wähnt. "Mit allem Nöthigen versehen, wie in der Wirklich- keit, erscheint der Webstuhl; gehörig angespannt ist der Auf- zug; Blumenmuster liegen unter den Fäden; und es fehlte nur, dass man das Rasseln der Weberlade hörte. Penelope selbst aber zerfliesst unter Thränen, wie Homer den Schnee zerfliessen lässt, und löst wieder auf, was sie gewoben." Von diesen beiden Darstellungen würde offenbar die erste (so weit wir eine Statue mit Malereien zusammenstellen dür- fen) der Auffassung des Polygnot entsprechen, während die zweite eine grosse innere Verwandtschaft mit den früher be- trachteten Gemälden des Zeuxis verräth. Denn auch hier wieder ist der Künstler von der Charakterisirung der äus- seren Lage ausgegangen; und erst auf dieser Grundlage hat er es versucht, die Trauer und die Sehnsucht der treuen, züchtigen Gattin zum Ausdruck zu bringen. Dies mochte in den zartesten und feinsten Zügen voll tiefer Empfindung geschehen sein: jenes Ausgehen von einer, wenn auch noch so passenden, doch nicht mit zwingender Nothwendigkeit ge- botenen äusseren Lage wird trotzdem einen fortwährenden Einfluss in so weit behauptet haben, dass Penelope in dem Gemälde nicht in erster Linie als eine streng historische Fi- gur, als die Verkörperung ihres eigenen Ethos, sondern mehr als ein allgemeines Charakterbild von Zucht und Sitte hinge- stellt erschien. Fast wie ein Seitenstück hierzu finden wir unter den Werken des Zeuxis Menelaos, wie er weinend am Grabe des Agamemnon Todtenspenden ausgiesst, ein Bild der Rührung und brüderlichen Liebe. Es wird nicht unpas- send sein, den von Aristoteles aufgestellten Vergleich zwi- schen der Malerei und der Tragödie nochmals aufzunehmen, indem es hier für die Beurtheilung des Zeuxis kaum eine passendere Parallele giebt, als Euripides. Je mehr die Per- sonen seiner Tragödien anfangen, sich in philosophischen Abstractionen zu ergehen, welche häufig eine noch nähere Beziehung auf die Sitten und den Geist der Zeit des Dichters, als auf den dargestellten Mythus haben, um so mehr ver- lieren sie von ihrem eigenen individuellem Gepräge und wer- den Vertreter gewisser philosophischer Richtungen und Lebens- anschauungen. So liesse sich z. B. jenes "mores pinxisse videtur" wörtlich auf Euripides anwenden, wenn er uns nach Welcker's Ausdruck im Hippolytos das Bild eines neumodisch
wähnt. „Mit allem Nöthigen versehen, wie in der Wirklich- keit, erscheint der Webstuhl; gehörig angespannt ist der Auf- zug; Blumenmuster liegen unter den Fäden; und es fehlte nur, dass man das Rasseln der Weberlade hörte. Penelope selbst aber zerfliesst unter Thränen, wie Homer den Schnee zerfliessen lässt, und löst wieder auf, was sie gewoben.“ Von diesen beiden Darstellungen würde offenbar die erste (so weit wir eine Statue mit Malereien zusammenstellen dür- fen) der Auffassung des Polygnot entsprechen, während die zweite eine grosse innere Verwandtschaft mit den früher be- trachteten Gemälden des Zeuxis verräth. Denn auch hier wieder ist der Künstler von der Charakterisirung der äus- seren Lage ausgegangen; und erst auf dieser Grundlage hat er es versucht, die Trauer und die Sehnsucht der treuen, züchtigen Gattin zum Ausdruck zu bringen. Dies mochte in den zartesten und feinsten Zügen voll tiefer Empfindung geschehen sein: jenes Ausgehen von einer, wenn auch noch so passenden, doch nicht mit zwingender Nothwendigkeit ge- botenen äusseren Lage wird trotzdem einen fortwährenden Einfluss in so weit behauptet haben, dass Penelope in dem Gemälde nicht in erster Linie als eine streng historische Fi- gur, als die Verkörperung ihres