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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 77. Das Königsgericht.

Ständigen Sitz hatte das Königsgericht nicht. Es tagte an dem
Orte, wo der König sich gerade aufhielt. Da dieser, schon aus Rück-
sicht auf die Naturalverpflegung des Hofstaates, von einer Pfalz zur
anderen wandern musste, war das Königsgericht von Hause aus ein
wanderndes Gericht.

Die Sitzungen des Königsgerichtes wurden in merowingischer Zeit
mit dreitägiger Dauer zu Anfang jedes Monats abgehalten 9. Unter
den Karolingern tagte das Königsgericht nach Bedürfnis und Lage der
Sache, ohne sich an jenen ständigen Sitzungstermin zu binden 10.
Ludwig I. und Lothar I. versprachen, allwöchentlich Gericht zu halten.

Der König ist als Richter mit ausserordentlicher Gerichtsgewalt
ausgerüstet. Das Königsgericht ist in seinen Entscheidungen nicht
an die strengen Grundsätze des Volksrechtes gebunden. Denn der
König kann Billigkeit walten und die Streitsache ex aequitate ent-
scheiden lassen. Als Billigkeitsgerichtshof wird uns schon das mero-
wingische Königsgericht durch die oben besprochene Reklamations-
klausel der Mundbriefe bezeugt 11. Für die karolingische Zeit haben
wir in Hinkmars Schrift über die Hofordnung die bestimmte Nach-
richt, dass Streitsachen propter aequitatis iudicium an den Hof ge-
langten und dass Rechtsfälle, für welche das Volksrecht zu strenge
war, zur Milderung (moderatio) vor den König gebracht wurden 12.

Tur. Hist. Franc. VII 23, VIII 12, IX 19. Ebensowenig lässt sich aufrechthalten,
dass Ludwig I. im Anschluss an eine schon von seinem Vater eingeschlagene Rich-
tung in Civilsachen aus eigener Machtvollkommenheit entschied, ohne ein förmliches
Königsgericht heranzuziehen. In den Urkunden, die zu solcher Schlussfolgerung
Anlass geben könnten, handelt es sich um Verzichte auf fiskalische Ansprüche und
um Übergriffe weltlicher oder geistlicher Beamten, über die es der König zu einem
eigentlichen Rechtsstreite nicht kommen liess, indem er die betreffende Angelegen-
heit im Verwaltungswege ordnete oder ordnen liess. Aus derartigen Verfügungen
und etwa aus Gnadensachen erklärt sich wohl auch die befremdende Bemerkung
Einhards, Vita Karoli c. 24, dass Karl der Grosse während des Ankleidens Rechts-
sachen entschieden habe.
9 Die Ladungen lauten in den indiculi der merowingischen Formelsammlungen
auf die Kalenden. Marculf I 28. 29. 37 und noch Form. Tur. 33. Vgl. Pertz,
Dipl. M. Nr. 60. Waitz, VG II 2, S. 194.
10 Die Stelle in Marculf I 29: Kalendas illas proximas, ändert die karolin-
gische Bearbeitung des Marculf (I 18) in 'die mensis illius illo'. Statt Kalendas
in Marculf I 28 heisst es in der verwandten Carta Senon. 18: super noctes tantas.
11 Siehe oben S. 50. 52.
12 Hincmar, De ordine pal. c. 21: comitis palatii .. in hoc maxime solli-
citudo erat, ut omnes contentiones legales, quae alibi ortae propter aequitatis iudi-
cium palatium aggrediebantur, iuste ac rationabiliter determinaret seu perverse iudi-
cata ad aequitatis tramitem reduceret ... Si quid vero tale esset, quod ... secun-
§ 77. Das Königsgericht.

Ständigen Sitz hatte das Königsgericht nicht. Es tagte an dem
Orte, wo der König sich gerade aufhielt. Da dieser, schon aus Rück-
sicht auf die Naturalverpflegung des Hofstaates, von einer Pfalz zur
anderen wandern muſste, war das Königsgericht von Hause aus ein
wanderndes Gericht.

Die Sitzungen des Königsgerichtes wurden in merowingischer Zeit
mit dreitägiger Dauer zu Anfang jedes Monats abgehalten 9. Unter
den Karolingern tagte das Königsgericht nach Bedürfnis und Lage der
Sache, ohne sich an jenen ständigen Sitzungstermin zu binden 10.
Ludwig I. und Lothar I. versprachen, allwöchentlich Gericht zu halten.

Der König ist als Richter mit auſserordentlicher Gerichtsgewalt
ausgerüstet. Das Königsgericht ist in seinen Entscheidungen nicht
an die strengen Grundsätze des Volksrechtes gebunden. Denn der
König kann Billigkeit walten und die Streitsache ex aequitate ent-
scheiden lassen. Als Billigkeitsgerichtshof wird uns schon das mero-
wingische Königsgericht durch die oben besprochene Reklamations-
klausel der Mundbriefe bezeugt 11. Für die karolingische Zeit haben
wir in Hinkmars Schrift über die Hofordnung die bestimmte Nach-
richt, daſs Streitsachen propter aequitatis iudicium an den Hof ge-
langten und daſs Rechtsfälle, für welche das Volksrecht zu strenge
war, zur Milderung (moderatio) vor den König gebracht wurden 12.

