Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 42. Die Lex Baiuwariorum.
gotische Gesetzbuch hat den Verfassern des Baiernrechtes in der Form
der Leges antiquae vorgelegen und zwar in jener Form, die es unter
König Eurich erhalten hatte10). In den Gebieten Galliens, die das
westgotische Reich infolge der Niederlage Alarichs II. hatte aufgeben
müssen, waren die westgotischen Leges antiquae nach wie vor in
Kraft geblieben, auch nachdem im Westgotenreiche unter König
Reckessuinth die älteren westgotischen Königsgesetze durch die Lex
Wisigothorum ersetzt worden waren. Die Redaktoren der Lex Baiu-
wariorum haben die westgotische Rechtsquelle im allgemeinen mit
Mass und Verständnis benutzt. Soweit sie positive Rechtssätze ent-
lehnten, wussten sie Widersprüche gegen jene Bestimmungen ihrer
Lex zu vermeiden, welche einheimisches Recht enthielten oder dem
alamannischen Volksrechte entstammten11). Als auffallend erscheint
bloss die Aufnahme der dem bairischen Rechte fremdartigen Beweis-
regel des Westgotenrechtes, dass der Eid nur in Ermangelung anderen
Beweismaterials zugelassen werden solle, eines Grundsatzes, der bei

nutzung von Lex Wisig. VII 3, 1 (nach Cod. Legion. Antiqua). Vgl. ferner II 5
mit Lex Wisig. VIII 1, 9; II 17, 18 mit Lex Wisig. II 1, 20.
10) Über die Gesetze König Eurichs, die uns in einer Anzahl von Fragmenten
überliefert sind, s. unten § 43. Vergleicht man die Lex Baiuw. mit den Fragmenten
und mit der Lex Wisig., so zeigt sich, dass sie mit ersteren nicht nur in der An-
ordnung übereinstimmt (Fr. 286--297 finden sich in Lex Baiuw. XVI 2--10 in der-
selben Reihenfolge), sondern dass sie auch dem Wortlaut der Fragmente viel näher
steht wie jener Fassung, welche die Leges antiquae in der Lex Wisig. erhielten.
Zu Lex Baiuw. XVI 3 findet sich die Parallelstelle nur in Fr. 287, nicht in der
Lex Wisig. (aufgehoben von Chindasuinth Lex Wisig. V 4, 13). Von den korre-
spondierenden Stellen des bairischen und des westgotischen Gesetzbuchs ist uns
etwa die Hälfte aus den Fragmenten bekannt. Die übrigen finden sich nur in
Titeln der Lex Wisigothorum, von welchen die meisten die Überschrift Antiqua
tragen, während einige keine Inskriptio oder handschriftlich unsichere Inskriptionen
haben.
11) Solche Widersprüche behauptet Roth, Zur Gesch. des bayr. Volksr. S 8 f.
Er führt an Lex Baiuw. IX 4 u. XVI 5. Allein IX 4 aus Lex Alam. 46 behandelt
das Verhältnis des Verkäufers zum Verkauften, XVI 5 aus Fr. 290 auch das des
Verkäufers zum Käufer. Die dem letzteren zu zahlende poena dupli war im Titel
de furto zu erwähnen kein Anlass. Ferner IX 7 u. IX 14. Ein Widerspruch liegt
nicht vor, da die erste Stelle den unwissentlichen, die zweite den wissentlichen
Ankauf einer gestohlenen Sache behandelt. Ebensowenig widersprechen sich XVI 1
und XVI 4, denn die duo consimiles in 1 vertreten die poena dupli in 4. Auch
die Bestimmungen über Abtreibung der Leibesfrucht VIII 19. 20 vertragen sich
mit einander: VIII 19 statuiert die Zahlung des Wergelds; VIII 20 sagt wie es be-
zahlt wird, nämlich 12 solidi sofort, das übrige durch eine jährliche Busse von
1 solidus, zu welcher der Verbrecher und seine Nachkommen bis in das siebente
Glied verpflichtet sind, donec series rationabiles inpleatur.

