seine Landsmannschaft mit ihr veranlasst werden. Ausserdem werden nur noch Bilder der Musen genannt, bei deren Dar- stellung sinnlicher Reiz jedenfalls nicht die Hauptsache war. Zartere Jünglingsgestalten kennen wir ebenfalls nur wenige, einen Eros, einen Dionysos und, diesem verwandt, den Kairos. Was wiegen aber diese gegen ganze Reihen von Statuen des Zeus, des Herakles, olympischer Sieger, gegen die Schaar von fündundzwanzig Reitern, gegen die vielen Bilder Alexanders? An diese schliessen sich ferner an: ein Poseidon, ein Apollo mit Hermes im Wettstreite, der Sonnengott auf einer Quadriga, der Apoxyomenos, einzelne Portraits. Daneben erscheinen als eine besondere Klasse die Thierbildungen: die Rosse der Rei- ter und der Wagen, das besonders berühmte ungezäumte; die Hunde bei der Jagd und dazu natürlich auch andere jagdbare Thiere, wie der zusammengestürzte Löwe zu Lampsakos. Ueberall bewegen wir uns hier unter Darstellungen, welche von denen seines Zeitgenossen Praxiteles durchaus verschieden sind, und uns daher verbieten, den Lysipp als einen dem Pra- xiteles verwandten Künstler aufzufassen.
Indem wir bisher in mehr negativer Weise das Wesen der lysippischen Kunst zu begrenzen versuchten, haben wir uns zu einer positiven Beurtheilung bereits den Weg gebahnt. Wir beginnen dieselbe mit einem Blicke auf den Entwickelungsgang des Künstlers. Zufolge der Angabe des Duris (bei Plinius 34, 61) soll Lysipp nicht Schüler eines anderen Künstlers, sondern ursprünglich Metallarbeiter (aerarius) gewesen sein und den Muth, sich in der bildenden Kunst zu versuchen, erst durch eine Antwort des Malers Eupompos gefasst haben, welcher die Frage, wen unter den Früheren er sich zum Vorbilde ge- nommen, dadurch beantwortet habe, dass er unter Hindeutung auf eine versammelte Volksmenge äusserte: die Natur selbst sei nachzuahmen, nicht ein Künstler. Lysipp war also Auto- didakt. Allein ein Reichthum von Musterwerken griechischer Kunst stand schon vor seiner Zeit vollendet da; ihrer Anschau- ung und ihrer Einwirkung vermochte er unmöglich sich gänz- lich zu entziehen. Darauf mag Varro 1) hindeuten wollen, wenn er sagt: nicht die schlechten Beispiele der Früheren, sondern ihr wahres künstlerisches Verdienst habe sich Lysipp
1) de l. l. IX, §. 18.
seine Landsmannschaft mit ihr veranlasst werden. Ausserdem werden nur noch Bilder der Musen genannt, bei deren Dar- stellung sinnlicher Reiz jedenfalls nicht die Hauptsache war. Zartere Jünglingsgestalten kennen wir ebenfalls nur wenige, einen Eros, einen Dionysos und, diesem verwandt, den Kairos. Was wiegen aber diese gegen ganze Reihen von Statuen des Zeus, des Herakles, olympischer Sieger, gegen die Schaar von fündundzwanzig Reitern, gegen die vielen Bilder Alexanders? An diese schliessen sich ferner an: ein Poseidon, ein Apollo mit Hermes im Wettstreite, der Sonnengott auf einer Quadriga, der Apoxyomenos, einzelne Portraits. Daneben erscheinen als eine besondere Klasse die Thierbildungen: die Rosse der Rei- ter und der Wagen, das besonders berühmte ungezäumte; die Hunde bei der Jagd und dazu natürlich auch andere jagdbare Thiere, wie der zusammengestürzte Löwe zu Lampsakos. Ueberall bewegen wir uns hier unter Darstellungen, welche von denen seines Zeitgenossen Praxiteles durchaus verschieden sind, und uns daher verbieten, den Lysipp als einen dem Pra- xiteles verwandten Künstler aufzufassen.