Tur. Hist. Franc. VII 23, VIII 12, IX 19. Ebensowenig läſst sich aufrechthalten,
daſs Ludwig I. im Anschluſs an eine schon von seinem Vater eingeschlagene Rich-
tung in Civilsachen aus eigener Machtvollkommenheit entschied, ohne ein förmliches
Königsgericht heranzuziehen. In den Urkunden, die zu solcher Schluſsfolgerung
Anlaſs geben könnten, handelt es sich um Verzichte auf fiskalische Ansprüche und
um Übergriffe weltlicher oder geistlicher Beamten, über die es der König zu einem
eigentlichen Rechtsstreite nicht kommen lieſs, indem er die betreffende Angelegen-
heit im Verwaltungswege ordnete oder ordnen lieſs. Aus derartigen Verfügungen
und etwa aus Gnadensachen erklärt sich wohl auch die befremdende Bemerkung
Einhards, Vita Karoli c. 24, daſs Karl der Groſse während des Ankleidens Rechts-
sachen entschieden habe.
9 Die Ladungen lauten in den indiculi der merowingischen Formelsammlungen
auf die Kalenden. Marculf I 28. 29. 37 und noch Form. Tur. 33. Vgl. Pertz,
Dipl. M. Nr. 60. Waitz, VG II 2, S. 194.
10 Die Stelle in Marculf I 29: Kalendas illas proximas, ändert die karolin-
gische Bearbeitung des Marculf (I 18) in ‘die mensis illius illo’. Statt Kalendas
in Marculf I 28 heiſst es in der verwandten Carta Senon. 18: super noctes tantas.
11 Siehe oben S. 50. 52.
12 Hincmar, De ordine pal. c. 21: comitis palatii .. in hoc maxime solli-
citudo erat, ut omnes contentiones legales, quae alibi ortae propter aequitatis iudi-
cium palatium aggrediebantur, iuste ac rationabiliter determinaret seu perverse iudi-
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[135/0153] § 77. Das Königsgericht. Ständigen Sitz hatte das Königsgericht nicht. Es tagte an dem Orte, wo der König sich gerade aufhielt. Da dieser, schon aus Rück- sicht auf die Naturalverpflegung des Hofstaates, von einer Pfalz zur anderen wandern muſste, war das Königsgericht von Hause aus ein wanderndes Gericht. Die Sitzungen des Königsgerichtes wurden in merowingischer Zeit mit dreitägiger Dauer zu Anfang jedes Monats abgehalten 9. Unter den Karolingern tagte das Königsgericht nach Bedürfnis und Lage der Sache, ohne sich an jenen ständigen Sitzungstermin zu binden 10. Ludwig I. und Lothar I. versprachen, allwöchentlich Gericht zu halten. Der König ist als Richter mit auſserordentlicher Gerichtsgewalt ausgerüstet. Das Königsgericht ist in seinen Entscheidungen nicht an die strengen Grundsätze des Volksrechtes gebunden. Denn der König kann Billigkeit walten und die Streitsache ex aequitate ent- scheiden lassen. Als Billigkeitsgerichtshof wird uns schon das mero- wingische Königsgericht durch die oben besprochene Reklamations- klausel der Mundbriefe bezeugt 11. Für die karolingische Zeit haben wir in Hinkmars Schrift über die Hofordnung die bestimmte Nach- richt, daſs Streitsachen propter aequitatis iudicium an den Hof ge- langten und daſs Rechtsfälle, für welche das Volksrecht zu strenge war, zur Milderung (moderatio) vor den König gebracht wurden 12. 8 9 Die Ladungen lauten in den indiculi der merowingischen Formelsammlungen auf die Kalenden. Marculf I 28. 29. 37 und noch Form. Tur. 33. Vgl. Pertz, Dipl. M. Nr. 60. Waitz, VG II 2, S. 194. 10 Die Stelle in Marculf I 29: Kalendas illas proximas, ändert die karolin- gische Bearbeitung des Marculf (I 18) in ‘die mensis illius illo’. Statt Kalendas in Marculf I 28 heiſst es in der verwandten Carta Senon. 18: super noctes tantas. 11 Siehe oben S. 50. 52. 12 Hincmar, De ordine pal. c. 21: comitis palatii .. in hoc maxime solli- citudo erat, ut omnes contentiones legales, quae alibi ortae propter aequitatis iudi- cium palatium aggrediebantur, iuste ac rationabiliter determinaret seu perverse iudi- cata ad aequitatis tramitem reduceret … Si quid vero tale esset, quod … secun- 8 Tur. Hist. Franc. VII 23, VIII 12, IX 19. Ebensowenig läſst sich aufrechthalten, daſs Ludwig I. im Anschluſs an eine schon von seinem Vater eingeschlagene Rich- tung in Civilsachen aus eigener Machtvollkommenheit entschied, ohne ein förmliches Königsgericht heranzuziehen. In den Urkunden, die zu solcher Schluſsfolgerung Anlaſs geben könnten, handelt es sich um Verzichte auf fiskalische Ansprüche und um Übergriffe weltlicher oder geistlicher Beamten, über die es der König zu einem eigentlichen Rechtsstreite nicht kommen lieſs, indem er die betreffende Angelegen- heit im Verwaltungswege ordnete oder ordnen lieſs. Aus derartigen Verfügungen und etwa aus Gnadensachen erklärt sich wohl auch die befremdende Bemerkung Einhards, Vita Karoli c. 24, daſs Karl der Groſse während des Ankleidens Rechts- sachen entschieden habe.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/153>, abgerufen am 24.11.2024.