angeben können, wenn sie in einer früheren, nicht in seiner eigenen Zeit gelebt hätten. Denn ihre Namen waren nur dem Haufen gewöhnlicher Kunstbeschauer nicht bekannt; hätten sie dagegen zu Plinius Zeit ein so staunenswerthes Werk ge- liefert, so mussten gerade ihre Namen noch in dem Munde der Zeitgenossen leben. Die Worte des Plinius sagen also keineswegs aus, dass der Laokoon ein Werk aus der Zeit des Titus sei. Gewiss aber würde Plinius, wenn es der Fall gewesen, dies in sehr bestimmter Weise anzugeben nicht unterlassen haben, wie er z. B. bei Gelegenheit des neroni- schen Kolosses den Künstler desselben, Zenodoros, noch aus- drücklich seinen Zeitgenossen und "den Alten" ebenbürtig nennt, und selbst bei Künstlern der augusteischen Epoche gern irgend etwas von den besonderen Lebensumständen er- wähnt. Wären aber auch seine Worte noch zweideutiger, als sie es in der That sind, so würde doch die Entscheidung für die ältere Zeit der Diadochenherrschaft ausfallen müssen, so- bald wir uns erinnern, dass von allen uns bekannten Künst- lern keiner überhaupt bis zur augusteischen Epoche heran- reicht. Die Meister des Laokoon aber nach dem Verblühen der rhodischen Kunstschule, nach dem Verluste der politi- schen Selbstständigkeit ihres Vaterlandes urplötzlich erstehen zu lassen, das mag verantworten, wer da will.
Doch wir verlassen dieses Feld von Untersuchungen, wel- che durch Spitzfindigkeiten einen klaren Blick in die Sachlage mehr erschwert als erleichtert haben, und wenden uns dem Werke selbst zu, um, zunächst unbekümmert um den kunst- geschichtlichen Zusammenhang, uns eine bestimmte Erkennt- niss von seinem künstlerischen Werthe zu verschaffen.
Gewöhnlich wird der Beschauer schon beim ersten An- blicke so sehr von der Tragik des Gegenstandes gefesselt und in Anspruch genommen, dass er sich selten einen hinlänglich unbefangenen Blick bewahrt, um das Kunstwerk in seinen übrigen Beziehungen richtig und vorurtheilsfrei zu würdigen. Alle Eigenthümlichkeiten der künstlerischen Behandlung und Darstellung pflegen dann als in der besonderen Natur des Ge- genstandes begründet kurz abgefertigt zu werden. Um nicht in denselben Fehler zu verfallen, gehen wir den umgekehrten Weg und suchen uns dem Kunstwerke zunächst in seinem äusseren Erscheinen und in seinen einzelnen Theilen zu nähern.
angeben können, wenn sie in einer früheren, nicht in seiner eigenen Zeit gelebt hätten. Denn ihre Namen waren nur dem Haufen gewöhnlicher Kunstbeschauer nicht bekannt; hätten sie dagegen zu Plinius Zeit ein so staunenswerthes Werk ge- liefert, so mussten gerade ihre Namen noch in dem Munde der Zeitgenossen leben. Die Worte des Plinius sagen also keineswegs aus, dass der Laokoon ein Werk aus der Zeit des Titus sei. Gewiss aber würde Plinius, wenn es der Fall gewesen, dies in sehr bestimmter Weise anzugeben nicht unterlassen haben, wie er z. B. bei Gelegenheit des neroni- schen Kolosses den Künstler desselben, Zenodoros, noch aus- drücklich seinen Zeitgenossen und „den Alten” ebenbürtig nennt, und selbst bei Künstlern der augusteischen Epoche gern irgend etwas von den besonderen Lebensumständen er- wähnt. Wären aber auch seine Worte noch zweideutiger, als sie es in der That sind, so würde doch die Entscheidung für die ältere Zeit der Diadochenherrschaft ausfallen müssen, so- bald wir uns erinnern, dass von allen uns bekannten Künst- lern keiner überhaupt bis zur augusteischen Epoche heran- reicht. Die Meister des Laokoon aber nach dem Verblühen der rhodischen Kunstschule, nach dem Verluste der politi- schen Selbstständigkeit ihres Vaterlandes urplötzlich erstehen zu lassen, das mag verantworten, wer da will.
