Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 82. Centenar und Vikar.
bei welchen eine Inscription des Klägers erfolgt33, wogegen in causae
minores, u. a. in einem Rechtsstreit um ein Grundstück und bei
Vindikation eines Knechtes, niedere Richter thätig sind34. Ebenso
findet sich in Formelsammlungen aus der zweiten Hälfte des achten
Jahrhunderts, dass Rechtssachen, welche die Kapitularien des neunten
Jahrhunderts dem Grafen zuweisen, vor einem Vikar verhandelt wer-
den: so Freiheitsprozesse, Streitigkeiten um Grundstücke und Eigen-
leute35.

Anders war die Grenzlinie für die Kompetenz des altländischen
Grafen gezogen. Als Nachfolger des Thungins hatte der Graf den
Vorsitz im echten Dinge und die Gerichtsbarkeit in allen Angelegen-
heiten, welche das echte Ding erforderten. So musste über Tod-
schlag36, über die Freiheit37 vor dem Grafen verhandelt werden, die
Vergabung von Todeswegen38 vor ihm stattfinden. War nach alle-
dem der altländische Centenar von Anfang an auf Rechtssachen be-
schränkt, für die bei den Franken das gebotene Ding ausreichte, so
sind die Massregeln, durch welche die Kompetenz des Vikars nor-
miert wurde, nur für die neufränkischen Grafschaften eine Neuerung
gewesen und zwar eine Neuerung, welche die Grenzlinie zwischen causae
maiores und causae minores nach dem Vorbilde der altländischen Ge-
richtsverfassung normierte.

Hand in Hand damit ging eine Reform des Gerichtswesens, welche
die allgemeine Dingpflicht für die gebotenen Dinge beseitigte, also
für jene Gerichtsversammlungen, die unter dem Vorsitz des Centenars
oder Vikars abgehalten werden konnten.


Carta Senon. 17. Auch nach den merowingischen Heiligenleben hat der Graf das
peinliche Gericht.
33 Form. Turon. 29. Der Kläger verpflichtet sich, bei einer Klage wegen in-
vasio terrae durch Inscription, wenn er sachfällig würde, vierfachen Kostenersatz
zu leisten, bei einer Klage um Todschlag die dem Beklagten drohende Strafe er-
leiden zu wollen. Form. extravag. I 5, Zeumer S. 536. In beiden Formeln folgt
aus der Bezeichnung inluster vir, dass das Grafengericht gemeint ist.
34 Form. Andeg. 47, ein Abt, wegen Vindikation eines Weinbergs. L. c. 10:
Der Kläger vindiziert vor einem Abte als seinen Knecht eine Person, die ihre
Freiheit beweist. Dass aus der Appenniserteilung durch den Grafen nicht mit
Sohm a. O. S. 418 auf die ausschliessliche Jurisdiktion des Grafen in Liegen-
schaftsprozessen geschlossen werden darf, bemerkt bereits Zeumer Z2 f. RG I 104.
35 Form. Bignon. 7. -- Form. Merkel. 29, Bignon. 13. -- Form. Merkel. 30.
36 Arg. Lex Salica Hessels 74 (vgl. 67), Lex Rib. 77.
37 Lex Rib. 58, 18. Lex Alam. 17, 2; 38. Sohm a. O. S. 428.
38 Nach Cap. leg. Rib. add. v. J. 803, c. 8 verlangt die Affatomie mindestens
den Vorsitz des Grafen. Der Graf ist hierin an Stelle des Thungins getreten.
12*

§ 82. Centenar und Vikar.
bei welchen eine Inscription des Klägers erfolgt33, wogegen in causae
minores, u. a. in einem Rechtsstreit um ein Grundstück und bei
Vindikation eines Knechtes, niedere Richter thätig sind34. Ebenso
findet sich in Formelsammlungen aus der zweiten Hälfte des achten
Jahrhunderts, daſs Rechtssachen, welche die Kapitularien des neunten
Jahrhunderts dem Grafen zuweisen, vor einem Vikar verhandelt wer-
den: so Freiheitsprozesse, Streitigkeiten um Grundstücke und Eigen-
leute35.

Anders war die Grenzlinie für die Kompetenz des altländischen
Grafen gezogen. Als Nachfolger des Thungins hatte der Graf den
Vorsitz im echten Dinge und die Gerichtsbarkeit in allen Angelegen-
heiten, welche das echte Ding erforderten. So muſste über Tod-
schlag36, über die Freiheit37 vor dem Grafen verhandelt werden, die
Vergabung von Todeswegen38 vor ihm stattfinden. War nach alle-
dem der altländische Centenar von Anfang an auf Rechtssachen be-
schränkt, für die bei den Franken das gebotene Ding ausreichte, so
sind die Maſsregeln, durch welche die Kompetenz des Vikars nor-
miert wurde, nur für die neufränkischen Grafschaften eine Neuerung
gewesen und zwar eine Neuerung, welche die Grenzlinie zwischen causae
maiores und causae minores nach dem Vorbilde der altländischen Ge-
richtsverfassung normierte.

