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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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an dieselben mit ganz besonderen Schwierigkeiten verbunden
gewesen sein würde. Dagegen glaube ich um so mehr auf
die strenge Gesetzmässigkeit der griechischen Architektur
hinweisen zu müssen, zufolge welcher jeder einzelne Theil
durch sein Verhältniss zum Ganzen bestimmt wurde. Sollte
nun da durch blosse Hinzufügung einer Säulenstellung ein
Peripteros in einen Dipteros haben verwandelt werden kön-
nen, ohne dass dadurch das Verhältniss aller Theile, na-
mentlich in der Haupt-, d. h. in der Vorderansicht gründlich
verrückt, die Schönheit der ursprünglichen Anlage gänzlich
vernichtet worden wäre? Mir würde deshalb die Nachricht
von einer Vergrösserung des Tempels nur dann unbedenk-
lich erscheinen, wenn sie sich von einer Erweiterung in der
Länge deuten liesse, indem deren Verhältniss zur Breite
keineswegs ein fest bestimmtes ist, sondern etwa zwischen
1:1,7 und 1:2,8 schwankt. Da es jedoch beim ephesischen
Tempel nur 1:1,88 beträgt, so kann es auch bei der ur-
sprünglichen Anlage kaum ein anderes gewesen sein. So
bliebe als letzte Ausflucht nur etwa die Annahme übrig,
dass Chersiphron erst die Cella erbaut und die Säulen an
der vorderen Hälfte des Tempels errichtet hätte. Wenn nun
der Weiterbau erst durch das Geschenk des Krösus möglich
wurde, so konnte man wohl von dem Architekten, welcher
diesen Weiterbau wenn auch nach dem ursprünglichen Plane
leitete, mit einem nicht streng richtigen Ausdrucke einmal
sagen, er habe den Tempel grösser gemacht.

Die voranstehenden Erörterungen können, wie gesagt,
nicht den Anspruch machen, eine schwierige Frage zu einer
endgültigen Entscheidung gebracht zu haben. Doch werden
sie die Annahme, dass der Grundplan des Chersiphron bei
allen späteren Ausführungen und Wiederherstellungen unver-
ändert beibehalten worden sei, wenigstens als möglich und
sogar ziemlich wahrscheinlich erscheinen lassen. Was Vi-
truv II, 9, 13 und Plinius 16, 213 über das Gebälk aus Ce-
dern und die Thüren aus Cypressenholz bemerken, kann sich
natürlich nur auf die Wiederherstellung nach dem Brande
beziehen.

Um schliesslich noch einmal auf die Architekten des
älteren Baues zurückzukommen, so bemerkt Vitruv VII,
praef. 12, dass Chersiphron und Metagenes über denselben

an dieselben mit ganz besonderen Schwierigkeiten verbunden
gewesen sein würde. Dagegen glaube ich um so mehr auf
die strenge Gesetzmässigkeit der griechischen Architektur
hinweisen zu müssen, zufolge welcher jeder einzelne Theil
durch sein Verhältniss zum Ganzen bestimmt wurde. Sollte
nun da durch blosse Hinzufügung einer Säulenstellung ein
Peripteros in einen Dipteros haben verwandelt werden kön-
nen, ohne dass dadurch das Verhältniss aller Theile, na-
mentlich in der Haupt-, d. h. in der Vorderansicht gründlich
verrückt, die Schönheit der ursprünglichen Anlage gänzlich
vernichtet worden wäre? Mir würde deshalb die Nachricht
von einer Vergrösserung des Tempels nur dann unbedenk-
lich erscheinen, wenn sie sich von einer Erweiterung in der
Länge deuten liesse, indem deren Verhältniss zur Breite
keineswegs ein fest bestimmtes ist, sondern etwa zwischen
1:1,7 und 1:2,8 schwankt. Da es jedoch beim ephesischen
Tempel nur 1:1,88 beträgt, so kann es auch bei der ur-
sprünglichen Anlage kaum ein anderes gewesen sein. So
bliebe als letzte Ausflucht nur etwa die Annahme übrig,
dass Chersiphron erst die Cella erbaut und die Säulen an
der vorderen Hälfte des Tempels errichtet hätte. Wenn nun
der Weiterbau erst durch das Geschenk des Krösus möglich
wurde, so konnte man wohl von dem Architekten, welcher
diesen Weiterbau wenn auch nach dem ursprünglichen Plane
leitete, mit einem nicht streng richtigen Ausdrucke einmal
sagen, er habe den Tempel grösser gemacht.