§ 42. Die Lex Baiuwariorum.
gotische Gesetzbuch hat den Verfassern des Baiernrechtes in der Form
der Leges antiquae vorgelegen und zwar in jener Form, die es unter
König Eurich erhalten hatte10). In den Gebieten Galliens, die das
westgotische Reich infolge der Niederlage Alarichs II. hatte aufgeben
müssen, waren die westgotischen Leges antiquae nach wie vor in
Kraft geblieben, auch nachdem im Westgotenreiche unter König
Reckessuinth die älteren westgotischen Königsgesetze durch die Lex
Wisigothorum ersetzt worden waren. Die Redaktoren der Lex Baiu-
wariorum haben die westgotische Rechtsquelle im allgemeinen mit
Maſs und Verständnis benutzt. Soweit sie positive Rechtssätze ent-
lehnten, wuſsten sie Widersprüche gegen jene Bestimmungen ihrer
Lex zu vermeiden, welche einheimisches Recht enthielten oder dem
alamannischen Volksrechte entstammten11). Als auffallend erscheint
bloſs die Aufnahme der dem bairischen Rechte fremdartigen Beweis-
regel des Westgotenrechtes, dass der Eid nur in Ermangelung anderen
Beweismaterials zugelassen werden solle, eines Grundsatzes, der bei

nutzung von Lex Wisig. VII 3, 1 (nach Cod. Legion. Antiqua). Vgl. ferner II 5
mit Lex Wisig. VIII 1, 9; II 17, 18 mit Lex Wisig. II 1, 20.
10) Über die Gesetze König Eurichs, die uns in einer Anzahl von Fragmenten
überliefert sind, s. unten § 43. Vergleicht man die Lex Baiuw. mit den Fragmenten
und mit der Lex Wisig., so zeigt sich, daſs sie mit ersteren nicht nur in der An-
ordnung übereinstimmt (Fr. 286—297 finden sich in Lex Baiuw. XVI 2—10 in der-
selben Reihenfolge), sondern daſs sie auch dem Wortlaut der Fragmente viel näher
steht wie jener Fassung, welche die Leges antiquae in der Lex Wisig. erhielten.
Zu Lex Baiuw. XVI 3 findet sich die Parallelstelle nur in Fr. 287, nicht in der
Lex Wisig. (aufgehoben von Chindasuinth Lex Wisig. V 4, 13). Von den korre-
spondierenden Stellen des bairischen und des westgotischen Gesetzbuchs ist uns
etwa die Hälfte aus den Fragmenten bekannt. Die übrigen finden sich nur in
Titeln der Lex Wisigothorum, von welchen die meisten die Überschrift Antiqua
tragen, während einige keine Inskriptio oder handschriftlich unsichere Inskriptionen
haben.
11) Solche Widersprüche behauptet Roth, Zur Gesch. des bayr. Volksr. S 8 f.
Er führt an Lex Baiuw. IX 4 u. XVI 5. Allein IX 4 aus Lex Alam. 46 behandelt
das Verhältnis des Verkäufers zum Verkauften, XVI 5 aus Fr. 290 auch das des
Verkäufers zum Käufer. Die dem letzteren zu zahlende poena dupli war im Titel
de furto zu erwähnen kein Anlaſs. Ferner IX 7 u. IX 14. Ein Widerspruch liegt
nicht vor, da die erste Stelle den unwissentlichen, die zweite den wissentlichen
Ankauf einer gestohlenen Sache behandelt. Ebensowenig widersprechen sich XVI 1
und XVI 4, denn die duo consimiles in 1 vertreten die poena dupli in 4. Auch
die Bestimmungen über Abtreibung der Leibesfrucht VIII 19. 20 vertragen sich
mit einander: VIII 19 statuiert die Zahlung des Wergelds; VIII 20 sagt wie es be-
zahlt wird, nämlich 12 solidi sofort, das übrige durch eine jährliche Buſse von
1 solidus, zu welcher der Verbrecher und seine Nachkommen bis in das siebente
Glied verpflichtet sind, donec series rationabiles inpleatur.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0333" n="315"/><fw place="top" type="header">§ 42. Die Lex Baiuwariorum.</fw><lb/>
gotische Gesetzbuch hat den Verfassern des Baiernrechtes in der Form<lb/>
