Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 16. Die politischen Verbände.

Weit grössere Verbreitung als der Hundertschaftsbezirk hat der
Name des Hundertschaftsvorstehers. Er findet sich als centenarius
oder hunno bei den Franken und Alamannen 24, als hundredes ealdor
oder hundredes man bei den Angelsachsen 25, als Hundertschaftskönig
(heradskonungr) und Hundertschaftshäuptling (haeraths höfthinge) in
Norwegen und Schweden 26. Ihn kennen aber auch solche Stämme,
welchen die territoriale Hundertschaft fremd blieb, so die Baiern 27
und Westgoten 28 als centenarius, die Langobarden als centinus, cen-
turio, centenarius 29. Der altsächsische Heliand nennt einen Hunno 30.

Bei dieser Sachlage ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Hun-
dertschaft in germanischer Zeit nicht ein geographischer Begriff, son-
dern ein persönlicher Verband war, dem allenthalben ein Hundert-
schaftshäuptling vorstand, und dass sie erst in der folgenden Periode
bei einigen Stämmen landschaftliche Bedeutung erlangte, während bei
anderen diese Entwicklung nicht eintrat 31.

Die Hundertschaft ist ursprünglich als eine Abteilung von hundert
Heermännern zu denken. Solange sie ihre praktische Bedeutung be-
hielt, konnte eine Lokalisierung, ein Verwachsen der Hundertschaft
mit Grund und Boden nicht eintreten, weil die Einteilung mit Rück-
sicht auf ihre militärischen Zwecke von Zeit zu Zeit erneuert werden
musste. Man wird dabei nicht genau hundert oder hundertzwanzig
Mann (ein Grosshundert) abgezählt haben, weil es bei der Bildung
der Heeresabteilungen darauf ankam, die Geschlechtsverbände nicht

24 Lex Salica 44, 1; 46, 1. 4; 60, 1. Lex Alam. 28, 4; 36, 1. 5. Hunno für
centurio in Notkers Psalmenübersetzung, in alamannischen Glossen und in einer
bei Waitz I 218 Anm 2 citierten Einsiedler Urkunde von 1217.
25 Edgar IV 8. 10, I 2. 4. 5.
26 In Norwegen auch hersir. Lehmann, Königsfriede S 168.
27 Meichelbeck, Hist. Fris. I Nr 89 v. J. 764--784. Meich. Nr 404 v. J.
820 erwähnt einen Centenar aus Tassilos III. Zeit, der wiederum Centenar ist.
Lex Baiuw. II 5; Syn. Aschhaim. c. 11; LL III 458 (centuriones). Dass der alt-
bairische Centenar nicht ein Gerichtsbeamter ist, ergiebt die Vergleichung von Lex
Bai. II 14 mit Lex Alam. 36. Bairische Glossen bei Graff IV 976 haben hunnilih
für tribunalis.
28 Lex Wisig. IX 2, 1. Er ist Heerführer über Hundert. Ulfilas hat für
centurio hundafaths.
29 Ratchis 1. Cap. missorum I 67, c. 4. Öfter in langobardischen Urkunden:
Pabst, Forschungen II 500; Schupfer, Istituz. pol. long. S 328.
30 Heliand, herausg. von Sievers, Vers 2093 für centurio.
31 Konrad Maurer, KrÜ I 79 nimmt an, dass die Hundertschaft schon zur
Zeit des Tacitus territorialer Bezirk war, dass aber in den Stürmen der Völker-
wanderung die persönliche Bedeutung der Abteilung neuerdings auflebte und diese
bei erneuter Niederlassung des Volkes wiederum räumliche Bedeutung gewann.
§ 16. Die politischen Verbände.

