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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 13. Die Sippe.
Da man die Knie oder Glieder nur auf einer Seite zählte, waren so-
nach Geschwister im ersten, Geschwisterkinder im zweiten Knie oder
Glied mit einander verwandt. Wenn man die Kniezählung erst bei
der Magschaft im engeren Sinne, bei der Gabelung der Vater- und
Muttermagen begann, so zählte als erstes Knie das der Grosseltern,
waren also z. B. Geschwisterkinder im ersten Gliede verwandt11.

Im Wirtschaftsleben, im Heerwesen und im Rechte der Germanen
hatte der Verband der Sippe eine weitreichende Bedeutung. Es hat
eine Zeit gegeben, da die Sippe eine agrarische Genossenschaft war,
indem die aufzuteilenden Stücke der Feldmark den einzelnen Sippen
zur gemeinsamen Bewirtschaftung überwiesen wurden. In der nach-
cäsarischen Zeit erscheint allerdings die räumlich geschlossene Dorf-
schaft und nicht die Sippe als Eigentümer der Dorfmark, allein von der
thatsächlichen Verknüpfung der Sippe mit den Grundbesitzverhältnissen
zeigen sich noch in der fränkischen Periode deutliche Spuren. Das
alamannische Volksrecht setzt den Fall, dass zwei Sippen um die
Grenzen ihrer Feldmark streiten12. In einem althochdeutschen Ge-
dichte wird der Streit an der Mark als ein Streit mit den Magen
gedacht13. In Baiern finden wir Geschlechter als solche (genealogiae)
im Besitze von Ländereien, die sie veräussern14. Ausdrücke, welche
den Sippeverband bezeichnen (genealogia, fara, maegd), werden in
territorialer Anwendung gebraucht, um ein bestimmtes Gebiet oder
einen Ort zu bezeichnen15. In Niederdeutschland haben sich

11 Heusler, Institutionen II 592.
12 Lex Alam. Hlo. 87.
13 Muspilli bei Müllenhoff u. Scherer, Denkmäler deutscher Poesie und
Prosa aus dem 8. bis 12. Jahrh., 2. Aufl., S 7 v. 60: Uuar ist diu marha, dar man
mit seinen magon piec? diu marha ist farprunnan.
14 Meichelbeck, Hist. Fris. I S 49 v. J. 750 lässt sich Bischof Josef von
Freising Ländereien bei Erching von den Geschlechtern der Agilolfinger einerseits,
der Fagana andererseits schenken und tradieren. Auf agilolfingischer Seite schenkt
Tassilo consentientibus Alfrid cum fratribus suis et participibus eorum atque con-
sortiis. Reliquas autem partes quicquid ad genealogiam quae vocatur Fagana
pertinebat, tradiderunt ipsi, id sunt Ragino, Anulo, Wetti, Vurmhart et cuncti parti-
cipes eorum. Weiter ist von fines utrorumque genealogiarum die Rede. Vgl.
Graf Hundt in den Abh. der bayr. Akad. XII 1, 173 f.
15 Genealogia, Collectio Pataviensis 5 Zeumer 459 (Roziere 318): datis
in vico et genealogia, quae dicuntur. S. noch die Citate bei Waitz I 83 Anm 3.
Bei den Angels. wird maegd und cyd für regio gebraucht. Gierke, GR I 61 Anm 1.
Sehr oft findet sich in Italien und in Frankreich das Wort fara in örtlicher An-
wendung. Für Italien s. die Beispiele bei Schupfer, L'allodio S 45. Im Cod.
dipl. Lang. Nr 464 v. J. 915 findet sich eine fara Libani, jetzt fara Olivana oder
Ulivana genannt. Nach Diez, Etym. WB bedeutet fara im Lombardischen ein

§ 13. Die Sippe.
Da man die Knie oder Glieder nur auf einer Seite zählte, waren so-
nach Geschwister im ersten, Geschwisterkinder im zweiten Knie oder
Glied mit einander verwandt. Wenn man die Kniezählung erst bei
der Magschaft im engeren Sinne, bei der Gabelung der Vater- und
Muttermagen begann, so zählte als erstes Knie das der Groſseltern,
waren also z. B. Geschwisterkinder im ersten Gliede verwandt11.

Im Wirtschaftsleben, im Heerwesen und im Rechte der Germanen
hatte der Verband der Sippe eine weitreichende Bedeutung. Es hat
eine Zeit gegeben, da die Sippe eine agrarische Genossenschaft war,
indem die aufzuteilenden Stücke der Feldmark den einzelnen Sippen
zur gemeinsamen Bewirtschaftung überwiesen wurden. In der nach-
cäsarischen Zeit erscheint allerdings die räumlich geschlossene Dorf-
schaft und nicht die Sippe als Eigentümer der Dorfmark, allein von der
thatsächlichen Verknüpfung der Sippe mit den Grundbesitzverhältnissen
zeigen sich noch in der fränkischen Periode deutliche Spuren. Das
alamannische Volksrecht setzt den Fall, daſs zwei Sippen um die
Grenzen ihrer Feldmark streiten12. In einem althochdeutschen Ge-
dichte wird der Streit an der Mark als ein Streit mit den Magen
gedacht13. In Baiern finden wir Geschlechter als solche (genealogiae)
im Besitze von Ländereien, die sie veräuſsern14. Ausdrücke, welche
den Sippeverband bezeichnen (genealogia, fara, mægđ), werden in
territorialer Anwendung gebraucht, um ein bestimmtes Gebiet oder
einen Ort zu bezeichnen15. In Niederdeutschland haben sich