Doch wir verlassen dieses Feld von Untersuchungen, wel- che durch Spitzfindigkeiten einen klaren Blick in die Sachlage mehr erschwert als erleichtert haben, und wenden uns dem Werke selbst zu, um, zunächst unbekümmert um den kunst- geschichtlichen Zusammenhang, uns eine bestimmte Erkennt- niss von seinem künstlerischen Werthe zu verschaffen.
Gewöhnlich wird der Beschauer schon beim ersten An- blicke so sehr von der Tragik des Gegenstandes gefesselt und in Anspruch genommen, dass er sich selten einen hinlänglich unbefangenen Blick bewahrt, um das Kunstwerk in seinen übrigen Beziehungen richtig und vorurtheilsfrei zu würdigen. Alle Eigenthümlichkeiten der künstlerischen Behandlung und Darstellung pflegen dann als in der besonderen Natur des Ge- genstandes begründet kurz abgefertigt zu werden. Um nicht in denselben Fehler zu verfallen, gehen wir den umgekehrten Weg und suchen uns dem Kunstwerke zunächst in seinem äusseren Erscheinen und in seinen einzelnen Theilen zu nähern.
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angeben können, wenn sie in einer früheren, nicht in seiner
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Haufen gewöhnlicher Kunstbeschauer nicht bekannt; hätten
sie dagegen zu Plinius Zeit ein so staunenswerthes Werk ge-
liefert, so mussten gerade ihre Namen noch in dem Munde
der Zeitgenossen leben. Die Worte des Plinius sagen also
keineswegs aus, dass der Laokoon ein Werk aus der Zeit
des Titus sei. Gewiss aber würde Plinius, wenn es der Fall
gewesen, dies in sehr bestimmter Weise anzugeben nicht
unterlassen haben, wie er z. B. bei Gelegenheit des neroni-
schen Kolosses den Künstler desselben, Zenodoros, noch aus-
drücklich seinen Zeitgenossen und „den Alten” ebenbürtig
nennt, und selbst bei Künstlern der augusteischen Epoche
gern irgend etwas von den besonderen Lebensumständen er-
wähnt. Wären aber auch seine Worte noch zweideutiger, als
sie es in der That sind, so würde doch die Entscheidung für
die ältere Zeit der Diadochenherrschaft ausfallen müssen, so-
bald wir uns erinnern, dass von allen uns bekannten Künst-
lern keiner überhaupt bis zur augusteischen Epoche heran-
reicht. Die Meister des Laokoon aber nach dem Verblühen
der rhodischen Kunstschule, nach dem Verluste der politi-
schen Selbstständigkeit ihres Vaterlandes urplötzlich erstehen
zu lassen, das mag verantworten, wer da will.
Doch wir verlassen dieses Feld von Untersuchungen, wel-
che durch Spitzfindigkeiten einen klaren Blick in die Sachlage
mehr erschwert als erleichtert haben, und wenden uns dem
Werke selbst zu, um, zunächst unbekümmert um den kunst-
geschichtlichen Zusammenhang, uns eine bestimmte Erkennt-
niss von seinem künstlerischen Werthe zu verschaffen.
Gewöhnlich wird der Beschauer schon beim ersten An-
blicke so sehr von der Tragik des Gegenstandes gefesselt und
in Anspruch genommen, dass er sich selten einen hinlänglich
unbefangenen Blick bewahrt, um das Kunstwerk in seinen
übrigen Beziehungen richtig und vorurtheilsfrei zu würdigen.
Alle Eigenthümlichkeiten der künstlerischen Behandlung und
Darstellung pflegen dann als in der besonderen Natur des Ge-
genstandes begründet kurz abgefertigt zu werden. Um nicht
in denselben Fehler zu verfallen, gehen wir den umgekehrten
Weg und suchen uns dem Kunstwerke zunächst in seinem
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/490>, abgerufen am 25.11.2024.
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