Hand in Hand damit ging eine Reform des Gerichtswesens, welche
die allgemeine Dingpflicht für die gebotenen Dinge beseitigte, also
für jene Gerichtsversammlungen, die unter dem Vorsitz des Centenars
oder Vikars abgehalten werden konnten.


Carta Senon. 17. Auch nach den merowingischen Heiligenleben hat der Graf das
peinliche Gericht.
33 Form. Turon. 29. Der Kläger verpflichtet sich, bei einer Klage wegen in-
vasio terrae durch Inscription, wenn er sachfällig würde, vierfachen Kostenersatz
zu leisten, bei einer Klage um Todschlag die dem Beklagten drohende Strafe er-
leiden zu wollen. Form. extravag. I 5, Zeumer S. 536. In beiden Formeln folgt
aus der Bezeichnung inluster vir, daſs das Grafengericht gemeint ist.
34 Form. Andeg. 47, ein Abt, wegen Vindikation eines Weinbergs. L. c. 10:
Der Kläger vindiziert vor einem Abte als seinen Knecht eine Person, die ihre
Freiheit beweist. Daſs aus der Appenniserteilung durch den Grafen nicht mit
Sohm a. O. S. 418 auf die ausschlieſsliche Jurisdiktion des Grafen in Liegen-
schaftsprozessen geschlossen werden darf, bemerkt bereits Zeumer Z2 f. RG I 104.
35 Form. Bignon. 7. — Form. Merkel. 29, Bignon. 13. — Form. Merkel. 30.
36 Arg. Lex Salica Hessels 74 (vgl. 67), Lex Rib. 77.
37 Lex Rib. 58, 18. Lex Alam. 17, 2; 38. Sohm a. O. S. 428.
38 Nach Cap. leg. Rib. add. v. J. 803, c. 8 verlangt die Affatomie mindestens
den Vorsitz des Grafen. Der Graf ist hierin an Stelle des Thungins getreten.
12*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0197" n="179"/><fw place="top" type="header">§ 82. Centenar und Vikar.</fw><lb/>
bei welchen eine Inscription des Klägers erfolgt<note place="foot" n="33">Form. Turon. 29. Der Kläger verpflichtet sich, bei einer Klage wegen in-<lb/>
vasio terrae durch Inscription, wenn er sachfällig würde, vierfachen Kostenersatz<lb/>
zu leisten, bei einer Klage um Todschlag die dem Beklagten drohende Strafe er-<lb/>
leiden zu wollen. Form. extravag. I 5, Zeumer S. 536. In beiden Formeln folgt<lb/>
aus der Bezeichnung inluster vir, da&#x017F;s das Grafengericht gemeint ist.</note>, wogegen in causae<lb/>
minores, u. a. in einem Rechtsstreit um ein Grundstück und bei<lb/>
Vindikation eines Knechtes, niedere Richter thätig sind<note place="foot" n="34">Form. Andeg. 47, ein Abt, wegen Vindikation eines Weinbergs. L. c. 10:<lb/>
Der Kläger vindiziert vor einem Abte als seinen Knecht eine Person, die ihre<lb/>
Freiheit beweist. Da&#x017F;s aus der Appenniserteilung durch den Grafen nicht mit<lb/>
Sohm a. O. S. 418 auf die ausschlie&#x017F;sliche Jurisdiktion des Grafen in Liegen-<lb/>
schaftsprozessen geschlossen werden darf, bemerkt bereits <hi rendition="#g">Zeumer</hi> Z<hi rendition="#sup">2</hi> f. RG I 104.</note>. Ebenso<lb/>
findet sich in Formelsammlungen aus der zweiten Hälfte des achten<lb/>
Jahrhunderts, da&#x017F;s Rechtssachen, welche die Kapitularien des neunten<lb/>
Jahrhunderts dem Grafen zuweisen, vor einem Vikar verhandelt wer-<lb/>
den: so Freiheitsprozesse, Streitigkeiten um Grundstücke und Eigen-<lb/>
leute<note place="foot" n="35">Form. Bignon. 7. &#x2014; Form. Merkel. 29, Bignon. 13. &#x2014; Form. Merkel. 30.</note>.</p><lb/>
            <p>Anders war die Grenzlinie für die Kompetenz des altländischen<lb/>
Grafen gezogen. Als Nachfolger des Thungins hatte der Graf den<lb/>
Vorsitz im echten Dinge und die Gerichtsbarkeit in allen Angelegen-<lb/>
heiten, welche das echte Ding erforderten. So mu&#x017F;ste über Tod-<lb/>
schlag<note place="foot" n="36">Arg. Lex Salica Hessels 74 (vgl. 67), Lex Rib. 77.</note>, über die Freiheit<note place="foot" n="37">Lex Rib. 58, 18. Lex Alam. 17, 2; 38. <hi rendition="#g">Sohm</hi> a. O. S. 428.</note> vor dem Grafen verhandelt werden, die<lb/>
Vergabung von Todeswegen<note place="foot" n="38">Nach Cap. leg. Rib. add. v. J. 803, c. 8 verlangt die Affatomie mindestens<lb/>
den Vorsitz des Grafen. Der Graf ist hierin an Stelle des Thungins getreten.</note> vor ihm stattfinden. War nach alle-<lb/>