Weit gröſsere Verbreitung als der Hundertschaftsbezirk hat der
Name des Hundertschaftsvorstehers. Er findet sich als centenarius
oder hunno bei den Franken und Alamannen 24, als hundredes ealdor
oder hundredes man bei den Angelsachsen 25, als Hundertschaftskönig
(herađskonungr) und Hundertschaftshäuptling (hæraþs höfþinge) in
Norwegen und Schweden 26. Ihn kennen aber auch solche Stämme,
welchen die territoriale Hundertschaft fremd blieb, so die Baiern 27
und Westgoten 28 als centenarius, die Langobarden als centinus, cen-
turio, centenarius 29. Der altsächsische Heliand nennt einen Hunno 30.

Bei dieser Sachlage ist es durchaus wahrscheinlich, daſs die Hun-
dertschaft in germanischer Zeit nicht ein geographischer Begriff, son-
dern ein persönlicher Verband war, dem allenthalben ein Hundert-
schaftshäuptling vorstand, und daſs sie erst in der folgenden Periode
bei einigen Stämmen landschaftliche Bedeutung erlangte, während bei
anderen diese Entwicklung nicht eintrat 31.

Die Hundertschaft ist ursprünglich als eine Abteilung von hundert
Heermännern zu denken. Solange sie ihre praktische Bedeutung be-
hielt, konnte eine Lokalisierung, ein Verwachsen der Hundertschaft
mit Grund und Boden nicht eintreten, weil die Einteilung mit Rück-
sicht auf ihre militärischen Zwecke von Zeit zu Zeit erneuert werden
muſste. Man wird dabei nicht genau hundert oder hundertzwanzig
Mann (ein Groſshundert) abgezählt haben, weil es bei der Bildung
der Heeresabteilungen darauf ankam, die Geschlechtsverbände nicht