11 Heusler, Institutionen II 592.
12 Lex Alam. Hlo. 87.
13 Muspilli bei Müllenhoff u. Scherer, Denkmäler deutscher Poesie und
Prosa aus dem 8. bis 12. Jahrh., 2. Aufl., S 7 v. 60: Uuâr ist diu marha, dar man
mit sînên mâgon piec? diu marha ist farprunnan.
14 Meichelbeck, Hist. Fris. I S 49 v. J. 750 läſst sich Bischof Josef von
Freising Ländereien bei Erching von den Geschlechtern der Agilolfinger einerseits,
der Fagana andererseits schenken und tradieren. Auf agilolfingischer Seite schenkt
Tassilo consentientibus Alfrid cum fratribus suis et participibus eorum atque con-
sortiis. Reliquas autem partes quicquid ad genealogiam quae vocatur Fagana
pertinebat, tradiderunt ipsi, id sunt Ragino, Anulo, Wetti, Vurmhart et cuncti parti-
cipes eorum. Weiter ist von fines utrorumque genealogiarum die Rede. Vgl.
Graf Hundt in den Abh. der bayr. Akad. XII 1, 173 f.
15 Genealogia, Collectio Pataviensis 5 Zeumer 459 (Rozière 318): datis
in vico et genealogia, quae dicuntur. S. noch die Citate bei Waitz I 83 Anm 3.
Bei den Angels. wird mægđ und cyđ für regio gebraucht. Gierke, GR I 61 Anm 1.
Sehr oft findet sich in Italien und in Frankreich das Wort fara in örtlicher An-
wendung. Für Italien s. die Beispiele bei Schupfer, L’allodio S 45. Im Cod.
dipl. Lang. Nr 464 v. J. 915 findet sich eine fara Libani, jetzt fara Olivana oder
Ulivana genannt. Nach Diez, Etym. WB bedeutet fara im Lombardischen ein
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[84/0102] § 13. Die Sippe. Da man die Knie oder Glieder nur auf einer Seite zählte, waren so- nach Geschwister im ersten, Geschwisterkinder im zweiten Knie oder Glied mit einander verwandt. Wenn man die Kniezählung erst bei der Magschaft im engeren Sinne, bei der Gabelung der Vater- und Muttermagen begann, so zählte als erstes Knie das der Groſseltern, waren also z. B. Geschwisterkinder im ersten Gliede verwandt 11. Im Wirtschaftsleben, im Heerwesen und im Rechte der Germanen hatte der Verband der Sippe eine weitreichende Bedeutung. Es hat eine Zeit gegeben, da die Sippe eine agrarische Genossenschaft war, indem die aufzuteilenden Stücke der Feldmark den einzelnen Sippen zur gemeinsamen Bewirtschaftung überwiesen wurden. In der nach- cäsarischen Zeit erscheint allerdings die räumlich geschlossene Dorf- schaft und nicht die Sippe als Eigentümer der Dorfmark, allein von der thatsächlichen Verknüpfung der Sippe mit den Grundbesitzverhältnissen zeigen sich noch in der fränkischen Periode deutliche Spuren. Das alamannische Volksrecht setzt den Fall, daſs zwei Sippen um die Grenzen ihrer Feldmark streiten 12. In einem althochdeutschen Ge- dichte wird der Streit an der Mark als ein Streit mit den Magen gedacht 13. In Baiern finden wir Geschlechter als solche (genealogiae) im Besitze von Ländereien, die sie veräuſsern 14. Ausdrücke, welche den Sippeverband bezeichnen (genealogia, fara, mægđ), werden in territorialer Anwendung gebraucht, um ein bestimmtes Gebiet oder einen Ort zu bezeichnen 15. In Niederdeutschland haben sich 11 Heusler, Institutionen II 592. 12 Lex Alam. Hlo. 87. 13 Muspilli bei Müllenhoff u. Scherer, Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem 8. bis 12. Jahrh., 2. Aufl., S 7 v. 60: Uuâr ist diu marha, dar man mit sînên mâgon piec? diu marha ist farprunnan. 14 Meichelbeck, Hist. Fris. I S 49 v. J. 750 läſst sich Bischof Josef von Freising Ländereien bei Erching von den Geschlechtern der Agilolfinger einerseits, der Fagana andererseits schenken und tradieren. Auf agilolfingischer Seite schenkt Tassilo consentientibus Alfrid cum fratribus suis et participibus eorum atque con- sortiis. Reliquas autem partes quicquid ad genealogiam quae vocatur Fagana pertinebat, tradiderunt ipsi, id sunt Ragino, Anulo, Wetti, Vurmhart et cuncti parti- cipes eorum. Weiter ist von fines utrorumque genealogiarum die Rede. Vgl. Graf Hundt in den Abh. der bayr. Akad. XII 1, 173 f. 15 Genealogia, Collectio Pataviensis 5 Zeumer 459 (Rozière 318): datis in vico et genealogia, quae dicuntur. S. noch die Citate bei Waitz I 83 Anm 3. Bei den Angels. wird mægđ und cyđ für regio gebraucht. Gierke, GR I 61 Anm 1. Sehr oft findet sich in Italien und in Frankreich das Wort fara in örtlicher An- wendung. Für Italien s. die Beispiele bei Schupfer, L’allodio S 45. Im Cod. dipl. Lang. Nr 464 v. J. 915 findet sich eine fara Libani, jetzt fara Olivana oder Ulivana genannt. Nach Diez, Etym. WB bedeutet fara im Lombardischen ein

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/102>, abgerufen am 22.11.2024.