Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.§ 77. Das Königsgericht. Aus einem Kapitular Karls des Grossen ergiebt sich, dass die könig-liche Billigkeitsjustiz als Auskunftsmittel diente, um die Haftung des Herrn für Missethaten seines Knechtes zu ermässigen, sofern sie das Wergeld des freien Mannes überschreiten sollte 13. Und aus den Quellen der fränkischen Tochterrechte können wir mit Sicherheit zurückschliessen 14, dass die strafrechtliche Behandlung absichtsloser Missethaten auf königliche Milderung des strengen Rechtes zugeschnitten war 15. Endlich hat sich hinsichtlich des Rechtsganges im Königs- gerichte eine Anzahl von Prozessinstitutionen ausgebildet, welche im Verhältnis zum volksgerichtlichen Verfahren den Charakter eines ius aequum an sich tragen 16. Auf die Billigkeitsjustiz des fränkischen Königsgerichtes mag der Umstand eingewirkt haben, dass das spät- römische Recht die Anwendung der aequitas dem consistorium prin- cipis vorbehielt 17. Nichtsdestoweniger geht sie auf germanische Grund- lagen zurück; denn die Milderung des strengen Rechtes begegnet uns als ein Vorrecht des Königs auch bei den Angelsachsen, die dafür die Bezeichnung lihting (moderatio) haben 18, und auch die nordischen Rechte zeigen verwandte Erscheinungen 19. dum gentilium consuetudinem crudelius sancitum esset, quam christianitatis rectitudo vel sancta auctoritas merito non consentiret, hoc ad regis moderationem per- duceretur ... 13 Cap. 803--813, c. 1, I 143. 14 H. Brunner in den Berliner Sitzungsberichten 1890, XXXV 819 ff. Herr O. W. Holmes, Justice of the Supreme Court, Massachusetts, ist so freundlich, mich noch auf Year Books 2 Hen. IV 18 fol. 8 aufmerksam zu machen. 15 Ein Argument für die Geltung dieses Grundsatzes ergiebt die Anweisung in Cap. miss. v. J. 819, c. 15, I 290, dass die um absichtslose Missethat im Volks- gerichte gewettete Brüche nicht vollständig eingetrieben werden solle. Dazu Lom- barda-Commentare, Ariprand I 2: compositio regalis integra ab eo non exigitur, qui ignoranter deliquit, set ab eo, qui voluntarie. 16 Näheres unten § 121. 17 Cod. Theod. I 2, 3. Vgl. Cod. Iust. I 14, 9. 18 Edgar (959--975) III 2 bei Schmid, Ges. der Ags. S. 190: Gif thaet riht to hefig sy, sece siddan tha leihtinge to tham cynge. Wenn das Recht zu strenge ist, dann suche man die Milderung bei dem König. Lihting zu ahd. leihtan, leicht machen. Bekannt ist die hohe rechtsgeschichtliche Bedeutung, welche die equi- table iurisdiction in England besitzt. Fusst sie zunächst auf der fränkisch-norman- nischen Praxis des anglo-normannischen Königtums, so fand sie doch, wie Edgar III 2 ergiebt, schon im angelsächsischen Rechte einen Anknüpfungspunkt. 19 Am isländischen Althing hat die lögretta das Recht der syknoleyfi, das
heisst der Strafmilderungen. Konrad Maurer, Die Rechtsrichtung des älteren isländischen Rechts S. 127. In Schweden und Dänemark ist es seit dem 13. Jahr- hundert Aufgabe des Königs, alle überstrengen Urteile zu brechen. v. Amira in Pauls Grundriss der germ. Philol. II 2, S. 188. Am schwedischen Königsgerichte § 77. Das Königsgericht. Aus einem Kapitular Karls des Groſsen ergiebt sich, daſs die könig-liche Billigkeitsjustiz als Auskunftsmittel diente, um die Haftung des Herrn für Missethaten seines Knechtes zu ermäſsigen, sofern