24 Lex Salica 44, 1; 46, 1. 4; 60, 1. Lex Alam. 28, 4; 36, 1. 5. Hunno für
centurio in Notkers Psalmenübersetzung, in alamannischen Glossen und in einer
bei Waitz I 218 Anm 2 citierten Einsiedler Urkunde von 1217.
25 Edgar IV 8. 10, I 2. 4. 5.
26 In Norwegen auch hersir. Lehmann, Königsfriede S 168.
27 Meichelbeck, Hist. Fris. I Nr 89 v. J. 764—784. Meich. Nr 404 v. J.
820 erwähnt einen Centenar aus Tassilos III. Zeit, der wiederum Centenar ist.
Lex Baiuw. II 5; Syn. Aschhaim. c. 11; LL III 458 (centuriones). Daſs der alt-
bairische Centenar nicht ein Gerichtsbeamter ist, ergiebt die Vergleichung von Lex
Bai. II 14 mit Lex Alam. 36. Bairische Glossen bei Graff IV 976 haben hunnilih
für tribunalis.
28 Lex Wisig. IX 2, 1. Er ist Heerführer über Hundert. Ulfilas hat für
centurio hundafaþs.
29 Ratchis 1. Cap. missorum I 67, c. 4. Öfter in langobardischen Urkunden:
Pabst, Forschungen II 500; Schupfer, Istituz. pol. long. S 328.
30 Heliand, herausg. von Sievers, Vers 2093 für centurio.
31 Konrad Maurer, KrÜ I 79 nimmt an, daſs die Hundertschaft schon zur
Zeit des Tacitus territorialer Bezirk war, daſs aber in den Stürmen der Völker-
wanderung die persönliche Bedeutung der Abteilung neuerdings auflebte und diese
bei erneuter Niederlassung des Volkes wiederum räumliche Bedeutung gewann.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0136" n="118"/>
          <fw place="top" type="header">§ 16. Die politischen Verbände.</fw><lb/>
          <p>Weit grö&#x017F;sere Verbreitung als der Hundertschaftsbezirk hat der<lb/>
Name des Hundertschaftsvorstehers. Er findet sich als centenarius<lb/>
oder hunno bei den Franken und Alamannen <note place="foot" n="24">Lex Salica 44, 1; 46, 1. 4; 60, 1. Lex Alam. 28, 4; 36, 1. 5. Hunno für<lb/>
centurio in Notkers Psalmenübersetzung, in alamannischen Glossen und in einer<lb/>
bei <hi rendition="#g">Waitz</hi> I 218 Anm 2 citierten Einsiedler Urkunde von 1217.</note>, als hundredes ealdor<lb/>
oder hundredes man bei den Angelsachsen <note place="foot" n="25">Edgar IV 8. 10, I 2. 4. 5.</note>, als Hundertschaftskönig<lb/>
(hera&#x0111;skonungr) und Hundertschaftshäuptling (hæraþs höfþinge) in<lb/>
Norwegen und Schweden <note place="foot" n="26">In Norwegen auch hersir. <hi rendition="#g">Lehmann</hi>, Königsfriede S 168.</note>. Ihn kennen aber auch solche Stämme,<lb/>
welchen die territoriale Hundertschaft fremd blieb, so die Baiern <note place="foot" n="27"><hi rendition="#g">Meichelbeck</hi>, Hist. Fris. I Nr 89 v. J. 764&#x2014;784. <hi rendition="#g">Meich</hi>. Nr 404 v. J.<lb/>
820 erwähnt einen Centenar aus Tassilos III. Zeit, der wiederum Centenar ist.<lb/>
Lex Baiuw. II 5; Syn. Aschhaim. c. 11; LL III 458 (centuriones). Da&#x017F;s der alt-<lb/>
bairische Centenar nicht ein Gerichtsbeamter ist, ergiebt die Vergleichung von Lex<lb/>
Bai. II 14 mit Lex Alam. 36. Bairische Glossen bei <hi rendition="#g">Graff</hi> IV 976 haben hunnilih<lb/>
für tribunalis.</note><lb/>
und Westgoten <note place="foot" n="28">Lex Wisig. IX 2, 1. Er ist Heerführer über Hundert. Ulfilas hat für<lb/>
centurio hundafaþs.</note> als centenarius, die Langobarden als centinus, cen-<lb/>
turio, centenarius <note place="foot" n="29">Ratchis 1. Cap. missorum I 67, c. 4. Öfter in langobardischen Urkunden:<lb/><hi rendition="#g">Pabst</hi>, Forschungen II 500; <hi rendition="#g">Schupfer</hi>, Istituz. pol. long. S 328.</note>. Der altsächsische Heliand nennt einen Hunno <note place="foot" n="30">Heliand, herausg. von <hi rendition="#g">Sievers</hi>, Vers 2093 für centurio.</note>.</p><lb/>
          <p>Bei dieser Sachlage ist es durchaus wahrscheinlich, da&#x017F;s die Hun-<lb/>
dertschaft in germanischer Zeit nicht ein geographischer Begriff, son-<lb/>
dern ein persönlicher Verband war, dem allenthalben ein Hundert-<lb/>
schaftshäuptling vorstand, und da&#x017F;s sie erst in der folgenden Periode<lb/>
bei einigen Stämmen landschaftliche Bedeutung erlangte, während bei<lb/>
