allen vorangegangen; nur durfte im Epos bei der Mannigfal- tigkeit und dem episodischen Charakter mancher Handlungen das Ethos häufig nur im Allgemeinen vorausgesetzt werden, ohne dass es sich überall in gleicher Stärke zu manifestiren nöthig hatte. In der Tragödie dagegen bewegt sich alles weit strenger um eine einheitliche abgeschlossene Handlung, und die Personen treten gewissermassen nur deshalb selbst- redend auf, um von ihrem Antheile an dieser Handlung Zeug- niss abzulegen. Hier ist es also nöthig, dass sich eben die- ser Antheil immer als das nothwendige Resultat der im Cha- rakter der handelnden Person begründeten sittlichen Motive offenbare.1) Und in der That ist dies bei den Meisterwer- ken der griechischen Tragödie immer der Fall; so bei So- phokles, so namentlich bei Aeschylos, in dessen Prometheus z. B. die Bedeutung des Ethos fast die Bedeutung der Hand- lung überwiegt. Nach solchen Charakteren müssen wir also des Aristoteles Ausspruch über Polygnot als Maler des Ethos beurtheilen: denn offenbar will er, wenn er Zeuxis wegen Mangels desselben mit den neuern Tragikern vergleicht, Po- lygnot den älteren gleich setzen. Jetzt wird aber die Ab- sicht deutlicher hervortreten, in welcher die frühern Bemer- kungen über die einzelnen Figuren der delphischen Gemälde gemacht wurden. Sie liefern den thatsächlichen Beweis, wie bei Polygnot von der allgemeinen Anlage bis zu den kleinsten Besonderheiten im Einzelnen Alles nur darauf be- rechnet ist, jenes Ethos in eben so klaren, als bedeutsamen Zügen uns auf das Eindringlichste zur Anschauung zu brin- gen.
Wenn nun nach Aristoteles der höchste Zweck der Kunst auf geistige Erhebung und sittliche Veredelung gerichtet ist 2), so werden wir die Ursache, weshalb Aristoteles im Grunde genommen unter allen Malern keinen höher schätzt, als gerade Polygnot, eben in dem Vorwalten des Ethos bei die- sem Künstler suchen müssen. Und er selbst spricht dies noch ausdrücklich aus, indem er die Jugend vor dem An- blicke der Werke eines Pauson zu bewahren räth, dagegen aber anempfiehlt, die des Polygnot zu betrachten und wer
1) Vgl. Jahn in den Ber. d. leipz. Gesellsch. 1850, S. 108.
2) Vgl. Ed. Müller, Gesch. d. Theorie d. K. II, S. 50--70.
allen vorangegangen; nur durfte im Epos bei der Mannigfal- tigkeit und dem episodischen Charakter mancher Handlungen das Ethos häufig nur im Allgemeinen vorausgesetzt werden, ohne dass es sich überall in gleicher Stärke zu manifestiren nöthig hatte. In der Tragödie dagegen bewegt sich alles weit strenger um eine einheitliche abgeschlossene Handlung, und die Personen treten gewissermassen nur deshalb selbst- redend auf, um von ihrem Antheile an dieser Handlung Zeug- niss abzulegen. Hier ist es also nöthig, dass sich eben die- ser Antheil immer als das nothwendige Resultat der im Cha- rakter der handelnden Person begründeten sittlichen Motive offenbare.1) Und in der That ist dies bei den Meisterwer- ken der griechischen Tragödie immer der Fall; so bei So- phokles, so namentlich bei Aeschylos, in dessen Prometheus z. B. die Bedeutung des Ethos fast die Bedeutung der Hand- lung überwiegt. Nach solchen Charakteren müssen wir also des Aristoteles Ausspruch über Polygnot als Maler des Ethos beurtheilen: denn offenbar will er, wenn er Zeuxis wegen Mangels desselben mit den neuern Tragikern vergleicht, Po- lygnot den älteren gleich setzen. Jetzt wird aber die Ab- sicht deutlicher hervortreten, in welcher die frühern Bemer- kungen über die einzelnen Figuren der delphischen Gemälde gemacht wurden. Sie liefern den thatsächlichen Beweis, wie bei Polygnot von der allgemeinen Anlage bis zu den kleinsten Besonderheiten im Einzelnen Alles nur darauf be- rechnet ist, jenes Ethos in eben so klaren, als bedeutsamen Zügen uns auf das Eindringlichste zur Anschauung zu brin- gen.