sie das Wergeld des freien Mannes überschreiten sollte 13. Und aus den Quellen der fränkischen Tochterrechte können wir mit Sicherheit zurückschlieſsen 14, daſs die strafrechtliche Behandlung absichtsloser Missethaten auf königliche Milderung des strengen Rechtes zugeschnitten war 15. Endlich hat sich hinsichtlich des Rechtsganges im Königs- gerichte eine Anzahl von Prozeſsinstitutionen ausgebildet, welche im Verhältnis zum volksgerichtlichen Verfahren den Charakter eines ius aequum an sich tragen 16. Auf die Billigkeitsjustiz des fränkischen Königsgerichtes mag der Umstand eingewirkt haben, daſs das spät- römische Recht die Anwendung der aequitas dem consistorium prin- cipis vorbehielt 17. Nichtsdestoweniger geht sie auf germanische Grund- lagen zurück; denn die Milderung des strengen Rechtes begegnet uns als ein Vorrecht des Königs auch bei den Angelsachsen, die dafür die Bezeichnung líhting (moderatio) haben 18, und auch die nordischen Rechte zeigen verwandte Erscheinungen 19. dum gentilium consuetudinem crudelius sancitum esset, quam christianitatis rectitudo vel sancta auctoritas merito non consentiret, hoc ad regis moderationem per- duceretur … 13 Cap. 803—813, c. 1, I 143. 14 H. Brunner in den Berliner Sitzungsberichten 1890, XXXV 819 ff. Herr O. W. Holmes, Justice of the Supreme Court, Massachusetts, ist so freundlich, mich noch auf Year Books 2 Hen. IV 18 fol. 8 aufmerksam zu machen. 15 Ein Argument für die Geltung dieses Grundsatzes ergiebt die Anweisung in Cap. miss. v. J. 819, c. 15, I 290, daſs die um absichtslose Missethat im Volks- gerichte gewettete Brüche nicht vollständig eingetrieben werden solle. Dazu Lom- barda-Commentare, Ariprand I 2: compositio regalis integra ab eo non exigitur, qui ignoranter deliquit, set ab eo, qui voluntarie. 16 Näheres unten § 121. 17 Cod. Theod. I 2, 3. Vgl. Cod. Iust. I 14, 9. 18 Edgar (959—975) III 2 bei Schmid, Ges. der Ags. S. 190: Gif þæt riht tô hefig sŷ, sêce siđđan þâ lîhtinge tô þâm cynge. Wenn das Recht zu strenge ist, dann suche man die Milderung bei dem König. Líhting zu ahd. lîhtan, leicht machen. Bekannt ist die hohe rechtsgeschichtliche Bedeutung, welche die equi- table iurisdiction in England besitzt. Fuſst sie zunächst auf der fränkisch-norman- nischen Praxis des anglo-normannischen Königtums, so fand sie doch, wie Edgar III 2 ergiebt, schon im angelsächsischen Rechte einen Anknüpfungspunkt. 19 Am isländischen Althing hat die lögrètta das Recht der sýknoleyfi, das
heiſst der Strafmilderungen. Konrad Maurer, Die Rechtsrichtung des älteren isländischen Rechts S. 127. In Schweden und Dänemark ist es seit dem 13. Jahr- hundert Aufgabe des Königs, alle überstrengen Urteile zu brechen. v. Amira in Pauls Grundriſs der germ. Philol. II 2, S. 188. Am schwedischen Königsgerichte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0154" n="136"/><fw place="top" type="header">§ 77. Das Königsgericht.</fw><lb/> Aus einem Kapitular Karls des Groſsen ergiebt sich, daſs die könig-<lb/> liche Billigkeitsjustiz als Auskunftsmittel diente, um die Haftung des<lb/> Herrn für Missethaten seines Knechtes zu ermäſsigen, sofern sie das<lb/> Wergeld des freien Mannes überschreiten sollte <note place="foot" n="13">Cap. 803—813, c. 1, I 143.