dem der altländische Centenar von Anfang an auf Rechtssachen be-<lb/>
schränkt, für die bei den Franken das gebotene Ding ausreichte, so<lb/>
sind die Ma&#x017F;sregeln, durch welche die Kompetenz des Vikars nor-<lb/>
miert wurde, nur für die neufränkischen Grafschaften eine Neuerung<lb/>
gewesen und zwar eine Neuerung, welche die Grenzlinie zwischen causae<lb/>
maiores und causae minores nach dem Vorbilde der altländischen Ge-<lb/>
richtsverfassung normierte.</p><lb/>
            <p>Hand in Hand damit ging eine Reform des Gerichtswesens, welche<lb/>
die allgemeine Dingpflicht für die gebotenen Dinge beseitigte, also<lb/>
für jene Gerichtsversammlungen, die unter dem Vorsitz des Centenars<lb/>
oder Vikars abgehalten werden konnten.</p><lb/>
            <p>
              <note xml:id="seg2pn_42_2" prev="#seg2pn_42_1" place="foot" n="32">Carta Senon. 17. Auch nach den merowingischen Heiligenleben hat der Graf das<lb/>
peinliche Gericht.</note>
            </p><lb/>
            <fw place="bottom" type="sig">12*</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0197] § 82. Centenar und Vikar. bei welchen eine Inscription des Klägers erfolgt 33, wogegen in causae minores, u. a. in einem Rechtsstreit um ein Grundstück und bei Vindikation eines Knechtes, niedere Richter thätig sind 34. Ebenso findet sich in Formelsammlungen aus der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts, daſs Rechtssachen, welche die Kapitularien des neunten Jahrhunderts dem Grafen zuweisen, vor einem Vikar verhandelt wer- den: so Freiheitsprozesse, Streitigkeiten um Grundstücke und Eigen- leute 35. Anders war die Grenzlinie für die Kompetenz des altländischen Grafen gezogen. Als Nachfolger des Thungins hatte der Graf den Vorsitz im echten Dinge und die Gerichtsbarkeit in allen Angelegen- heiten, welche das echte Ding erforderten. So muſste über Tod- schlag 36, über die Freiheit 37 vor dem Grafen verhandelt werden, die Vergabung von Todeswegen 38 vor ihm stattfinden. War nach alle- dem der altländische Centenar von Anfang an auf Rechtssachen be- schränkt, für die bei den Franken das gebotene Ding ausreichte, so sind die Maſsregeln, durch welche die Kompetenz des Vikars nor- miert wurde, nur für die neufränkischen Grafschaften eine Neuerung gewesen und zwar eine Neuerung, welche die Grenzlinie zwischen causae maiores und causae minores nach dem Vorbilde der altländischen Ge- richtsverfassung normierte. Hand in Hand damit ging eine Reform des Gerichtswesens, welche die allgemeine Dingpflicht für die gebotenen Dinge beseitigte, also für jene Gerichtsversammlungen, die unter dem Vorsitz des Centenars oder Vikars abgehalten werden konnten. 32 33 Form. Turon. 29. Der Kläger verpflichtet sich, bei einer Klage wegen in- vasio terrae durch Inscription, wenn er sachfällig würde, vierfachen Kostenersatz zu leisten, bei einer Klage um Todschlag die dem Beklagten drohende Strafe er- leiden zu wollen. Form. extravag. I 5, Zeumer S. 536. In beiden Formeln folgt aus der Bezeichnung inluster vir, daſs das Grafengericht gemeint ist. 34 Form. Andeg. 47, ein Abt, wegen Vindikation eines Weinbergs. L. c. 10: Der Kläger vindiziert vor einem Abte als seinen Knecht eine Person, die ihre Freiheit beweist. Daſs aus der Appenniserteilung durch den Grafen nicht mit Sohm a. O. S. 418 auf die ausschlieſsliche Jurisdiktion des Grafen in Liegen- schaftsprozessen geschlossen werden darf, bemerkt bereits Zeumer Z2 f. RG I 104. 35 Form. Bignon. 7. — Form. Merkel. 29, Bignon. 13. — Form. Merkel. 30. 36 Arg. Lex Salica Hessels 74 (vgl. 67), Lex Rib. 77. 37 Lex Rib. 58, 18. Lex Alam. 17, 2; 38. Sohm a. O. S. 428. 38 Nach Cap. leg. Rib. add. v. J. 803, c. 8 verlangt die Affatomie mindestens den Vorsitz des Grafen. Der Graf ist hierin an Stelle des Thungins getreten. 32 Carta Senon. 17. Auch nach den merowingischen Heiligenleben hat der Graf das peinliche Gericht. 12*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/197
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/197>, abgerufen am 18.05.2024.