Indem wir bisher in mehr negativer Weise das Wesen der lysippischen Kunst zu begrenzen versuchten, haben wir uns zu einer positiven Beurtheilung bereits den Weg gebahnt. Wir beginnen dieselbe mit einem Blicke auf den Entwickelungsgang des Künstlers. Zufolge der Angabe des Duris (bei Plinius 34, 61) soll Lysipp nicht Schüler eines anderen Künstlers, sondern ursprünglich Metallarbeiter (aerarius) gewesen sein und den Muth, sich in der bildenden Kunst zu versuchen, erst durch eine Antwort des Malers Eupompos gefasst haben, welcher die Frage, wen unter den Früheren er sich zum Vorbilde ge- nommen, dadurch beantwortet habe, dass er unter Hindeutung auf eine versammelte Volksmenge äusserte: die Natur selbst sei nachzuahmen, nicht ein Künstler. Lysipp war also Auto- didakt. Allein ein Reichthum von Musterwerken griechischer Kunst stand schon vor seiner Zeit vollendet da; ihrer Anschau- ung und ihrer Einwirkung vermochte er unmöglich sich gänz- lich zu entziehen. Darauf mag Varro 1) hindeuten wollen, wenn er sagt: nicht die schlechten Beispiele der Früheren, sondern ihr wahres künstlerisches Verdienst habe sich Lysipp
1) de l. l. IX, §. 18.
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seine Landsmannschaft mit ihr veranlasst werden. Ausserdem
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stellung sinnlicher Reiz jedenfalls nicht die Hauptsache war.
Zartere Jünglingsgestalten kennen wir ebenfalls nur wenige,
einen Eros, einen Dionysos und, diesem verwandt, den Kairos.
Was wiegen aber diese gegen ganze Reihen von Statuen des
Zeus, des Herakles, olympischer Sieger, gegen die Schaar von
fündundzwanzig Reitern, gegen die vielen Bilder Alexanders?
An diese schliessen sich ferner an: ein Poseidon, ein Apollo
mit Hermes im Wettstreite, der Sonnengott auf einer Quadriga,
der Apoxyomenos, einzelne Portraits. Daneben erscheinen als
eine besondere Klasse die Thierbildungen: die Rosse der Rei-
ter und der Wagen, das besonders berühmte ungezäumte; die
Hunde bei der Jagd und dazu natürlich auch andere jagdbare
Thiere, wie der zusammengestürzte Löwe zu Lampsakos.
Ueberall bewegen wir uns hier unter Darstellungen, welche von
denen seines Zeitgenossen Praxiteles durchaus verschieden
sind, und uns daher verbieten, den Lysipp als einen dem Pra-
xiteles verwandten Künstler aufzufassen.
Indem wir bisher in mehr negativer Weise das Wesen der
lysippischen Kunst zu begrenzen versuchten, haben wir uns
zu einer positiven Beurtheilung bereits den Weg gebahnt. Wir
beginnen dieselbe mit einem Blicke auf den Entwickelungsgang
des Künstlers. Zufolge der Angabe des Duris (bei Plinius 34,
61) soll Lysipp nicht Schüler eines anderen Künstlers, sondern
ursprünglich Metallarbeiter (aerarius) gewesen sein und den
Muth, sich in der bildenden Kunst zu versuchen, erst durch
eine Antwort des Malers Eupompos gefasst haben, welcher
die Frage, wen unter den Früheren er sich zum Vorbilde ge-
nommen, dadurch beantwortet habe, dass er unter Hindeutung
auf eine versammelte Volksmenge äusserte: die Natur selbst
sei nachzuahmen, nicht ein Künstler. Lysipp war also Auto-
didakt. Allein ein Reichthum von Musterwerken griechischer
Kunst stand schon vor seiner Zeit vollendet da; ihrer Anschau-
ung und ihrer Einwirkung vermochte er unmöglich sich gänz-
lich zu entziehen. Darauf mag Varro 1) hindeuten wollen,
wenn er sagt: nicht die schlechten Beispiele der Früheren,
sondern ihr wahres künstlerisches Verdienst habe sich Lysipp
1) de l. l. IX, §. 18.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/383>, abgerufen am 22.11.2024.
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