</note>. Und aus den<lb/> Quellen der fränkischen Tochterrechte können wir mit Sicherheit<lb/> zurückschlieſsen <note place="foot" n="14">H. <hi rendition="#g">Brunner</hi> in den Berliner Sitzungsberichten 1890, XXXV 819 ff. Herr<lb/> O. W. <hi rendition="#g">Holmes</hi>, Justice of the Supreme Court, Massachusetts, ist so freundlich,<lb/> mich noch auf Year Books 2 Hen. IV 18 fol. 8 aufmerksam zu machen.</note>, daſs die strafrechtliche Behandlung absichtsloser<lb/> Missethaten auf königliche Milderung des strengen Rechtes zugeschnitten<lb/> war <note place="foot" n="15">Ein Argument für die Geltung dieses Grundsatzes ergiebt die Anweisung<lb/> in Cap. miss. v. J. 819, c. 15, I 290, daſs die um absichtslose Missethat im Volks-<lb/> gerichte gewettete Brüche nicht vollständig eingetrieben werden solle. Dazu Lom-<lb/> barda-Commentare, Ariprand I 2: compositio regalis integra ab eo non exigitur,<lb/> qui ignoranter deliquit, set ab eo, qui voluntarie.</note>. Endlich hat sich hinsichtlich des Rechtsganges im Königs-<lb/> gerichte eine Anzahl von Prozeſsinstitutionen ausgebildet, welche im<lb/> Verhältnis zum volksgerichtlichen Verfahren den Charakter eines ius<lb/> aequum an sich tragen <note place="foot" n="16">Näheres unten § 121.</note>. Auf die Billigkeitsjustiz des fränkischen<lb/> Königsgerichtes mag der Umstand eingewirkt haben, daſs das spät-<lb/> römische Recht die Anwendung der aequitas dem consistorium prin-<lb/> cipis vorbehielt <note place="foot" n="17">Cod. Theod. I 2, 3. Vgl. Cod. Iust. I 14, 9.</note>. Nichtsdestoweniger geht sie auf germanische Grund-<lb/> lagen zurück; denn die Milderung des strengen Rechtes begegnet uns<lb/> als ein Vorrecht des Königs auch bei den Angelsachsen, die dafür die<lb/> Bezeichnung líhting (moderatio) haben <note place="foot" n="18">Edgar (959—975) III 2 bei Schmid, Ges. der Ags. S. 190: Gif þæt riht tô<lb/> hefig sŷ, sêce siđđan þâ lîhtinge tô þâm cynge. Wenn das Recht zu strenge ist,<lb/> dann suche man die Milderung bei dem König. Líhting zu ahd. lîhtan, leicht<lb/> machen. Bekannt ist die hohe rechtsgeschichtliche Bedeutung, welche die equi-<lb/> table iurisdiction in England besitzt. Fuſst sie zunächst auf der fränkisch-norman-<lb/> nischen Praxis des anglo-normannischen Königtums, so fand sie doch, wie Edgar<lb/> III 2 ergiebt, schon im angelsächsischen Rechte einen Anknüpfungspunkt.</note>, und auch die nordischen<lb/> Rechte zeigen verwandte Erscheinungen <note xml:id="seg2pn_32_1" next="#seg2pn_32_2" place="foot" n="19">Am isländischen Althing hat die lögrètta das Recht der sýknoleyfi, das<lb/> heiſst der Strafmilderungen. <hi rendition="#g">Konrad Maurer</hi>, Die Rechtsrichtung des älteren<lb/> isländischen Rechts S. 127. In Schweden und Dänemark ist es seit dem 13. Jahr-<lb/> hundert Aufgabe des Königs, alle überstrengen Urteile zu brechen. v. <hi rendition="#g">Amira</hi> in<lb/> Pauls Grundriſs der germ. Philol. II 2, S. 188. Am schwedischen Königsgerichte</note>.</p><lb/> <p> <note xml:id="seg2pn_31_2" prev="#seg2pn_31_1" place="foot" n="12">dum gentilium consuetudinem crudelius sancitum esset, quam christianitatis rectitudo<lb/> vel sancta auctoritas merito non consentiret, hoc ad regis moderationem per-<lb/> duceretur …</note> </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [136/0154]
§ 77. Das Königsgericht.
