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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 93. Die Grundherrlichkeit.
dass der Dritte zunächst bei der Kirche die interne Erledigung der
Angelegenheit nachsuchte und erst, wenn dies vergeblich war, sich an
das öffentliche Gericht wendete, in welchem der Kirchenbeamte, weil
nunmehr Partei, eine richterliche Funktion füglich nicht ausüben
konnte. In einer Formel bei Marculf fordert der König, bei dem ein
Dritter über einen homo (oder Kleriker) eines Bischofs Beschwerde ge-
führt hatte, den Bischof durch einen indiculus auf, dass er seinen
Untergebenen anhalte, dem Kläger Genugthuung zu leisten, oder
aber jenen vor das Königsgericht bringen lasse 39. Hinsichtlich der
tabularii 40 bestimmte das in die Lex Ribuaria eingeschobene Königs-
gesetz 41, dass sie bei der Kirche, die ihre Freilassung vermittelte,
ihren Mallus, d. h. ihren Gerichtsstand, haben sollen, ein Rechtssatz,
der eine Vorladung der tabularii vor den öffentlichen Richter aus-
schloss. Das alamannische Volksrecht gewährte dem Bischof im Ver-
hältnis zu den freien Hintersassen der Kirche, den coloni liberi, einen
Bann von zwölf, seinem iudex einen solchen von sechs Solidi 42. In
Italien erscheint die Sonderstellung der homines libellarii zuerst auf
Kirchengütern 43. Hier galt ferner für die Hintersassen der Kirchen
der Grundsatz, dass sie zum Brückenbau und ähnlichen öffentlichen
Fronden nur durch Vermittlung des Kirchenvorstandes herangezogen

39 Marculf I 27. Vgl. H. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 80 ff.
40 Siehe darüber I 242 ff.
41 Lex Ribuaria 58, 1. Siehe oben I 306.
42 Lex Alam. 22, 2. Dagegen darf Cap. Baiwaricum I 158, c. 1: ut habeant
aecclesiae earum iustitias tam in vita illorum qui habitant in ipsis ecclesiis quam-
que in pecuniis et substantiis eorum, nicht mit Walter, RG § 109, auf eine
Kriminaljurisdiction der bairischen Kirchen gedeutet werden. Iustitias habeant
bedeutet nur, dass den Kirchen ihr Recht gewahrt bleiben soll. Vgl. Waitz IV
455, Anm. 1. Schon Houard, Anciennes Loix II 173, wies gegen Montesquieu
darauf hin, dass mit Rücksicht auf die bekannten Bestimmungen des kanonischen
Rechtes die Kirchen durch das Cap. Baiw. nicht den Blutbann erhalten haben
konnten. Auch der Einwand Beauchets a. O. S. 444, dass ja der Vogt das
Todesurteil aussprechen konnte, versagt, da er im Namen der Kirche richtete, wie
denn auch nachmals die Kirchenvögte den Blutbann sich vom König besonders
verleihen lassen müssen. Für die iustitia der Kirche in vita illorum qui habitant
in ecclesiis kommt das Asylrecht in Betracht. Die Betreffenden dürfen 'in eccle-
siis' nicht getötet werden, und die Kirche liefert sie nur aus, wenn ihnen das
Leben zugesichert wird. Das Asylrecht erstreckte sich auch auf Nebengebäude
der eigentlichen Kirche und auf die Wohnungen der Priester. Cap. Carisiac. v. J.
873, c. 12, LL I 521. Das Recht, welches die Kirchen in Bezug auf den Asyl-
schutz ihrer Angehörigen besassen, wird nebst den Vermögensrechten der Kirchen
im Cap. Baiw. bestätigt.
43 Siehe oben S. 281 f., Anm. 32. 33.

§ 93. Die Grundherrlichkeit.
daſs der Dritte zunächst bei der Kirche die interne Erledigung der
Angelegenheit nachsuchte und erst, wenn dies vergeblich war, sich an
das öffentliche Gericht wendete, in welchem der Kirchenbeamte, weil
nunmehr Partei, eine richterliche Funktion füglich nicht ausüben
konnte. In einer Formel bei Marculf fordert der König, bei dem ein
Dritter über einen homo (oder Kleriker) eines Bischofs Beschwerde ge-
führt hatte, den Bischof durch einen indiculus auf, daſs er seinen
Untergebenen anhalte, dem Kläger Genugthuung zu leisten, oder
aber jenen vor das Königsgericht bringen lasse 39. Hinsichtlich der
tabularii 40 bestimmte das in die Lex Ribuaria eingeschobene Königs-
gesetz 41, daſs sie bei der Kirche, die ihre Freilassung vermittelte,
ihren Mallus, d. h. ihren Gerichtsstand, haben sollen, ein Rechtssatz,
der eine Vorladung der tabularii vor den öffentlichen Richter aus-
schloſs. Das alamannische Volksrecht gewährte dem Bischof im Ver-
hältnis zu den freien Hintersassen der Kirche, den coloni liberi, einen
Bann von zwölf, seinem iudex einen solchen von sechs Solidi 42. In
Italien erscheint die Sonderstellung der homines libellarii zuerst auf
Kirchengütern 43. Hier galt ferner für die Hintersassen der Kirchen
der Grundsatz, daſs sie zum Brückenbau und ähnlichen öffentlichen
Fronden nur durch Vermittlung des Kirchenvorstandes herangezogen