der Leges antiquae vorgelegen und zwar in jener Form, die es unter<lb/>
König Eurich erhalten hatte<note place="foot" n="10)">Über die Gesetze König Eurichs, die uns in einer Anzahl von Fragmenten<lb/>
überliefert sind, s. unten § 43. Vergleicht man die Lex Baiuw. mit den Fragmenten<lb/>
und mit der Lex Wisig., so zeigt sich, da&#x017F;s sie mit ersteren nicht nur in der An-<lb/>
ordnung übereinstimmt (Fr. 286&#x2014;297 finden sich in Lex Baiuw. XVI 2&#x2014;10 in der-<lb/>
selben Reihenfolge), sondern da&#x017F;s sie auch dem Wortlaut der Fragmente viel näher<lb/>
steht wie jener Fassung, welche die Leges antiquae in der Lex Wisig. erhielten.<lb/>
Zu Lex Baiuw. XVI 3 findet sich die Parallelstelle nur in Fr. 287, nicht in der<lb/>
Lex Wisig. (aufgehoben von Chindasuinth Lex Wisig. V 4, 13). Von den korre-<lb/>
spondierenden Stellen des bairischen und des westgotischen Gesetzbuchs ist uns<lb/>
etwa die Hälfte aus den Fragmenten bekannt. Die übrigen finden sich nur in<lb/>
Titeln der Lex Wisigothorum, von welchen die meisten die Überschrift Antiqua<lb/>
tragen, während einige keine Inskriptio oder handschriftlich unsichere Inskriptionen<lb/>
haben.</note>. In den Gebieten Galliens, die das<lb/>
westgotische Reich infolge der Niederlage Alarichs II. hatte aufgeben<lb/>
müssen, waren die westgotischen Leges antiquae nach wie vor in<lb/>
Kraft geblieben, auch nachdem im Westgotenreiche unter König<lb/>
Reckessuinth die älteren westgotischen Königsgesetze durch die Lex<lb/>
Wisigothorum ersetzt worden waren. Die Redaktoren der Lex Baiu-<lb/>
wariorum haben die westgotische Rechtsquelle im allgemeinen mit<lb/>
Ma&#x017F;s und Verständnis benutzt. Soweit sie positive Rechtssätze ent-<lb/>
lehnten, wu&#x017F;sten sie Widersprüche gegen jene Bestimmungen ihrer<lb/>
Lex zu vermeiden, welche einheimisches Recht enthielten oder dem<lb/>
alamannischen Volksrechte entstammten<note place="foot" n="11)">Solche Widersprüche behauptet <hi rendition="#g">Roth,</hi> Zur Gesch. des bayr. Volksr. S 8 f.<lb/>
Er führt an Lex Baiuw. IX 4 u. XVI 5. Allein IX 4 aus Lex Alam. 46 behandelt<lb/>
das Verhältnis des Verkäufers zum Verkauften, XVI 5 aus Fr. 290 auch das des<lb/>
Verkäufers zum Käufer. Die dem letzteren zu zahlende poena dupli war im Titel<lb/>
de furto zu erwähnen kein Anla&#x017F;s. Ferner IX 7 u. IX 14. Ein Widerspruch liegt<lb/>
nicht vor, da die erste Stelle den unwissentlichen, die zweite den wissentlichen<lb/>
Ankauf einer gestohlenen Sache behandelt. Ebensowenig widersprechen sich XVI 1<lb/>
und XVI 4, denn die duo consimiles in 1 vertreten die poena dupli in 4. Auch<lb/>
die Bestimmungen über Abtreibung der Leibesfrucht VIII 19. 20 vertragen sich<lb/>
mit einander: VIII 19 statuiert die Zahlung des Wergelds; VIII 20 sagt wie es be-<lb/>
zahlt wird, nämlich 12 solidi sofort, das übrige durch eine jährliche Bu&#x017F;se von<lb/>
1 solidus, zu welcher der Verbrecher und seine Nachkommen bis in das siebente<lb/>
Glied verpflichtet sind, donec series rationabiles inpleatur.</note>. Als auffallend erscheint<lb/>
blo&#x017F;s die Aufnahme der dem bairischen Rechte fremdartigen Beweis-<lb/>
regel des Westgotenrechtes, dass der Eid nur in Ermangelung anderen<lb/>
Beweismaterials zugelassen werden solle, eines Grundsatzes, der bei<lb/><note xml:id="seg2pn_16_2" prev="#seg2pn_16_1" place="foot" n="9)">nutzung von Lex Wisig. VII 3, 1 (nach Cod. Legion. Antiqua). Vgl. ferner II 5<lb/>
