waltsameren, der Steigerung zur Leidenschaft oder zu einem durch den Schmerz überwältigten Dulden verbunden.
Blicken wir jetzt zur weiteren Bestätigung des uns von Plinius aufbewahrten Urtheils auf die Werke des Aristides, so finden wir wohl, um sogleich an den letzten Satz wieder anzuknüpfen, kaum in der ganzen griechischen Kunst ein Werk, welches zur allseitigsten Entwickelung pathetischer Effecte so geeignet wäre, wie das Bild der sterbenden Mut- ter mit dem Kinde. Die Schrecken der Verwüstung einer Stadt, welche, wenn auch nicht ausführlich dargelegt, doch mit hinlänglicher Bestimmtheit angedeutet sein mussten, der Todeskampf der Mutter, doppelt erschwert nicht blos durch die Sorge um die Hülflosigkeit des Kindes, sondern auch durch die Furcht, ihm im Tode noch verderblich zu sein, dazu der Contrast des noch keiner Erkenntniss fähigen, von allen diesen Schrecken unberührten Kindes, alles dieses ver- einigt sich zum Ausdruck des höchsten tragischen Entsetzens, so dass wir gar nicht anzunehmen brauchen, der ganzen Scene möge als der Katastrophe einer bekannten mythischen oder historischen Begebenheit (etwa wie beim Laokoon oder den Niobiden) noch ein anderes als ein rein menschliches Interesse beigewohnt haben. Dabei ist aber doch das Ganze als Handlung betrachtet in seinen Grundmotiven wieder so einfach, dass die volle Wirkung nur durch die höchste Mei- sterschaft einer fein gefühlten Durchführung erzielt werden konnte. Wem aber eine solche Darstellung gelang, dem musste auch Herakles von dem brennenden Schmerze des Gewandes der Deianeira überwältigt ein willkommener Gegen- stand sein; und aus diesem Grunde habe ich oben das von Strabo erwähnte Gemälde unter den Werken des Aristides mit anführen zu müssen geglaubt. Bei der wegen der Liebe zu ihrem Bruder Sterbenden, sei es nun Kanake oder eine andere Heroine, genügt schon die Bezeichnung des Gegen- standes, um dieses Werk unter die pathetischen einzureihen. Weniger durch heftige Leidenschaft, als durch den Ausdruck tiefen Elendes und Schmerzes wird sich das berühmte Bild eines Kranken ausgezeichnet haben. Nicht ganz so leicht ist es, bestimmte Beispiele für die Dartellung zarterer Stim- mungen und Empfindungen nachzuweisen. Wir können sie allerdings voraussetzen in dem Bilde des Dionysos als den
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. II. 12
waltsameren, der Steigerung zur Leidenschaft oder zu einem durch den Schmerz überwältigten Dulden verbunden.
Blicken wir jetzt zur weiteren Bestätigung des uns von Plinius aufbewahrten Urtheils auf die Werke des Aristides, so finden wir wohl, um sogleich an den letzten Satz wieder anzuknüpfen, kaum in der ganzen griechischen Kunst ein Werk, welches zur allseitigsten Entwickelung pathetischer Effecte so geeignet wäre, wie das Bild der sterbenden Mut- ter mit dem Kinde. Die Schrecken der Verwüstung einer Stadt, welche, wenn auch nicht ausführlich dargelegt, doch mit hinlänglicher Bestimmtheit angedeutet sein mussten, der Todeskampf der Mutter, doppelt erschwert nicht blos durch die Sorge um die Hülflosigkeit des Kindes, sondern auch durch die Furcht, ihm im Tode noch verderblich zu sein, dazu der Contrast des noch keiner Erkenntniss fähigen, von allen diesen Schrecken unberührten Kindes, alles dieses ver- einigt sich zum Ausdruck des höchsten tragischen Entsetzens, so dass wir gar nicht anzunehmen brauchen, der ganzen Scene möge als der Katastrophe einer bekannten mythischen oder historischen Begebenheit (etwa wie beim Laokoon oder den Niobiden) noch ein anderes als ein rein menschliches Interesse beigewohnt haben. Dabei ist aber doch das Ganze als Handlung betrachtet in seinen Grundmotiven wieder so einfach, dass die volle Wirkung nur durch die höchste Mei- sterschaft einer fein gefühlten Durchführung erzielt werden konnte. Wem aber eine solche Darstellung gelang, dem musste auch Herakles von dem brennenden Schmerze des Gewandes der Deianeira überwältigt ein willkommener Gegen- stand sein; und aus diesem Grunde habe ich oben das von Strabo erwähnte Gemälde unter den Werken des Aristides mit anführen zu müssen geglaubt. Bei der wegen der Liebe zu ihrem Bruder Sterbenden, sei es nun Kanake oder eine andere Heroine, genügt schon die Bezeichnung des Gegen- standes, um dieses Werk unter die pathetischen einzureihen. Weniger durch heftige Leidenschaft, als durch den Ausdruck tiefen Elendes und Schmerzes wird sich das berühmte Bild eines Kranken ausgezeichnet haben. Nicht ganz so leicht ist es, bestimmte Beispiele für die Dartellung zarterer Stim- mungen und Empfindungen nachzuweisen. Wir können sie allerdings voraussetzen in dem Bilde des Dionysos als den
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. II. 12
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0185"n="177"/>
waltsameren, der Steigerung zur Leidenschaft oder zu einem<lb/>
durch den Schmerz überwältigten Dulden verbunden.</p><lb/><p>Blicken wir jetzt zur weiteren Bestätigung des uns von<lb/>
