Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

dies geschehen, wird sich schon eher eine Vermittelung
finden lassen, durch welche auch die bewundernden Urtheile
des Alterthums als in ihrer Weise berechtigt erscheinen.

Wir haben auch früher nicht geleugnet, dass, so gross
das Verdienet des Polygnot in Hinsicht auf alles Geistige
war, er doch in allem, was die äusseren Mittel der Darstel-
lung angeht, im Princip nicht über seine Vorgänger hinaus-
gegangen war. Er brachte nur das ältere System zur höch-
sten Vollendung, zum letzten Abschlusse; und die Mängel
dieses Systems selbst wurden nur darum noch nicht em-
pfunden, weil Polygnot nirgends versucht hatte, sich den
Forderungen desselben zu entziehen, sondern in freiwilliger
Unterordnung bestimmte Grenzen als bindend anerkannt hatte.
Nachdem nun aber namentlich die Sculptur sich aus den
alten Fesseln befreit hatte und zur vollendeten Schönheit
gelangt war, musste es sich fast mit Nothwendigkeit zeigen,
dass auch in der Malerei die bisher festgehaltenen Grenzen
nicht die Grenzen dieser Kunst überhaupt bezeichnen konn-
ten, sondern dass dieselbe noch weiterer Entwickelungen auf
durchaus neuen Bahnen fähig war. Dabei müssen wir nun
allerdings einer Seits bedauern, wenn von den hohen Vor-
zügen einer früheren Zeit ein wesentlicher Theil verloren
geht; während wir anderer Seits uns nicht verhehlen, dass
ein solcher Umschwung eigentlich in der Natur der Dinge
begründet ist. Wo durchaus neue Forderungen und Probleme
zu lösen sind, da dürfen wir es einem Künstler nicht ver-
argen, wenn er im vollen Bewusstsein seines veränderten
Standpunktes selbst mit einer gewissen Einseitigkeit sich
diesen neuen Aufgaben hingiebt. Freilich müssen wir auf den
geistigen Gehalt eines Kunstwerkes stets den ersten und
grössten Nachdruck legen. Doch dürfen wir auch darin uns
nicht zu solcher Einseitigkeit des Urtheils hinreissen lassen,
dass wir den Mitteln der äusseren Darstellung gar keinen
selbständigen Werth beizulegen geneigt sein sollten. Viel-
mehr entsteht die Vollendung des Kunstwerks aus der har-
monischen Verbindung tiefer Ideen und vollendeter mate-
rieller Darstellung. Erkennen wir daher dem Zeuxis das
Verdienst zu, die Bedeutung des Malerischen zuerst im wei-
teren Umfange erkannt und in der Durchführung begründet
zu haben, so ist ihm hierdurch eine hervorragende Stellung

dies geschehen, wird sich schon eher eine Vermittelung
finden lassen, durch welche auch die bewundernden Urtheile
des Alterthums als in ihrer Weise berechtigt erscheinen.

