strebten. Beide schaffen ihre Gestalten von innen
heraus nach einer Idee; die Formen des Körpers sind ihnen
nur Träger derselben. Aeusseren Reiz und Anmuth als für
sich bestehende Vorzüge kennen sie nicht: die Schönheit, nach
welcher sie allein streben, ist durch das Wesen jener Idee
streng begrenzt und bedingt. In derselben Richtung aber be-
wegt sich die gesammte attische Kunst dieser Periode; und
alle Eigenthümlichkeiten, welche uns von den einzelnen Künst-
lern in derselben gemeldet werden, zeigen sich fast nur als
Ausflüsse jener beiden Anfangspunkte, von denen meist einer
allein, zuweilen auch beide zugleich auf den einzelnen Künst-
ler einwirkten. Bestrebungen, wie wir sie z. B. bei Kallima-
chos gefunden haben, können in ihrer Vereinzelung diesen
allgemeinen Satz eher bestätigen, als umstossen. Am deut-
lichsten zeigt sich der Einfluss des Phidias: Alkamenes, Ago-
rakritos, Kolotes, Theokosmos, Paeonios stehen in den engsten
Beziehungen zu ihm; sie sind seine Gehülfen bei seinen aus-
gedehnten Arbeiten; und wiederum werden sie bei ihren eige-
nen Schöpfungen von ihm mit Rath und That in einer Weise
unterstützt, dass die Nachwelt über die Urheber einzelner
Werke zweifelhaft werden konnte. Noch nach der hundert-
sten Olympiade scheint sich dieser Einfluss selbst über die
Grenzen Attikas erstreckt zu haben: Damophon aus Messene
schliesst sich der attischen Schule, sowohl in Betreff der aus-
schliesslichen Behandlung religiöser Gegenstände, als hinsicht-
lich der Technik an: er giebt dem Marmor, welcher seit den
umfangreichen Tempelsculpturen in Attika immer mehr in Auf-

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[301/0314] Athen. Wo ein gewaltiger Geist eine neue Bahn gebro- chen hat, da werden wir fast immer der Erscheinung begeg- nen, dass die jüngeren Zeitgenossen und nächsten Nachfolger in diese Bahn hineingezogen werden, dem bewältigenden Ein- flusse des grossen Vorbildes sich nicht zu entziehen vermögen. Attika hatte am Anfange dieser Periode fast gleichzeitig zwei Geister erzeugt, welche einer und derselben Kunst nach zwei verschiedenen Richtungen hin durchaus neue Grundlagen ga- ben: Phidias und Myron. Vorwurf der Kunst bei dem einen vor das Löchste geistige, bei dem anderen das höchste körper- liche Leben. Aber obwohl sonach ihre Bestrebungen auf zwei verschiedene Punkte gerichtet waren, so hatten doch Beide wieder das miteinander gemeinsam, dass sie durchaus nach Idealität strebten. Beide schaffen ihre Gestalten von innen heraus nach einer Idee; die Formen des Körpers sind ihnen nur Träger derselben. Aeusseren Reiz und Anmuth als für sich bestehende Vorzüge kennen sie nicht: die Schönheit, nach welcher sie allein streben, ist durch das Wesen jener Idee streng begrenzt und bedingt. In derselben Richtung aber be- wegt sich die gesammte attische Kunst dieser Periode; und alle Eigenthümlichkeiten, welche uns von den einzelnen Künst- lern in derselben gemeldet werden, zeigen sich fast nur als Ausflüsse jener beiden Anfangspunkte, von denen meist einer allein, zuweilen auch beide zugleich auf den einzelnen Künst- ler einwirkten. Bestrebungen, wie wir sie z. B. bei Kallima- chos gefunden haben, können in ihrer Vereinzelung diesen allgemeinen Satz eher bestätigen, als umstossen. Am deut- lichsten zeigt sich der Einfluss des Phidias: Alkamenes, Ago- rakritos, Kolotes, Theokosmos, Paeonios stehen in den engsten Beziehungen zu ihm; sie sind seine Gehülfen bei seinen aus- gedehnten Arbeiten; und wiederum werden sie bei ihren eige- nen Schöpfungen von ihm mit Rath und That in einer Weise unterstützt, dass die Nachwelt über die Urheber einzelner Werke zweifelhaft werden konnte. Noch nach der hundert- sten Olympiade scheint sich dieser Einfluss selbst über die Grenzen Attikas erstreckt zu haben: Damophon aus Messene schliesst sich der attischen Schule, sowohl in Betreff der aus- schliesslichen Behandlung religiöser Gegenstände, als hinsicht- lich der Technik an: er giebt dem Marmor, welcher seit den umfangreichen Tempelsculpturen in Attika immer mehr in Auf-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/314>, abgerufen am 22.11.2024.