Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod. got. afdomjan, ahd. farwazan, alts. forwatan 33 werden einerseits fürverurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht 34. Die Friedlosigkeit schliesst in ältester Zeit die Tötung und die 33 Farwazanei, altniederd. farwatanussei = anathema, exsecratio. Verdoemen ende verwaten in Reinaert 853. Ebenda 2734: met enen verwatenen ballinghe. Die althochd. Glosse Steinmeyer u. Sievers I 275, 38 übersetzt condemnabitur mit fartribaner wirdit. 34 Fluchen ist nach Grimm, WB III 1829 seiner Grundbedeutung nach so viel wie verstossen, nach Kluge, WB S 85 beklagen. 35 Mit dem Vorbehalte, dass die Vollstreckung der Friedlosigkeit kein wahres Rechtsverfahren ist. Vgl. unten S 183, Anm 21. 36 So nach norwegischem Rechte wegen des im Ding verübten Totschlags. Wilda, Strafr. S 285. 37 Diesen Charakter hat die Verfestung des Ssp und der verwandten Rechts-
quellen. Sie ist Friedloslegung, denn sie nimmt innerhalb des Bezirks des ver- § 22. Friedlosigkeit und Opfertod. got. afdomjan, ahd. farwâzan, alts. forwâtan 33 werden einerseits fürverurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht 34. Die Friedlosigkeit schlieſst in ältester Zeit die Tötung und die 33 Farwâzanî, altniederd. farwâtanussî = anathema, exsecratio. Verdoemen ende verwaten in Reinaert 853. Ebenda 2734: met enen verwatenen ballinghe. Die althochd. Glosse Steinmeyer u. Sievers I 275, 38 übersetzt condemnabitur mit fartribaner wirdit. 34 Fluchen ist nach Grimm, WB III 1829 seiner Grundbedeutung nach so viel wie verstoſsen, nach Kluge, WB S 85 beklagen. 35 Mit dem Vorbehalte, daſs die Vollstreckung der Friedlosigkeit kein wahres Rechtsverfahren ist. Vgl. unten S 183, Anm 21. 36 So nach norwegischem Rechte wegen des im Ding verübten Totschlags. Wilda, Strafr. S 285. 37 Diesen Charakter hat die Verfestung des Ssp und der verwandten Rechts-
quellen. Sie ist Friedloslegung, denn sie nimmt innerhalb des Bezirks des ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0191" n="173"/><fw place="top" type="header">§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.</fw><lb/> got. afdomjan, ahd. farwâzan, alts. forwâtan <note place="foot" n="33">Farwâzanî, altniederd. farwâtanussî = anathema, exsecratio. Verdoemen<lb/> ende verwaten in Reinaert 853. Ebenda 2734: met enen verwatenen ballinghe. Die<lb/> althochd. Glosse <hi rendition="#g">Steinmeyer u. Sievers</hi> I 275, 38 übersetzt condemnabitur mit<lb/> fartribaner wirdit.</note> werden einerseits für<lb/> verurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht <note place="foot" n="34">Fluchen ist nach <hi rendition="#g">Grimm</hi>, WB III 1829 seiner Grundbedeutung nach so<lb/> viel wie verstoſsen, nach <hi rendition="#g">Kluge</hi>, WB S 85 beklagen.</note>.</p><lb/> <p>Die Friedlosigkeit schlieſst in ältester Zeit die Tötung und die<lb/> Verbannung, die Strafknechtschaft, die Vermögenseinziehung und den<lb/> Hausbrand in sich, die sich später als selbständige Strafen von ihr<lb/> abgespalten haben. In engem geschichtlichen Zusammenhange steht<lb/> die Friedlosigkeit mit den Todesstrafen. Man darf die Friedloslegung<lb/> geradezu als das Todesurteil einer Rechtsgenossenschaft bezeichnen <note place="foot" n="35">Mit dem Vorbehalte, daſs die Vollstreckung der Friedlosigkeit kein wahres<lb/> Rechtsverfahren ist. Vgl. unten S 183, Anm 21.</note>,<lb/> welche die Verfolgung und Tötung des Verbrechers nicht bestimmten<lb/> Polizeiorganen, etwa beamteten Schergen, sondern sämtlichen Rechts-<lb/> genossen überläſst. Nach den nordischen Rechten sollte das Todes-<lb/> urteil, welches die Friedloslegung enthielt, erst binnen einer gewissen<lb/> Frist wirksam werden. In der Regel gönnte man dem Verurteilten<lb/> die Zeit zur Flucht. Er sollte erst getötet werden dürfen, wenn das<lb/> Gericht beendigt war, welches die Friedlosigkeit ausgesprochen hatte.<lb/> Offenbar sollte die Situation des Angeklagten nicht dadurch ver-<lb/> schlimmert werden, daſs er sich freiwillig vor Gericht stellte. Andern-<lb/> falls hätte man auf das Fernbleiben des Schuldigen eine Prämie<lb/> gesetzt. Wurde die Frist zur Flucht versagt <note place="foot" n="36">So nach norwegischem Rechte wegen des im Ding verübten Totschlags.