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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 94. Die Immunität.
verleihungen befanden. Schon oben S. 285 wurde ausgeführt, wie
diese wohl aus römischer Zeit her Privatgerichtsbarkeit besassen
und wie die Rechte der Kirchen hinsichtlich der Hintersassen viel-
fach über die normalen Befugnisse der deutschrechtlichen Grundherr-
lichkeit hinausgingen. Diesen Zuständen gegenüber hatte die Im-
munität an neuem jurisdiktionellem Inhalte zu wenig zu bieten, als
dass es erforderlich gewesen wäre, die Eigengerichtsbarkeit in das
Formular des Immunitätsbriefes aufzunehmen, wie es im fränkischen
Reiche zuerst für die Bedürfnisse der gallischen Kirchen zugeschnitten
werden musste. Für sie war die Immunität in Sachen der Gerichts-
barkeit nur der Rahmen, durch den die bestehenden Privatgerichte
der fränkischen Reichsverfassung eingegliedert und deren Verhältnis
zu den öffentlichen Beamten geregelt wurde.

Die Immunitätsgerichtsbarkeit reicht nur soweit, als die öffent-
liche Gerichtsbarkeit finanziellen Charakter hat: sie gilt nur für den
Bereich der Rechtsfälle, in welchen Friedensgeld oder Bannbusse be-
zahlt wird. Sie ist daher ausgeschlossen für das Gebiet der Kriminal-
sachen. In Fällen, in welchen der Richter von Amtswegen vorgeht,
also insbesondere bei handhaften Kriminalfällen, muss ihm der Im-
munitätsherr den Missethäter ausliefern63. Will ein Dritter eine
Kriminalklage gegen Immunitätsleute erheben, so ist die Ladung an
den Herrn zu richten und hat dieser den Angeschuldigten durch seinen
Vogt vor das Grafengericht zu stellen64. Ebenso müssen Kriminal-
fälle, die sich unter freien Immunitätsleuten ereignen, vor das öffent-
liche Gericht gebracht werden, da nur hier Lebens- und Leibesstrafen
gegen sie ausgesprochen werden können. Um Missethaten, welche
Knechte gegeneinander begingen, konnte der Immunitätsherr als Leib-
herr Vergeltung üben. Doch war es diesfalls geistlichen Immunitäts-
herren aus Gründen des kanonischen Rechtes versagt, Bluturteile voll-
strecken zu lassen65.


63 Cap. Haristall. v. J. 779, c. 9, I 48: ut latrones de infra immunitatem illi
iudicis ad comitum placita praesentetur. Cap. legg. add. v. J. 803, c. 2, I 113.
Ed. Pist. c. 18, Pertz, LL I 492 (betreffend die Auslieferung des Münzfälschers).
Cap. Caris. v. J. 873, c. 3, LL I 520.
64 Ludwig I. für Paris v. J. 819, Mühlbacher Nr. 683: in mallo legitimo
comitis et ibi una cum advocato ecclesiae venire non differant (liberi homines)
et rectam rationem et legalem iusticiam adimplere cogantur.
65 In Urk. Lothars I. für Novalese v. J. 845, Mühlbacher Nr. 1088, er-
hält der Abt omnem districtionem et iudicium providendum exceptis illis culpis
criminalibus, de quibus sacerdotibus et monachis non est licitum iudicare. Die
angesiedelten Spanier haben nach Const. de Hispanis v. J. 815, c. 3 die Gerichts-

§ 94. Die Immunität.
verleihungen befanden. Schon oben S. 285 wurde ausgeführt, wie
diese wohl aus römischer Zeit her Privatgerichtsbarkeit besaſsen
und wie die Rechte der Kirchen hinsichtlich der Hintersassen viel-
fach über die normalen Befugnisse der deutschrechtlichen Grundherr-
lichkeit hinausgingen. Diesen Zuständen gegenüber hatte die Im-
munität an neuem jurisdiktionellem Inhalte zu wenig zu bieten, als
daſs es erforderlich gewesen wäre, die Eigengerichtsbarkeit in das
Formular des Immunitätsbriefes aufzunehmen, wie es im fränkischen
Reiche zuerst für die Bedürfnisse der gallischen Kirchen zugeschnitten
werden muſste. Für sie war die Immunität in Sachen der Gerichts-
barkeit nur der Rahmen, durch den die bestehenden Privatgerichte
der fränkischen Reichsverfassung eingegliedert und deren Verhältnis
zu den öffentlichen Beamten geregelt wurde.