Plinius aufbewahrten Urtheils auf die Werke des Aristides,<lb/>
so finden wir wohl, um sogleich an den letzten Satz wieder<lb/>
anzuknüpfen, kaum in der ganzen griechischen Kunst ein<lb/>
Werk, welches zur allseitigsten Entwickelung pathetischer<lb/>
Effecte so geeignet wäre, wie das Bild der sterbenden Mut-<lb/>
ter mit dem Kinde. Die Schrecken der Verwüstung einer<lb/>
Stadt, welche, wenn auch nicht ausführlich dargelegt, doch<lb/>
mit hinlänglicher Bestimmtheit angedeutet sein mussten, der<lb/>
Todeskampf der Mutter, doppelt erschwert nicht blos durch<lb/>
die Sorge um die Hülflosigkeit des Kindes, sondern auch<lb/>
durch die Furcht, ihm im Tode noch verderblich zu sein,<lb/>
dazu der Contrast des noch keiner Erkenntniss fähigen, von<lb/>
allen diesen Schrecken unberührten Kindes, alles dieses ver-<lb/>
einigt sich zum Ausdruck des höchsten tragischen Entsetzens,<lb/>
so dass wir gar nicht anzunehmen brauchen, der ganzen<lb/>
Scene möge als der Katastrophe einer bekannten mythischen<lb/>
oder historischen Begebenheit (etwa wie beim Laokoon oder<lb/>
den Niobiden) noch ein anderes als ein rein menschliches<lb/>
Interesse beigewohnt haben. Dabei ist aber doch das Ganze<lb/>
als Handlung betrachtet in seinen Grundmotiven wieder so<lb/>
einfach, dass die volle Wirkung nur durch die höchste Mei-<lb/>
sterschaft einer fein gefühlten Durchführung erzielt werden<lb/>
konnte. Wem aber eine solche Darstellung gelang, dem<lb/>
musste auch Herakles von dem brennenden Schmerze des<lb/>
Gewandes der Deianeira überwältigt ein willkommener Gegen-<lb/>
stand sein; und aus diesem Grunde habe ich oben das von<lb/>
Strabo erwähnte Gemälde unter den Werken des Aristides<lb/>
mit anführen zu müssen geglaubt. Bei der wegen der Liebe<lb/>
zu ihrem Bruder Sterbenden, sei es nun Kanake oder eine<lb/>
andere Heroine, genügt schon die Bezeichnung des Gegen-<lb/>
standes, um dieses Werk unter die pathetischen einzureihen.<lb/>
Weniger durch heftige Leidenschaft, als durch den Ausdruck<lb/>
tiefen Elendes und Schmerzes wird sich das berühmte Bild<lb/>
eines Kranken ausgezeichnet haben. Nicht ganz so leicht<lb/>
ist es, bestimmte Beispiele für die Dartellung zarterer Stim-<lb/>
mungen und Empfindungen nachzuweisen. Wir können sie<lb/>
allerdings voraussetzen in dem Bilde des Dionysos als den<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#i"><hirendition="#g">Brunn</hi>, Geschichte der griech. Künstler. II.</hi> 12</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[177/0185]
waltsameren, der Steigerung zur Leidenschaft oder zu einem
durch den Schmerz überwältigten Dulden verbunden.
Blicken wir jetzt zur weiteren Bestätigung des uns von
Plinius aufbewahrten Urtheils auf die Werke des Aristides,
so finden wir wohl, um sogleich an den letzten Satz wieder
anzuknüpfen, kaum in der ganzen griechischen Kunst ein
Werk, welches zur allseitigsten Entwickelung pathetischer
Effecte so geeignet wäre, wie das Bild der sterbenden Mut-
ter mit dem Kinde. Die Schrecken der Verwüstung einer
Stadt, welche, wenn auch nicht ausführlich dargelegt, doch
mit hinlänglicher Bestimmtheit angedeutet sein mussten, der
Todeskampf der Mutter, doppelt erschwert nicht blos durch
die Sorge um die Hülflosigkeit des Kindes, sondern auch
durch die Furcht, ihm im Tode noch verderblich zu sein,
dazu der Contrast des noch keiner Erkenntniss fähigen, von
allen diesen Schrecken unberührten Kindes, alles dieses ver-
einigt sich zum Ausdruck des höchsten tragischen Entsetzens,
so dass wir gar nicht anzunehmen brauchen, der ganzen
Scene möge als der Katastrophe einer bekannten mythischen
oder historischen Begebenheit (etwa wie beim Laokoon oder
den Niobiden) noch ein anderes als ein rein menschliches
Interesse beigewohnt haben. Dabei ist aber doch das Ganze
als Handlung betrachtet in seinen Grundmotiven wieder so
einfach, dass die volle Wirkung nur durch die höchste Mei-
sterschaft einer fein gefühlten Durchführung erzielt werden
konnte. Wem aber eine solche Darstellung gelang, dem
musste auch Herakles von dem brennenden Schmerze des
Gewandes der Deianeira überwältigt ein willkommener Gegen-
stand sein; und aus diesem Grunde habe ich oben das von
Strabo erwähnte Gemälde unter den Werken des Aristides
mit anführen zu müssen geglaubt. Bei der wegen der Liebe
zu ihrem Bruder Sterbenden, sei es nun Kanake oder eine
andere Heroine, genügt schon die Bezeichnung des Gegen-
standes, um dieses Werk unter die pathetischen einzureihen.
Weniger durch heftige Leidenschaft, als durch den Ausdruck
tiefen Elendes und Schmerzes wird sich das berühmte Bild
eines Kranken ausgezeichnet haben. Nicht ganz so leicht
ist es, bestimmte Beispiele für die Dartellung zarterer Stim-
mungen und Empfindungen nachzuweisen. Wir können sie
allerdings voraussetzen in dem Bilde des Dionysos als den
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. II. 12
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/185>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.