<lb/><hi rendition="#g">Wilda</hi>, Strafr. S 285.</note> oder wurde der Misse-<lb/> thäter auf handhafter That ertappt, so setzte sich die Friedlosigkeit<lb/> thatsächlich sofort in die Todesstrafe um. Gegen den flüchtigen Ver-<lb/> brecher war — wenn wir uns in ein Gemeinwesen ohne Polizei<lb/> hineindenken — ein Todesurteil nur in der Form der Friedloslegung<lb/> wirksam, weil erst durch diese der einzelne Volksgenosse die Erlaubnis<lb/> erhielt, den Missethäter zu verfolgen, sich seiner zu bemächtigen, ihn<lb/> zu töten. Eine Beschränkung der allgemeinen Tötungsbefugnis, wie sie<lb/> mit der Friedlosigkeit ursprünglich regelmäſsig gegeben war, hebt an<lb/> sich den Begriff der Friedlosigkeit nicht auf. Jüngere Quellen kennen<lb/> eine Friedlosigkeit, die sich nur in dem allgemeinen Rechte der Fest-<lb/> nahme des Verurteilten äuſsert <note xml:id="note-0191" next="#note-0192" place="foot" n="37">Diesen Charakter hat die Verfestung des Ssp und der verwandten Rechts-<lb/> quellen. Sie ist Friedloslegung, denn sie nimmt innerhalb des Bezirks des ver-</note> oder die Tötung dem Verletzten<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [173/0191]
§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
got. afdomjan, ahd. farwâzan, alts. forwâtan 33 werden einerseits für
verurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht 34.
Die Friedlosigkeit schlieſst in ältester Zeit die Tötung und die
Verbannung, die Strafknechtschaft, die Vermögenseinziehung und den
Hausbrand in sich, die sich später als selbständige Strafen von ihr
abgespalten haben. In engem geschichtlichen Zusammenhange steht
die Friedlosigkeit mit den Todesstrafen. Man darf die Friedloslegung
geradezu als das Todesurteil einer Rechtsgenossenschaft bezeichnen 35,
welche die Verfolgung und Tötung des Verbrechers nicht bestimmten
Polizeiorganen, etwa beamteten Schergen, sondern sämtlichen Rechts-
genossen überläſst. Nach den nordischen Rechten sollte das Todes-
urteil, welches die Friedloslegung enthielt, erst binnen einer gewissen
Frist wirksam werden. In der Regel gönnte man dem Verurteilten
die Zeit zur Flucht. Er sollte erst getötet werden dürfen, wenn das
Gericht beendigt war, welches die Friedlosigkeit ausgesprochen hatte.
Offenbar sollte die Situation des Angeklagten nicht dadurch ver-
schlimmert werden, daſs er sich freiwillig vor Gericht stellte. Andern-
falls hätte man auf das Fernbleiben des Schuldigen eine Prämie
gesetzt. Wurde die Frist zur Flucht versagt 36 oder wurde der Misse-
thäter auf handhafter That ertappt, so setzte sich die Friedlosigkeit
thatsächlich sofort in die Todesstrafe um. Gegen den flüchtigen Ver-
brecher war — wenn wir uns in ein Gemeinwesen ohne Polizei
hineindenken — ein Todesurteil nur in der Form der Friedloslegung
wirksam, weil erst durch diese der einzelne Volksgenosse die Erlaubnis
erhielt, den Missethäter zu verfolgen, sich seiner zu bemächtigen, ihn
zu töten. Eine Beschränkung der allgemeinen Tötungsbefugnis, wie sie
mit der Friedlosigkeit ursprünglich regelmäſsig gegeben war, hebt an
sich den Begriff der Friedlosigkeit nicht auf. Jüngere Quellen kennen
eine Friedlosigkeit, die sich nur in dem allgemeinen Rechte der Fest-
nahme des Verurteilten äuſsert 37 oder die Tötung dem Verletzten
33 Farwâzanî, altniederd. farwâtanussî = anathema, exsecratio. Verdoemen
ende verwaten in Reinaert 853. Ebenda 2734: met enen verwatenen ballinghe. Die
althochd. Glosse Steinmeyer u. Sievers I 275, 38 übersetzt condemnabitur mit
fartribaner wirdit.
34 Fluchen ist nach Grimm, WB III 1829 seiner Grundbedeutung nach so
viel wie verstoſsen, nach Kluge, WB S 85 beklagen.
35 Mit dem Vorbehalte, daſs die Vollstreckung der Friedlosigkeit kein wahres
Rechtsverfahren ist. Vgl. unten S 183, Anm 21.
36 So nach norwegischem Rechte wegen des im Ding verübten Totschlags.
Wilda, Strafr. S 285.
37 Diesen Charakter hat die Verfestung des Ssp und der verwandten Rechts-
quellen. Sie ist Friedloslegung, denn sie nimmt innerhalb des Bezirks des ver-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |