noch den Ruhm der Vielseitigkeit bewahren. Selbst in den kostbaren Stoffen, in Gold und Elfenbein, deren Anwendung bei dem sinkenden Wohlstand der Staaten seltener werden musste, arbeiten ausnahmsweise Bryaxis und Leochares. Die grösste Ausdehnung gewinnt indessen in dieser Periode die Bildnerei in Marmor, ja sie fängt an, ein entschiedenes Uebergewicht über den Erzguss zu erlangen, welcher jedoch noch fortwäh- rend, und sogar mit technischer Virtuosität, z. B. von Sila- nion, ausgeübt wird. Umgekehrt verhält es sich in Sikyon: dort herrscht der Erzguss unbedingt. Von Lysipp kennen wir kein Werk in Marmor; unter den Werken seiner ganzen Schule aber lässt sich nur ein einziges sicher als in diesem Material ausgeführt nachweisen, ein Dionysos des Eutychides.
Schon früher haben wir uns gewöhnt, den Stoff eines Bildwerkes nicht als etwas rein Aeusserliches und Zufälliges zu betrachten, und vielmehr behauptet, dass vielfach durch ihn die ganze Behandlung der Form in ihrer äusseren Erschei- nung bedingt sei. Die Natur des Marmors nun, sein Farben- ton, seine Fügung, verleihen ihm eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Fleische des menschlichen Körpers, und mussten da- her in einer Zeit, welche über alle Mittel der Darstellung frei gebot, das Streben hervorrufen, durch den Soff selbst mit der Wirklichkeit zu wetteifern, geradezu Illusion zu bewirken. Und so finden wir es in der That bei den Attikern dieser Pe- riode, in scharf ausgesprochener Weise namentlich und zuerst bei Praxiteles. Jener sinnliche Reiz, jene Weichheit und Zart- heit der Oberfläche des Körpers, welche als ein Vorzug seiner Werke gerühmt werden, stehen mit seiner Vorliebe für den Marmor im engsten Zusammenhange. Doch mag uns die Mässigung und Milde, welche uns überall als ein Grundzug seines Charakters entgegentritt, eine Bürgschaft sein, dass er auch auf diesem Gebiete sich selbst bestimmte Schranken ge- zogen haben wird. Immer jedoch hatte er dem Geschlechte der Nachfolger und Nachahmer ein Beispiel gegeben, welches bei minderer Selbstbeherrschung auf Irrwege leiten musste und wirklich leitete. Kephisodot, der Sohn und Erbe seiner Kunst, wagte in seinem erotischen Symplegma den Versuch, den Be- schauer die Natur des Steines geradezu vergessen zu lassen und in die Täuschung zu versetzen, als sei, so zu sagen, das Kunstwerk selbst in Fleisch und Blut gebildet. Wir konnten
Brunn, Geschichte der griech. Künstler.28
noch den Ruhm der Vielseitigkeit bewahren. Selbst in den kostbaren Stoffen, in Gold und Elfenbein, deren Anwendung bei dem sinkenden Wohlstand der Staaten seltener werden musste, arbeiten ausnahmsweise Bryaxis und Leochares. Die grösste Ausdehnung gewinnt indessen in dieser Periode die Bildnerei in Marmor, ja sie fängt an, ein entschiedenes Uebergewicht über den Erzguss zu erlangen, welcher jedoch noch fortwäh- rend, und sogar mit technischer Virtuosität, z. B. von Sila- nion, ausgeübt wird. Umgekehrt verhält es sich in Sikyon: dort herrscht der Erzguss unbedingt. Von Lysipp kennen wir kein Werk in Marmor; unter den Werken seiner ganzen Schule aber lässt sich nur ein einziges sicher als in diesem Material ausgeführt nachweisen, ein Dionysos des Eutychides.
Schon früher haben wir uns gewöhnt, den Stoff eines Bildwerkes nicht als etwas rein Aeusserliches und Zufälliges zu betrachten, und vielmehr behauptet, dass vielfach durch ihn die ganze Behandlung der Form in ihrer äusseren Erschei- nung bedingt sei. Die Natur des Marmors nun, sein Farben- ton, seine Fügung, verleihen ihm eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Fleische des menschlichen Körpers, und mussten da- her in einer Zeit, welche über alle Mittel der Darstellung frei gebot, das Streben hervorrufen, durch den Soff selbst mit der Wirklichkeit zu wetteifern, geradezu Illusion zu bewirken. Und so finden wir es in der That bei den Attikern dieser Pe- riode, in scharf ausgesprochener Weise namentlich und zuerst bei Praxiteles. Jener sinnliche Reiz, jene Weichheit und Zart- heit der Oberfläche des Körpers, welche als ein Vorzug seiner Werke gerühmt werden, stehen mit seiner Vorliebe für den Marmor im engsten Zusammenhange. Doch mag uns die Mässigung und Milde, welche uns überall als ein Grundzug seines Charakters entgegentritt, eine Bürgschaft sein, dass er auch auf diesem Gebiete sich selbst bestimmte Schranken ge- zogen haben wird. Immer jedoch hatte er dem Geschlechte der Nachfolger und Nachahmer ein Beispiel gegeben, welches bei minderer Selbstbeherrschung auf Irrwege leiten musste und wirklich leitete. Kephisodot, der Sohn und Erbe seiner Kunst, wagte in seinem erotischen Symplegma den Versuch, den Be- schauer die Natur des Steines geradezu vergessen zu lassen und in die Täuschung zu versetzen, als sei, so zu sagen, das Kunstwerk selbst in Fleisch und Blut gebildet. Wir konnten
Brunn, Geschichte der griech. Künstler.28
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noch den Ruhm der Vielseitigkeit bewahren. Selbst in den
kostbaren Stoffen, in Gold und Elfenbein, deren Anwendung bei
dem sinkenden Wohlstand der Staaten seltener werden musste,
arbeiten ausnahmsweise Bryaxis und Leochares. Die grösste
Ausdehnung gewinnt indessen in dieser Periode die Bildnerei
in Marmor, ja sie fängt an, ein entschiedenes Uebergewicht
über den Erzguss zu erlangen, welcher jedoch noch fortwäh-
rend, und sogar mit technischer Virtuosität, z. B. von Sila-
nion, ausgeübt wird. Umgekehrt verhält es sich in Sikyon:
dort herrscht der Erzguss unbedingt. Von Lysipp kennen wir
kein Werk in Marmor; unter den Werken seiner ganzen Schule
aber lässt sich nur ein einziges sicher als in diesem Material
ausgeführt nachweisen, ein Dionysos des Eutychides.
Schon früher haben wir uns gewöhnt, den Stoff eines
Bildwerkes nicht als etwas rein Aeusserliches und Zufälliges
zu betrachten, und vielmehr behauptet, dass vielfach durch
ihn die ganze Behandlung der Form in ihrer äusseren Erschei-
nung bedingt sei. Die Natur des Marmors nun, sein Farben-
ton, seine Fügung, verleihen ihm eine gewisse Aehnlichkeit
mit dem Fleische des menschlichen Körpers, und mussten da-
her in einer Zeit, welche über alle Mittel der Darstellung frei
gebot, das Streben hervorrufen, durch den Soff selbst mit der
Wirklichkeit zu wetteifern, geradezu Illusion zu bewirken.
Und so finden wir es in der That bei den Attikern dieser Pe-
riode, in scharf ausgesprochener Weise namentlich und zuerst
bei Praxiteles. Jener sinnliche Reiz, jene Weichheit und Zart-
heit der Oberfläche des Körpers, welche als ein Vorzug seiner
Werke gerühmt werden, stehen mit seiner Vorliebe für den
Marmor im engsten Zusammenhange. Doch mag uns die
Mässigung und Milde, welche uns überall als ein Grundzug
seines Charakters entgegentritt, eine Bürgschaft sein, dass er
auch auf diesem Gebiete sich selbst bestimmte Schranken ge-
zogen haben wird. Immer jedoch hatte er dem Geschlechte
der Nachfolger und Nachahmer ein Beispiel gegeben, welches
bei minderer Selbstbeherrschung auf Irrwege leiten musste und
wirklich leitete. Kephisodot, der Sohn und Erbe seiner Kunst,
wagte in seinem erotischen Symplegma den Versuch, den Be-
schauer die Natur des Steines geradezu vergessen zu lassen
und in die Täuschung zu versetzen, als sei, so zu sagen, das
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/446>, abgerufen am 24.11.2024.
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