Die Immunitätsgerichtsbarkeit reicht nur soweit, als die öffent-
liche Gerichtsbarkeit finanziellen Charakter hat: sie gilt nur für den
Bereich der Rechtsfälle, in welchen Friedensgeld oder Bannbuſse be-
zahlt wird. Sie ist daher ausgeschlossen für das Gebiet der Kriminal-
sachen. In Fällen, in welchen der Richter von Amtswegen vorgeht,
also insbesondere bei handhaften Kriminalfällen, muſs ihm der Im-
munitätsherr den Missethäter ausliefern63. Will ein Dritter eine
Kriminalklage gegen Immunitätsleute erheben, so ist die Ladung an
den Herrn zu richten und hat dieser den Angeschuldigten durch seinen
Vogt vor das Grafengericht zu stellen64. Ebenso müssen Kriminal-
fälle, die sich unter freien Immunitätsleuten ereignen, vor das öffent-
liche Gericht gebracht werden, da nur hier Lebens- und Leibesstrafen
gegen sie ausgesprochen werden können. Um Missethaten, welche
Knechte gegeneinander begingen, konnte der Immunitätsherr als Leib-
herr Vergeltung üben. Doch war es diesfalls geistlichen Immunitäts-
herren aus Gründen des kanonischen Rechtes versagt, Bluturteile voll-
strecken zu lassen65.


63 Cap. Haristall. v. J. 779, c. 9, I 48: ut latrones de infra immunitatem illi
iudicis ad comitum placita praesentetur. Cap. legg. add. v. J. 803, c. 2, I 113.
Ed. Pist. c. 18, Pertz, LL I 492 (betreffend die Auslieferung des Münzfälschers).
Cap. Caris. v. J. 873, c. 3, LL I 520.
64 Ludwig I. für Paris v. J. 819, Mühlbacher Nr. 683: in mallo legitimo
comitis et ibi una cum advocato ecclesiae venire non differant (liberi homines)
et rectam rationem et legalem iusticiam adimplere cogantur.
65 In Urk. Lothars I. für Novalese v. J. 845, Mühlbacher Nr. 1088, er-
hält der Abt omnem districtionem et iudicium providendum exceptis illis culpis
criminalibus, de quibus sacerdotibus et monachis non est licitum iudicare. Die
angesiedelten Spanier haben nach Const. de Hispanis v. J. 815, c. 3 die Gerichts-
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[300/0318] § 94. Die Immunität. verleihungen befanden. Schon oben S. 285 wurde ausgeführt, wie diese wohl aus römischer Zeit her Privatgerichtsbarkeit besaſsen und wie die Rechte der Kirchen hinsichtlich der Hintersassen viel- fach über die normalen Befugnisse der deutschrechtlichen Grundherr- lichkeit hinausgingen. Diesen Zuständen gegenüber hatte die Im- munität an neuem jurisdiktionellem Inhalte zu wenig zu bieten, als daſs es erforderlich gewesen wäre, die Eigengerichtsbarkeit in das Formular des Immunitätsbriefes aufzunehmen, wie es im fränkischen Reiche zuerst für die Bedürfnisse der gallischen Kirchen zugeschnitten werden muſste. Für sie war die Immunität in Sachen der Gerichts- barkeit nur der Rahmen, durch den die bestehenden Privatgerichte der fränkischen Reichsverfassung eingegliedert und deren Verhältnis zu den öffentlichen Beamten geregelt wurde. Die Immunitätsgerichtsbarkeit reicht nur soweit, als die öffent- liche Gerichtsbarkeit finanziellen Charakter hat: sie gilt nur für den Bereich der Rechtsfälle, in welchen Friedensgeld oder Bannbuſse be- zahlt wird. Sie ist daher ausgeschlossen für das Gebiet der Kriminal- sachen. In Fällen, in welchen der Richter von Amtswegen vorgeht, also insbesondere bei handhaften Kriminalfällen, muſs ihm der Im- munitätsherr den Missethäter ausliefern 63. Will ein Dritter eine Kriminalklage gegen Immunitätsleute erheben, so ist die Ladung an den Herrn zu richten und hat dieser den Angeschuldigten durch seinen Vogt vor das Grafengericht zu stellen 64. Ebenso müssen Kriminal- fälle, die sich unter freien Immunitätsleuten ereignen, vor das öffent- liche Gericht gebracht werden, da nur hier Lebens- und Leibesstrafen gegen sie ausgesprochen werden können. Um Missethaten, welche Knechte gegeneinander begingen, konnte der Immunitätsherr als Leib- herr Vergeltung üben. Doch war es diesfalls geistlichen Immunitäts- herren aus Gründen des kanonischen Rechtes versagt, Bluturteile voll- strecken zu lassen 65. 63 Cap. Haristall. v. J. 779, c. 9, I 48: ut latrones de infra immunitatem illi iudicis ad comitum placita praesentetur. Cap. legg. add. v. J. 803, c. 2, I 113. Ed. Pist. c. 18, Pertz, LL I 492 (betreffend die Auslieferung des Münzfälschers). Cap. Caris. v. J. 873, c. 3, LL I 520. 64 Ludwig I. für Paris v. J. 819, Mühlbacher Nr. 683: in mallo legitimo comitis et ibi una cum advocato ecclesiae venire non differant (liberi homines) et rectam rationem et legalem iusticiam adimplere cogantur. 65 In Urk. Lothars I. für Novalese v. J. 845, Mühlbacher Nr. 1088, er- hält der Abt omnem districtionem et iudicium providendum exceptis illis culpis criminalibus, de quibus sacerdotibus et monachis non est licitum iudicare. Die angesiedelten Spanier haben nach Const. de Hispanis v. J. 815, c. 3 die Gerichts-

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/318>, abgerufen am 22.11.2024.