fluss des Zeuxis um die 90ste Olympiade wirklich stattfand. Damals löste sich auch die Malerei gänzlich von der Architek- tur los; und der Ruhm der Künstler knüpft sich nicht mehr ausschliesslich an Wandmalereien, sondern vorzugsweise an Staffeleibilder. So geschah es, dass in dem Nachbilden der sinnlichen, äusseren Natur die Malerei der Sculptur voranzu- eilen begann. Die Rückwirkung blieb nicht aus. Statt, wie bisher, das innere Wesen, aus dem Wesen des Organismus entwickelte vollkommene Gestalten zur Darstellung zu bringen, begann auch die Sculptur ihr Augenmerk auf die äussere Er- scheinung zu richten, nach dem Scheine der Wirklichkeit zu streben. Und damit uns das Wechselverhältniss zwischen den beiden Künsten recht augenscheinlich werde, so ist der erste Künstler, an welchem uns die neue Richtung mit Entschieden- heit entgegentritt, ein nicht minder ausgezeichneter Maler, als Bildhauer.
Vierter Abschnitt. Die griechische Kunst in ihrem Streben nach äusserer Wahrheit.
Euphranor.
Euphranor war vom Isthmos gebürtig und blühete von der Zeit bald nach Ol. 100 bis wenigstens zu den Jünglingsjahren Alexanders von Macedonien. Da er als Maler in engem Zu- sammenhange mit einer berühmten Schule steht, so lässt sich erst dort seine künstlerische Eigenthümlichkeit mehr im Ein- zelnen nachweisen und eine feste Ansicht über dieselbe be- gründen. Hier müssen einige einfache Andeutungen über den Charakter dieses bedeutenden Künstlers genügen. Bedeutend zeigt er sich zunächst durch seine Vielseitigkeit: er war Maler und Bildhauer, arbeitete in Metall und in Marmor, bildete Ko- losse und cisellirte Becher, schrieb Bücher über Symmetrie und Farben, "gelehrig und thätig vor allen, in jeder Art aus- gezeichet und von einem sich gleich bleibenden Verdienste", wie Plinius 1) sagt; Quintilian 2) vergleicht ihn eben wegen
1) 35, 128.
2) XII, 10, 12.
fluss des Zeuxis um die 90ste Olympiade wirklich stattfand. Damals löste sich auch die Malerei gänzlich von der Architek- tur los; und der Ruhm der Künstler knüpft sich nicht mehr ausschliesslich an Wandmalereien, sondern vorzugsweise an Staffeleibilder. So geschah es, dass in dem Nachbilden der sinnlichen, äusseren Natur die Malerei der Sculptur voranzu- eilen begann. Die Rückwirkung blieb nicht aus. Statt, wie bisher, das innere Wesen, aus dem Wesen des Organismus entwickelte vollkommene Gestalten zur Darstellung zu bringen, begann auch die Sculptur ihr Augenmerk auf die äussere Er- scheinung zu richten, nach dem Scheine der Wirklichkeit zu streben. Und damit uns das Wechselverhältniss zwischen den beiden Künsten recht augenscheinlich werde, so ist der erste Künstler, an welchem uns die neue Richtung mit Entschieden- heit entgegentritt, ein nicht minder ausgezeichneter Maler, als Bildhauer.
Vierter Abschnitt. Die griechische Kunst in ihrem Streben nach äusserer Wahrheit.
Euphranor.
Euphranor war vom Isthmos gebürtig und blühete von der Zeit bald nach Ol. 100 bis wenigstens zu den Jünglingsjahren Alexanders von Macedonien. Da er als Maler in engem Zu- sammenhange mit einer berühmten Schule steht, so lässt sich erst dort seine künstlerische Eigenthümlichkeit mehr im Ein- zelnen nachweisen und eine feste Ansicht über dieselbe be- gründen. Hier müssen einige einfache Andeutungen über den Charakter dieses bedeutenden Künstlers genügen. Bedeutend zeigt er sich zunächst durch seine Vielseitigkeit: er war Maler und Bildhauer, arbeitete in Metall und in Marmor, bildete Ko- losse und cisellirte Becher, schrieb Bücher über Symmetrie und Farben, „gelehrig und thätig vor allen, in jeder Art aus- gezeichet und von einem sich gleich bleibenden Verdienste”, wie Plinius 1) sagt; Quintilian 2) vergleicht ihn eben wegen
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fluss des Zeuxis um die 90ste Olympiade wirklich stattfand.
Damals löste sich auch die Malerei gänzlich von der Architek-
tur los; und der Ruhm der Künstler knüpft sich nicht mehr
ausschliesslich an Wandmalereien, sondern vorzugsweise an
Staffeleibilder. So geschah es, dass in dem Nachbilden der
sinnlichen, äusseren Natur die Malerei der Sculptur voranzu-
eilen begann. Die Rückwirkung blieb nicht aus. Statt, wie
bisher, das innere Wesen, aus dem Wesen des Organismus
entwickelte vollkommene Gestalten zur Darstellung zu bringen,
begann auch die Sculptur ihr Augenmerk auf die äussere Er-
scheinung zu richten, nach dem Scheine der Wirklichkeit zu
streben. Und damit uns das Wechselverhältniss zwischen den
beiden Künsten recht augenscheinlich werde, so ist der erste
Künstler, an welchem uns die neue Richtung mit Entschieden-
heit entgegentritt, ein nicht minder ausgezeichneter Maler, als
Bildhauer.
Vierter Abschnitt.
Die griechische Kunst in ihrem Streben nach äusserer
Wahrheit.
Euphranor.
Euphranor war vom Isthmos gebürtig und blühete von der
Zeit bald nach Ol. 100 bis wenigstens zu den Jünglingsjahren
Alexanders von Macedonien. Da er als Maler in engem Zu-
sammenhange mit einer berühmten Schule steht, so lässt sich
erst dort seine künstlerische Eigenthümlichkeit mehr im Ein-
zelnen nachweisen und eine feste Ansicht über dieselbe be-
gründen. Hier müssen einige einfache Andeutungen über den
Charakter dieses bedeutenden Künstlers genügen. Bedeutend
zeigt er sich zunächst durch seine Vielseitigkeit: er war Maler
und Bildhauer, arbeitete in Metall und in Marmor, bildete Ko-
losse und cisellirte Becher, schrieb Bücher über Symmetrie
und Farben, „gelehrig und thätig vor allen, in jeder Art aus-
gezeichet und von einem sich gleich bleibenden Verdienste”,
wie Plinius 1) sagt; Quintilian 2) vergleicht ihn eben wegen
1) 35, 128.
2) XII, 10, 12.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/327>, abgerufen am 22.11.2024.
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