anderen diese Entwicklung nicht eintrat <note place="foot" n="31"><hi rendition="#g">Konrad Maurer</hi>, KrÜ I 79 nimmt an, da&#x017F;s die Hundertschaft schon zur<lb/>
Zeit des Tacitus territorialer Bezirk war, da&#x017F;s aber in den Stürmen der Völker-<lb/>
wanderung die persönliche Bedeutung der Abteilung neuerdings auflebte und diese<lb/>
bei erneuter Niederlassung des Volkes wiederum räumliche Bedeutung gewann.</note>.</p><lb/>
          <p>Die Hundertschaft ist ursprünglich als eine Abteilung von hundert<lb/>
Heermännern zu denken. Solange sie ihre praktische Bedeutung be-<lb/>
hielt, konnte eine Lokalisierung, ein Verwachsen der Hundertschaft<lb/>
mit Grund und Boden nicht eintreten, weil die Einteilung mit Rück-<lb/>
sicht auf ihre militärischen Zwecke von Zeit zu Zeit erneuert werden<lb/>
mu&#x017F;ste. Man wird dabei nicht genau hundert oder hundertzwanzig<lb/>
Mann (ein Gro&#x017F;shundert) abgezählt haben, weil es bei der Bildung<lb/>
der Heeresabteilungen darauf ankam, die Geschlechtsverbände nicht<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0136] § 16. Die politischen Verbände. Weit gröſsere Verbreitung als der Hundertschaftsbezirk hat der Name des Hundertschaftsvorstehers. Er findet sich als centenarius oder hunno bei den Franken und Alamannen 24, als hundredes ealdor oder hundredes man bei den Angelsachsen 25, als Hundertschaftskönig (herađskonungr) und Hundertschaftshäuptling (hæraþs höfþinge) in Norwegen und Schweden 26. Ihn kennen aber auch solche Stämme, welchen die territoriale Hundertschaft fremd blieb, so die Baiern 27 und Westgoten 28 als centenarius, die Langobarden als centinus, cen- turio, centenarius 29. Der altsächsische Heliand nennt einen Hunno 30. Bei dieser Sachlage ist es durchaus wahrscheinlich, daſs die Hun- dertschaft in germanischer Zeit nicht ein geographischer Begriff, son- dern ein persönlicher Verband war, dem allenthalben ein Hundert- schaftshäuptling vorstand, und daſs sie erst in der folgenden Periode bei einigen Stämmen landschaftliche Bedeutung erlangte, während bei anderen diese Entwicklung nicht eintrat 31. Die Hundertschaft ist ursprünglich als eine Abteilung von hundert Heermännern zu denken. Solange sie ihre praktische Bedeutung be- hielt, konnte eine Lokalisierung, ein Verwachsen der Hundertschaft mit Grund und Boden nicht eintreten, weil die Einteilung mit Rück- sicht auf ihre militärischen Zwecke von Zeit zu Zeit erneuert werden muſste. Man wird dabei nicht genau hundert oder hundertzwanzig Mann (ein Groſshundert) abgezählt haben, weil es bei der Bildung der Heeresabteilungen darauf ankam, die Geschlechtsverbände nicht 24 Lex Salica 44, 1; 46, 1. 4; 60, 1. Lex Alam. 28, 4; 36, 1. 5. Hunno für centurio in Notkers Psalmenübersetzung, in alamannischen Glossen und in einer bei Waitz I 218 Anm 2 citierten Einsiedler Urkunde von 1217. 25 Edgar IV 8. 10, I 2. 4. 5. 26 In Norwegen auch hersir. Lehmann, Königsfriede S 168. 27 Meichelbeck, Hist. Fris. I Nr 89 v. J. 764—784. Meich. Nr 404 v. J. 820 erwähnt einen Centenar aus Tassilos III. Zeit, der wiederum Centenar ist. Lex Baiuw. II 5; Syn. Aschhaim. c. 11; LL III 458 (centuriones). Daſs der alt- bairische Centenar nicht ein Gerichtsbeamter ist, ergiebt die Vergleichung von Lex Bai. II 14 mit Lex Alam. 36. Bairische Glossen bei Graff IV 976 haben hunnilih für tribunalis. 28 Lex Wisig. IX 2, 1. Er ist Heerführer über Hundert. Ulfilas hat für centurio hundafaþs. 29 Ratchis 1. Cap. missorum I 67, c. 4. Öfter in langobardischen Urkunden: Pabst, Forschungen II 500; Schupfer, Istituz. pol. long. S 328. 30 Heliand, herausg. von Sievers, Vers 2093 für centurio. 31 Konrad Maurer, KrÜ I 79 nimmt an, daſs die Hundertschaft schon zur Zeit des Tacitus territorialer Bezirk war, daſs aber in den Stürmen der Völker- wanderung die persönliche Bedeutung der Abteilung neuerdings auflebte und diese bei erneuter Niederlassung des Volkes wiederum räumliche Bedeutung gewann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/136
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/136>, abgerufen am 09.11.2024.