Aus einem Kapitular Karls des Groſsen ergiebt sich, daſs die könig-
liche Billigkeitsjustiz als Auskunftsmittel diente, um die Haftung des
Herrn für Missethaten seines Knechtes zu ermäſsigen, sofern sie das
Wergeld des freien Mannes überschreiten sollte 13. Und aus den
Quellen der fränkischen Tochterrechte können wir mit Sicherheit
zurückschlieſsen 14, daſs die strafrechtliche Behandlung absichtsloser
Missethaten auf königliche Milderung des strengen Rechtes zugeschnitten
war 15. Endlich hat sich hinsichtlich des Rechtsganges im Königs-
gerichte eine Anzahl von Prozeſsinstitutionen ausgebildet, welche im
Verhältnis zum volksgerichtlichen Verfahren den Charakter eines ius
aequum an sich tragen 16. Auf die Billigkeitsjustiz des fränkischen
Königsgerichtes mag der Umstand eingewirkt haben, daſs das spät-
römische Recht die Anwendung der aequitas dem consistorium prin-
cipis vorbehielt 17. Nichtsdestoweniger geht sie auf germanische Grund-
lagen zurück; denn die Milderung des strengen Rechtes begegnet uns
als ein Vorrecht des Königs auch bei den Angelsachsen, die dafür die
Bezeichnung líhting (moderatio) haben 18, und auch die nordischen
Rechte zeigen verwandte Erscheinungen 19.
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13 Cap. 803—813, c. 1, I 143.
14 H. Brunner in den Berliner Sitzungsberichten 1890, XXXV 819 ff. Herr
O. W. Holmes, Justice of the Supreme Court, Massachusetts, ist so freundlich,
mich noch auf Year Books 2 Hen. IV 18 fol. 8 aufmerksam zu machen.
15 Ein Argument für die Geltung dieses Grundsatzes ergiebt die Anweisung
in Cap. miss. v. J. 819, c. 15, I 290, daſs die um absichtslose Missethat im Volks-
gerichte gewettete Brüche nicht vollständig eingetrieben werden solle. Dazu Lom-
barda-Commentare, Ariprand I 2: compositio regalis integra ab eo non exigitur,
qui ignoranter deliquit, set ab eo, qui voluntarie.
16 Näheres unten § 121.
17 Cod. Theod. I 2, 3. Vgl. Cod. Iust. I 14, 9.
18 Edgar (959—975) III 2 bei Schmid, Ges. der Ags. S. 190: Gif þæt riht tô
hefig sŷ, sêce siđđan þâ lîhtinge tô þâm cynge. Wenn das Recht zu strenge ist,
dann suche man die Milderung bei dem König. Líhting zu ahd. lîhtan, leicht
machen. Bekannt ist die hohe rechtsgeschichtliche Bedeutung, welche die equi-
table iurisdiction in England besitzt. Fuſst sie zunächst auf der fränkisch-norman-
nischen Praxis des anglo-normannischen Königtums, so fand sie doch, wie Edgar
III 2 ergiebt, schon im angelsächsischen Rechte einen Anknüpfungspunkt.
19 Am isländischen Althing hat die lögrètta das Recht der sýknoleyfi, das
heiſst der Strafmilderungen. Konrad Maurer, Die Rechtsrichtung des älteren
isländischen Rechts S. 127. In Schweden und Dänemark ist es seit dem 13. Jahr-
hundert Aufgabe des Königs, alle überstrengen Urteile zu brechen. v. Amira in
Pauls Grundriſs der germ. Philol. II 2, S. 188. Am schwedischen Königsgerichte
12 dum gentilium consuetudinem crudelius sancitum esset, quam christianitatis rectitudo
vel sancta auctoritas merito non consentiret, hoc ad regis moderationem per-
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