Wir haben auch früher nicht geleugnet, dass, so gross
das Verdienet des Polygnot in Hinsicht auf alles Geistige
war, er doch in allem, was die äusseren Mittel der Darstel-
lung angeht, im Princip nicht über seine Vorgänger hinaus-
gegangen war. Er brachte nur das ältere System zur höch-
sten Vollendung, zum letzten Abschlusse; und die Mängel
dieses Systems selbst wurden nur darum noch nicht em-
pfunden, weil Polygnot nirgends versucht hatte, sich den
Forderungen desselben zu entziehen, sondern in freiwilliger
Unterordnung bestimmte Grenzen als bindend anerkannt hatte.
Nachdem nun aber namentlich die Sculptur sich aus den
alten Fesseln befreit hatte und zur vollendeten Schönheit
gelangt war, musste es sich fast mit Nothwendigkeit zeigen,
dass auch in der Malerei die bisher festgehaltenen Grenzen
nicht die Grenzen dieser Kunst überhaupt bezeichnen konn-
ten, sondern dass dieselbe noch weiterer Entwickelungen auf
durchaus neuen Bahnen fähig war. Dabei müssen wir nun
allerdings einer Seits bedauern, wenn von den hohen Vor-
zügen einer früheren Zeit ein wesentlicher Theil verloren
geht; während wir anderer Seits uns nicht verhehlen, dass
ein solcher Umschwung eigentlich in der Natur der Dinge
begründet ist. Wo durchaus neue Forderungen und Probleme
zu lösen sind, da dürfen wir es einem Künstler nicht ver-
argen, wenn er im vollen Bewusstsein seines veränderten
Standpunktes selbst mit einer gewissen Einseitigkeit sich
diesen neuen Aufgaben hingiebt. Freilich müssen wir auf den
geistigen Gehalt eines Kunstwerkes stets den ersten und
grössten Nachdruck legen. Doch dürfen wir auch darin uns
nicht zu solcher Einseitigkeit des Urtheils hinreissen lassen,
dass wir den Mitteln der äusseren Darstellung gar keinen
selbständigen Werth beizulegen geneigt sein sollten. Viel-
mehr entsteht die Vollendung des Kunstwerks aus der har-
monischen Verbindung tiefer Ideen und vollendeter mate-
rieller Darstellung. Erkennen wir daher dem Zeuxis das
Verdienst zu, die Bedeutung des Malerischen zuerst im wei-
teren Umfange erkannt und in der Durchführung begründet
zu haben, so ist ihm hierdurch eine hervorragende Stellung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0112" n="95"/>
dies geschehen, wird sich schon eher eine Vermittelung<lb/>
finden lassen, durch welche auch die bewundernden Urtheile<lb/>
des Alterthums als in ihrer Weise berechtigt erscheinen.</p><lb/>
            <p>Wir haben auch früher nicht geleugnet, dass, so gross<lb/>
das Verdienet des Polygnot in Hinsicht auf alles Geistige<lb/>
war, er doch in allem, was die äusseren Mittel der Darstel-<lb/>
lung angeht, im Princip nicht über seine Vorgänger hinaus-<lb/>
gegangen war. Er brachte nur das ältere System zur höch-<lb/>
sten Vollendung, zum letzten Abschlusse; und die Mängel<lb/>
dieses Systems selbst wurden nur darum noch nicht em-<lb/>
pfunden, weil Polygnot nirgends versucht hatte, sich den<lb/>
Forderungen desselben zu entziehen, sondern in freiwilliger<lb/>
Unterordnung bestimmte Grenzen als bindend anerkannt hatte.<lb/>
Nachdem nun aber namentlich die Sculptur sich aus den<lb/>
alten Fesseln befreit hatte und zur vollendeten Schönheit<lb/>
gelangt war, musste es sich fast mit Nothwendigkeit zeigen,<lb/>
dass auch in der Malerei die bisher festgehaltenen Grenzen<lb/>
nicht die Grenzen dieser Kunst überhaupt bezeichnen konn-<lb/>
ten, sondern dass dieselbe noch weiterer Entwickelungen auf<lb/>
durchaus neuen Bahnen fähig war. Dabei müssen wir nun<lb/>
allerdings einer Seits bedauern, wenn von den hohen Vor-<lb/>
zügen einer früheren Zeit ein wesentlicher Theil verloren<lb/>
geht; während wir anderer Seits uns nicht verhehlen, dass<lb/>
ein solcher Umschwung eigentlich in der Natur der Dinge<lb/>
begründet ist. Wo durchaus neue Forderungen und Probleme<lb/>
zu lösen sind, da dürfen wir es einem Künstler nicht ver-<lb/>
argen, wenn er im vollen Bewusstsein seines veränderten<lb/>
Standpunktes selbst mit einer gewissen Einseitigkeit sich<lb/>
diesen neuen Aufgaben hingiebt. Freilich müssen wir auf den<lb/>
geistigen Gehalt eines Kunstwerkes stets den ersten und<lb/>
grössten Nachdruck legen. Doch dürfen wir auch darin uns<lb/>
nicht zu solcher Einseitigkeit des Urtheils hinreissen lassen,<lb/>
dass wir den Mitteln der äusseren Darstellung gar keinen<lb/>
selbständigen Werth beizulegen geneigt sein sollten. Viel-<lb/>
mehr entsteht die Vollendung des Kunstwerks aus der har-<lb/>
monischen Verbindung tiefer Ideen und vollendeter mate-<lb/>
rieller Darstellung. Erkennen wir daher dem Zeuxis das<lb/>
Verdienst zu, die Bedeutung des Malerischen zuerst im wei-<lb/>
teren Umfange erkannt und in der Durchführung begründet<lb/>
zu haben, so ist ihm hierdurch eine hervorragende Stellung<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0112] dies geschehen, wird sich schon eher eine Vermittelung finden lassen, durch welche auch die bewundernden Urtheile des Alterthums als in ihrer Weise berechtigt erscheinen. Wir haben auch früher nicht geleugnet, dass, so gross das Verdienet des Polygnot in Hinsicht auf alles Geistige war, er doch in allem, was die äusseren Mittel der Darstel- lung angeht, im Princip nicht über seine Vorgänger hinaus- gegangen war. Er brachte nur das ältere System zur höch- sten Vollendung, zum letzten Abschlusse; und die Mängel dieses Systems selbst wurden nur darum noch nicht em- pfunden, weil Polygnot nirgends versucht hatte, sich den Forderungen desselben zu entziehen, sondern in freiwilliger Unterordnung bestimmte Grenzen als bindend anerkannt hatte. Nachdem nun aber namentlich die Sculptur sich aus den alten Fesseln befreit hatte und zur vollendeten Schönheit gelangt war, musste es sich fast mit Nothwendigkeit zeigen, dass auch in der Malerei die bisher festgehaltenen Grenzen nicht die Grenzen dieser Kunst überhaupt bezeichnen konn- ten, sondern dass dieselbe noch weiterer Entwickelungen auf durchaus neuen Bahnen fähig war. Dabei müssen wir nun allerdings einer Seits bedauern, wenn von den hohen Vor- zügen einer früheren Zeit ein wesentlicher Theil verloren geht; während wir anderer Seits uns nicht verhehlen, dass ein solcher Umschwung eigentlich in der Natur der Dinge begründet ist. Wo durchaus neue Forderungen und Probleme zu lösen sind, da dürfen wir es einem Künstler nicht ver- argen, wenn er im vollen Bewusstsein seines veränderten Standpunktes selbst mit einer gewissen Einseitigkeit sich diesen neuen Aufgaben hingiebt. Freilich müssen wir auf den geistigen Gehalt eines Kunstwerkes stets den ersten und grössten Nachdruck legen. Doch dürfen wir auch darin uns nicht zu solcher Einseitigkeit des Urtheils hinreissen lassen, dass wir den Mitteln der äusseren Darstellung gar keinen selbständigen Werth beizulegen geneigt sein sollten. Viel- mehr entsteht die Vollendung des Kunstwerks aus der har- monischen Verbindung tiefer Ideen und vollendeter mate- rieller Darstellung. Erkennen wir daher dem Zeuxis das Verdienst zu, die Bedeutung des Malerischen zuerst im wei- teren Umfange erkannt und in der Durchführung begründet zu haben, so ist ihm hierdurch eine hervorragende Stellung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der zweite Band der "Geschichte der griechischen … [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/112
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/112>, abgerufen am 26.11.2024.