eigenen Ethos, sondern mehr als ein allgemeines Charakterbild von Zucht und Sitte hinge- stellt erschien. Fast wie ein Seitenstück hierzu finden wir unter den Werken des Zeuxis Menelaos, wie er weinend am Grabe des Agamemnon Todtenspenden ausgiesst, ein Bild der Rührung und brüderlichen Liebe. Es wird nicht unpas- send sein, den von Aristoteles aufgestellten Vergleich zwi- schen der Malerei und der Tragödie nochmals aufzunehmen, indem es hier für die Beurtheilung des Zeuxis kaum eine passendere Parallele giebt, als Euripides. Je mehr die Per- sonen seiner Tragödien anfangen, sich in philosophischen Abstractionen zu ergehen, welche häufig eine noch nähere Beziehung auf die Sitten und den Geist der Zeit des Dichters, als auf den dargestellten Mythus haben, um so mehr ver- lieren sie von ihrem eigenen individuellem Gepräge und wer- den Vertreter gewisser philosophischer Richtungen und Lebens- anschauungen. So liesse sich z. B. jenes „mores pinxisse videtur“ wörtlich auf Euripides anwenden, wenn er uns nach Welcker’s Ausdruck im Hippolytos das Bild eines neumodisch
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wähnt. „Mit allem Nöthigen versehen, wie in der Wirklich-
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zug; Blumenmuster liegen unter den Fäden; und es fehlte
nur, dass man das Rasseln der Weberlade hörte. Penelope
selbst aber zerfliesst unter Thränen, wie Homer den Schnee
zerfliessen lässt, und löst wieder auf, was sie gewoben.“
Von diesen beiden Darstellungen würde offenbar die erste
(so weit wir eine Statue mit Malereien zusammenstellen dür-
fen) der Auffassung des Polygnot entsprechen, während die
zweite eine grosse innere Verwandtschaft mit den früher be-
trachteten Gemälden des Zeuxis verräth. Denn auch hier
wieder ist der Künstler von der Charakterisirung der äus-
seren Lage ausgegangen; und erst auf dieser Grundlage hat
er es versucht, die Trauer und die Sehnsucht der treuen,
züchtigen Gattin zum Ausdruck zu bringen. Dies mochte
in den zartesten und feinsten Zügen voll tiefer Empfindung
geschehen sein: jenes Ausgehen von einer, wenn auch noch
so passenden, doch nicht mit zwingender Nothwendigkeit ge-
botenen äusseren Lage wird trotzdem einen fortwährenden
Einfluss in so weit behauptet haben, dass Penelope in dem
Gemälde nicht in erster Linie als eine streng historische Fi-
gur, als die Verkörperung ihres eigenen Ethos, sondern mehr
als ein allgemeines Charakterbild von Zucht und Sitte hinge-
stellt erschien. Fast wie ein Seitenstück hierzu finden wir
unter den Werken des Zeuxis Menelaos, wie er weinend am
Grabe des Agamemnon Todtenspenden ausgiesst, ein Bild
der Rührung und brüderlichen Liebe. Es wird nicht unpas-
send sein, den von Aristoteles aufgestellten Vergleich zwi-
schen der Malerei und der Tragödie nochmals aufzunehmen,
indem es hier für die Beurtheilung des Zeuxis kaum eine
passendere Parallele giebt, als Euripides. Je mehr die Per-
sonen seiner Tragödien anfangen, sich in philosophischen
Abstractionen zu ergehen, welche häufig eine noch nähere
Beziehung auf die Sitten und den Geist der Zeit des Dichters,
als auf den dargestellten Mythus haben, um so mehr ver-
lieren sie von ihrem eigenen individuellem Gepräge und wer-
den Vertreter gewisser philosophischer Richtungen und Lebens-
anschauungen. So liesse sich z. B. jenes „mores pinxisse
videtur“ wörtlich auf Euripides anwenden, wenn er uns nach
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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/95>, abgerufen am 23.11.2024.
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