mit Lex Wisig. VIII 1, 9; II 17, 18 mit Lex Wisig. II 1, 20.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[315/0333] § 42. Die Lex Baiuwariorum. gotische Gesetzbuch hat den Verfassern des Baiernrechtes in der Form der Leges antiquae vorgelegen und zwar in jener Form, die es unter König Eurich erhalten hatte 10). In den Gebieten Galliens, die das westgotische Reich infolge der Niederlage Alarichs II. hatte aufgeben müssen, waren die westgotischen Leges antiquae nach wie vor in Kraft geblieben, auch nachdem im Westgotenreiche unter König Reckessuinth die älteren westgotischen Königsgesetze durch die Lex Wisigothorum ersetzt worden waren. Die Redaktoren der Lex Baiu- wariorum haben die westgotische Rechtsquelle im allgemeinen mit Maſs und Verständnis benutzt. Soweit sie positive Rechtssätze ent- lehnten, wuſsten sie Widersprüche gegen jene Bestimmungen ihrer Lex zu vermeiden, welche einheimisches Recht enthielten oder dem alamannischen Volksrechte entstammten 11). Als auffallend erscheint bloſs die Aufnahme der dem bairischen Rechte fremdartigen Beweis- regel des Westgotenrechtes, dass der Eid nur in Ermangelung anderen Beweismaterials zugelassen werden solle, eines Grundsatzes, der bei 9) 10) Über die Gesetze König Eurichs, die uns in einer Anzahl von Fragmenten überliefert sind, s. unten § 43. Vergleicht man die Lex Baiuw. mit den Fragmenten und mit der Lex Wisig., so zeigt sich, daſs sie mit ersteren nicht nur in der An- ordnung übereinstimmt (Fr. 286—297 finden sich in Lex Baiuw. XVI 2—10 in der- selben Reihenfolge), sondern daſs sie auch dem Wortlaut der Fragmente viel näher steht wie jener Fassung, welche die Leges antiquae in der Lex Wisig. erhielten. Zu Lex Baiuw. XVI 3 findet sich die Parallelstelle nur in Fr. 287, nicht in der Lex Wisig. (aufgehoben von Chindasuinth Lex Wisig. V 4, 13). Von den korre- spondierenden Stellen des bairischen und des westgotischen Gesetzbuchs ist uns etwa die Hälfte aus den Fragmenten bekannt. Die übrigen finden sich nur in Titeln der Lex Wisigothorum, von welchen die meisten die Überschrift Antiqua tragen, während einige keine Inskriptio oder handschriftlich unsichere Inskriptionen haben. 11) Solche Widersprüche behauptet Roth, Zur Gesch. des bayr. Volksr. S 8 f. Er führt an Lex Baiuw. IX 4 u. XVI 5. Allein IX 4 aus Lex Alam. 46 behandelt das Verhältnis des Verkäufers zum Verkauften, XVI 5 aus Fr. 290 auch das des Verkäufers zum Käufer. Die dem letzteren zu zahlende poena dupli war im Titel de furto zu erwähnen kein Anlaſs. Ferner IX 7 u. IX 14. Ein Widerspruch liegt nicht vor, da die erste Stelle den unwissentlichen, die zweite den wissentlichen Ankauf einer gestohlenen Sache behandelt. Ebensowenig widersprechen sich XVI 1 und XVI 4, denn die duo consimiles in 1 vertreten die poena dupli in 4. Auch die Bestimmungen über Abtreibung der Leibesfrucht VIII 19. 20 vertragen sich mit einander: VIII 19 statuiert die Zahlung des Wergelds; VIII 20 sagt wie es be- zahlt wird, nämlich 12 solidi sofort, das übrige durch eine jährliche Buſse von 1 solidus, zu welcher der Verbrecher und seine Nachkommen bis in das siebente Glied verpflichtet sind, donec series rationabiles inpleatur. 9) nutzung von Lex Wisig. VII 3, 1 (nach Cod. Legion. Antiqua). Vgl. ferner II 5 mit Lex Wisig. VIII 1, 9; II 17, 18 mit Lex Wisig. II 1, 20.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/333
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/333>, abgerufen am 24.11.2024.