Wenn nun nach Aristoteles der höchste Zweck der Kunst auf geistige Erhebung und sittliche Veredelung gerichtet ist 2), so werden wir die Ursache, weshalb Aristoteles im Grunde genommen unter allen Malern keinen höher schätzt, als gerade Polygnot, eben in dem Vorwalten des Ethos bei die- sem Künstler suchen müssen. Und er selbst spricht dies noch ausdrücklich aus, indem er die Jugend vor dem An- blicke der Werke eines Pauson zu bewahren räth, dagegen aber anempfiehlt, die des Polygnot zu betrachten und wer
1) Vgl. Jahn in den Ber. d. leipz. Gesellsch. 1850, S. 108.
2) Vgl. Ed. Müller, Gesch. d. Theorie d. K. II, S. 50—70.
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allen vorangegangen; nur durfte im Epos bei der Mannigfal-
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das Ethos häufig nur im Allgemeinen vorausgesetzt werden,
ohne dass es sich überall in gleicher Stärke zu manifestiren
nöthig hatte. In der Tragödie dagegen bewegt sich alles
weit strenger um eine einheitliche abgeschlossene Handlung,
und die Personen treten gewissermassen nur deshalb selbst-
redend auf, um von ihrem Antheile an dieser Handlung Zeug-
niss abzulegen. Hier ist es also nöthig, dass sich eben die-
ser Antheil immer als das nothwendige Resultat der im Cha-
rakter der handelnden Person begründeten sittlichen Motive
offenbare. 1) Und in der That ist dies bei den Meisterwer-
ken der griechischen Tragödie immer der Fall; so bei So-
phokles, so namentlich bei Aeschylos, in dessen Prometheus
z. B. die Bedeutung des Ethos fast die Bedeutung der Hand-
lung überwiegt. Nach solchen Charakteren müssen wir also
des Aristoteles Ausspruch über Polygnot als Maler des Ethos
beurtheilen: denn offenbar will er, wenn er Zeuxis wegen
Mangels desselben mit den neuern Tragikern vergleicht, Po-
lygnot den älteren gleich setzen. Jetzt wird aber die Ab-
sicht deutlicher hervortreten, in welcher die frühern Bemer-
kungen über die einzelnen Figuren der delphischen Gemälde
gemacht wurden. Sie liefern den thatsächlichen Beweis,
wie bei Polygnot von der allgemeinen Anlage bis zu den
kleinsten Besonderheiten im Einzelnen Alles nur darauf be-
rechnet ist, jenes Ethos in eben so klaren, als bedeutsamen
Zügen uns auf das Eindringlichste zur Anschauung zu brin-
gen.
Wenn nun nach Aristoteles der höchste Zweck der Kunst
auf geistige Erhebung und sittliche Veredelung gerichtet ist 2),
so werden wir die Ursache, weshalb Aristoteles im Grunde
genommen unter allen Malern keinen höher schätzt, als
gerade Polygnot, eben in dem Vorwalten des Ethos bei die-
sem Künstler suchen müssen. Und er selbst spricht dies
noch ausdrücklich aus, indem er die Jugend vor dem An-
blicke der Werke eines Pauson zu bewahren räth, dagegen
aber anempfiehlt, die des Polygnot zu betrachten und wer
1) Vgl. Jahn in den Ber. d. leipz. Gesellsch. 1850, S. 108.
2) Vgl.
Ed. Müller, Gesch. d. Theorie d. K. II, S. 50—70.
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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/52>, abgerufen am 23.11.2024.
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