39 Marculf I 27. Vgl. H. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 80 ff.
40 Siehe darüber I 242 ff.
41 Lex Ribuaria 58, 1. Siehe oben I 306.
42 Lex Alam. 22, 2. Dagegen darf Cap. Baiwaricum I 158, c. 1: ut habeant
aecclesiae earum iustitias tam in vita illorum qui habitant in ipsis ecclesiis quam-
que in pecuniis et substantiis eorum, nicht mit Walter, RG § 109, auf eine
Kriminaljurisdiction der bairischen Kirchen gedeutet werden. Iustitias habeant
bedeutet nur, daſs den Kirchen ihr Recht gewahrt bleiben soll. Vgl. Waitz IV
455, Anm. 1. Schon Houard, Anciennes Loix II 173, wies gegen Montesquieu
darauf hin, daſs mit Rücksicht auf die bekannten Bestimmungen des kanonischen
Rechtes die Kirchen durch das Cap. Baiw. nicht den Blutbann erhalten haben
konnten. Auch der Einwand Beauchets a. O. S. 444, daſs ja der Vogt das
Todesurteil aussprechen konnte, versagt, da er im Namen der Kirche richtete, wie
denn auch nachmals die Kirchenvögte den Blutbann sich vom König besonders
verleihen lassen müssen. Für die iustitia der Kirche in vita illorum qui habitant
in ecclesiis kommt das Asylrecht in Betracht. Die Betreffenden dürfen ‘in eccle-
siis’ nicht getötet werden, und die Kirche liefert sie nur aus, wenn ihnen das
Leben zugesichert wird. Das Asylrecht erstreckte sich auch auf Nebengebäude
der eigentlichen Kirche und auf die Wohnungen der Priester. Cap. Carisiac. v. J.
873, c. 12, LL I 521. Das Recht, welches die Kirchen in Bezug auf den Asyl-
schutz ihrer Angehörigen besaſsen, wird nebst den Vermögensrechten der Kirchen
im Cap. Baiw. bestätigt.
43 Siehe oben S. 281 f., Anm. 32. 33.
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[284/0302] § 93. Die Grundherrlichkeit. daſs der Dritte zunächst bei der Kirche die interne Erledigung der Angelegenheit nachsuchte und erst, wenn dies vergeblich war, sich an das öffentliche Gericht wendete, in welchem der Kirchenbeamte, weil nunmehr Partei, eine richterliche Funktion füglich nicht ausüben konnte. In einer Formel bei Marculf fordert der König, bei dem ein Dritter über einen homo (oder Kleriker) eines Bischofs Beschwerde ge- führt hatte, den Bischof durch einen indiculus auf, daſs er seinen Untergebenen anhalte, dem Kläger Genugthuung zu leisten, oder aber jenen vor das Königsgericht bringen lasse 39. Hinsichtlich der tabularii 40 bestimmte das in die Lex Ribuaria eingeschobene Königs- gesetz 41, daſs sie bei der Kirche, die ihre Freilassung vermittelte, ihren Mallus, d. h. ihren Gerichtsstand, haben sollen, ein Rechtssatz, der eine Vorladung der tabularii vor den öffentlichen Richter aus- schloſs. Das alamannische Volksrecht gewährte dem Bischof im Ver- hältnis zu den freien Hintersassen der Kirche, den coloni liberi, einen Bann von zwölf, seinem iudex einen solchen von sechs Solidi 42. In Italien erscheint die Sonderstellung der homines libellarii zuerst auf Kirchengütern 43. Hier galt ferner für die Hintersassen der Kirchen der Grundsatz, daſs sie zum Brückenbau und ähnlichen öffentlichen Fronden nur durch Vermittlung des Kirchenvorstandes herangezogen 39 Marculf I 27. Vgl. H. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 80 ff. 40 Siehe darüber I 242 ff. 41 Lex Ribuaria 58, 1. Siehe oben I 306. 42 Lex Alam. 22, 2. Dagegen darf Cap. Baiwaricum I 158, c. 1: ut habeant aecclesiae earum iustitias tam in vita illorum qui habitant in ipsis ecclesiis quam- que in pecuniis et substantiis eorum, nicht mit Walter, RG § 109, auf eine Kriminaljurisdiction der bairischen Kirchen gedeutet werden. Iustitias habeant bedeutet nur, daſs den Kirchen ihr Recht gewahrt bleiben soll. Vgl. Waitz IV 455, Anm. 1. Schon Houard, Anciennes Loix II 173, wies gegen Montesquieu darauf hin, daſs mit Rücksicht auf die bekannten Bestimmungen des kanonischen Rechtes die Kirchen durch das Cap. Baiw. nicht den Blutbann erhalten haben konnten. Auch der Einwand Beauchets a. O. S. 444, daſs ja der Vogt das Todesurteil aussprechen konnte, versagt, da er im Namen der Kirche richtete, wie denn auch nachmals die Kirchenvögte den Blutbann sich vom König besonders verleihen lassen müssen. Für die iustitia der Kirche in vita illorum qui habitant in ecclesiis kommt das Asylrecht in Betracht. Die Betreffenden dürfen ‘in eccle- siis’ nicht getötet werden, und die Kirche liefert sie nur aus, wenn ihnen das Leben zugesichert wird. Das Asylrecht erstreckte sich auch auf Nebengebäude der eigentlichen Kirche und auf die Wohnungen der Priester. Cap. Carisiac. v. J. 873, c. 12, LL I 521. Das Recht, welches die Kirchen in Bezug auf den Asyl- schutz ihrer Angehörigen besaſsen, wird nebst den Vermögensrechten der Kirchen im Cap. Baiw. bestätigt. 43 Siehe oben S. 281 f., Anm. 32. 33.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/302>, abgerufen am 22.11.2024.