Die voranstehenden Erörterungen können, wie gesagt,
nicht den Anspruch machen, eine schwierige Frage zu einer
endgültigen Entscheidung gebracht zu haben. Doch werden
sie die Annahme, dass der Grundplan des Chersiphron bei
allen späteren Ausführungen und Wiederherstellungen unver-
ändert beibehalten worden sei, wenigstens als möglich und
sogar ziemlich wahrscheinlich erscheinen lassen. Was Vi-
truv II, 9, 13 und Plinius 16, 213 über das Gebälk aus Ce-
dern und die Thüren aus Cypressenholz bemerken, kann sich
natürlich nur auf die Wiederherstellung nach dem Brande
beziehen.

Um schliesslich noch einmal auf die Architekten des
älteren Baues zurückzukommen, so bemerkt Vitruv VII,
praef. 12, dass Chersiphron und Metagenes über denselben

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[348/0356] an dieselben mit ganz besonderen Schwierigkeiten verbunden gewesen sein würde. Dagegen glaube ich um so mehr auf die strenge Gesetzmässigkeit der griechischen Architektur hinweisen zu müssen, zufolge welcher jeder einzelne Theil durch sein Verhältniss zum Ganzen bestimmt wurde. Sollte nun da durch blosse Hinzufügung einer Säulenstellung ein Peripteros in einen Dipteros haben verwandelt werden kön- nen, ohne dass dadurch das Verhältniss aller Theile, na- mentlich in der Haupt-, d. h. in der Vorderansicht gründlich verrückt, die Schönheit der ursprünglichen Anlage gänzlich vernichtet worden wäre? Mir würde deshalb die Nachricht von einer Vergrösserung des Tempels nur dann unbedenk- lich erscheinen, wenn sie sich von einer Erweiterung in der Länge deuten liesse, indem deren Verhältniss zur Breite keineswegs ein fest bestimmtes ist, sondern etwa zwischen 1:1,7 und 1:2,8 schwankt. Da es jedoch beim ephesischen Tempel nur 1:1,88 beträgt, so kann es auch bei der ur- sprünglichen Anlage kaum ein anderes gewesen sein. So bliebe als letzte Ausflucht nur etwa die Annahme übrig, dass Chersiphron erst die Cella erbaut und die Säulen an der vorderen Hälfte des Tempels errichtet hätte. Wenn nun der Weiterbau erst durch das Geschenk des Krösus möglich wurde, so konnte man wohl von dem Architekten, welcher diesen Weiterbau wenn auch nach dem ursprünglichen Plane leitete, mit einem nicht streng richtigen Ausdrucke einmal sagen, er habe den Tempel grösser gemacht. Die voranstehenden Erörterungen können, wie gesagt, nicht den Anspruch machen, eine schwierige Frage zu einer endgültigen Entscheidung gebracht zu haben. Doch werden sie die Annahme, dass der Grundplan des Chersiphron bei allen späteren Ausführungen und Wiederherstellungen unver- ändert beibehalten worden sei, wenigstens als möglich und sogar ziemlich wahrscheinlich erscheinen lassen. Was Vi- truv II, 9, 13 und Plinius 16, 213 über das Gebälk aus Ce- dern und die Thüren aus Cypressenholz bemerken, kann sich natürlich nur auf die Wiederherstellung nach dem Brande beziehen. Um schliesslich noch einmal auf die Architekten des älteren Baues zurückzukommen, so bemerkt Vitruv VII, praef. 12, dass Chersiphron und Metagenes über denselben

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/356>, abgerufen am 29.11.2024.