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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 97. Einleitung zu Teil II.
lässt sich allerdings innerhalb des Kreises der Deliktsklagen zwischen
Busssachen und Achtsachen unterscheiden, wobei unter diesen ein
solches Unrecht zu verstehen ist, welches die Acht oder eine ihrer
Abspaltungen mit Einschluss der Todesstrafen und der verstümmeln-
den Leibesstrafen zur rechtlichen Folge hatte. Allein dieser Gegen-
satz erlitt unter dem Einfluss des Christentums eine wesentliche Ab-
schwächung durch die grundsätzliche Ausdehnung des Busssystems.
Er tritt daher gerade in den Volksrechten der merowingischen Zeit
so sehr zurück, dass wir über das Verfahren in Achtsachen -- ab-
gesehen von dem Falle der handhaften That -- nur verhältnismässig
dürftige Kunde haben. Schon darum empfiehlt es sich nicht, jenen
Gegensatz, der uns noch in der Geschichte des Strafrechts beschäftigen
wird, der Darstellung des Rechtsgangs zu Grunde zu legen. Ausser-
dem kommt noch in Betracht, dass im Laufe der fränkischen Zeit sich
eine neue Differenzierung der Delikte und der Deliktsklagen geltend
macht, u. a. insofern, als gewisse Verbrechen von Amts wegen verfolgt
und bestraft werden.

Wenn fränkische Rechtsquellen nicht selten schwere Verbrechen
(causae maiores) als crimina schlechtweg3, die deshalb erhobenen
Klagen als actiones criminales bezeichnen, so liegt diesen Ausdrücken
nicht etwa eine durchgreifende Unterscheidung der Rechtsstreitig-
keiten in causae criminales und causae civiles zu Grunde. Vielmehr
ist der Begriff der Civilsache und der Civilklage im heutigen Sinne
der deutschen Rechtsanschauung der fränkischen Zeit unbekannt ge-
blieben4, auch als sie in einzelnen Fällen sachlich bereits vor-
handen waren.

Die Geschichte des Rechtsgangs der fränkischen Zeit soll zunächst
und zwar mit vorwiegender Berücksichtigung der fränkischen Quellen
den ordentlichen Rechtsgang zur Darstellung bringen. Dann folgen
die besonderen Arten des Verfahrens. Im ordentlichen Rechtsgang

3 Siehe unten § 124.
4 Daran darf uns auch Edictum Chlotharii II., c. 4 (de civilibus causis praeter
criminale negucia) trotz der neuestens üblich gewordenen Übersetzung nicht irre
machen. Denn causa civilis bedeutet hier, wie oben S. 315, Anm. 10 bemerkt
wurde, die weltliche, die vor den iudex civilis gehörige Rechtssache im Gegensatz
zur causa ecclesiastica. Solcher Sprachgebrauch ist schon den römischen Rechts-
quellen bekannt. So sagt Novelle 83 v. J. 539 in der Übersetzung des Authenti-
cum: si vero de criminibus conveniantur, si quidem civilia sunt (peri egklematon
... ei men politikon) ... sin autem ecclesiasticum sit delictum ... Vgl. Juliani
Ep. 77 (78), Benedictus Levita V 378. Bereits Cod. Theod. XVI 2, 23 v. J. 376
spricht von caussae civiles im Gegensatz zu den negotia ecclesiastica. -- Die Lex
Curiensis erklärt XVI 1, 3 causa privata als causa minor.

§ 97. Einleitung zu Teil II.
läſst sich allerdings innerhalb des Kreises der Deliktsklagen zwischen
Buſssachen und Achtsachen unterscheiden, wobei unter diesen ein
solches Unrecht zu verstehen ist, welches die Acht oder eine ihrer
Abspaltungen mit Einschluſs der Todesstrafen und der verstümmeln-
den Leibesstrafen zur rechtlichen Folge hatte. Allein dieser Gegen-
satz erlitt unter dem Einfluſs des Christentums eine wesentliche Ab-
schwächung durch die grundsätzliche Ausdehnung des Buſssystems.
Er tritt daher gerade in den Volksrechten der merowingischen Zeit
so sehr zurück, daſs wir über das Verfahren in Achtsachen — ab-
gesehen von dem Falle der handhaften That — nur verhältnismäſsig
dürftige Kunde haben. Schon darum empfiehlt es sich nicht, jenen
Gegensatz, der uns noch in der Geschichte des Strafrechts beschäftigen
wird, der Darstellung des Rechtsgangs zu Grunde zu legen. Auſser-
dem kommt noch in Betracht, daſs im Laufe der fränkischen Zeit sich
eine neue Differenzierung der Delikte und der Deliktsklagen geltend
macht, u. a. insofern, als gewisse Verbrechen von Amts wegen verfolgt
und bestraft werden.

Wenn fränkische Rechtsquellen nicht selten schwere Verbrechen
(causae maiores) als crimina schlechtweg3, die deshalb erhobenen
Klagen als actiones criminales bezeichnen, so liegt diesen Ausdrücken
nicht etwa eine durchgreifende Unterscheidung der Rechtsstreitig-
keiten in causae criminales und causae civiles zu Grunde. Vielmehr
ist der Begriff der Civilsache und der Civilklage im heutigen Sinne
der deutschen Rechtsanschauung der fränkischen Zeit unbekannt ge-
blieben4, auch als sie in einzelnen Fällen sachlich bereits vor-
handen waren.

Die Geschichte des Rechtsgangs der fränkischen Zeit soll zunächst
und zwar mit vorwiegender Berücksichtigung der fränkischen Quellen
den ordentlichen Rechtsgang zur Darstellung bringen. Dann folgen
die besonderen Arten des Verfahrens. Im ordentlichen Rechtsgang

3 Siehe unten § 124.
4 Daran darf uns auch Edictum Chlotharii II., c. 4 (de civilibus causis praeter
criminale negucia) trotz der neuestens üblich gewordenen Übersetzung nicht irre
machen. Denn causa civilis bedeutet hier, wie oben S. 315, Anm. 10 bemerkt
wurde, die weltliche, die vor den iudex civilis gehörige Rechtssache im Gegensatz
zur causa ecclesiastica. Solcher Sprachgebrauch ist schon den römischen Rechts-
quellen bekannt. So sagt Novelle 83 v. J. 539 in der Übersetzung des Authenti-
cum: si vero de criminibus conveniantur, si quidem civilia sunt (πεϱὶ ἐγκλημάτων
… εἰ μὲν πολιτικῶν) … sin autem ecclesiasticum sit delictum … Vgl. Juliani
Ep. 77 (78), Benedictus Levita V 378. Bereits Cod. Theod. XVI 2, 23 v. J. 376
spricht von caussae civiles im Gegensatz zu den negotia ecclesiastica. — Die Lex
Curiensis erklärt XVI 1, 3 causa privata als causa minor.
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[329/0347] § 97. Einleitung zu Teil II. läſst sich allerdings innerhalb des Kreises der Deliktsklagen zwischen Buſssachen und Achtsachen unterscheiden, wobei unter diesen ein solches Unrecht zu verstehen ist, welches die Acht oder eine ihrer Abspaltungen mit Einschluſs der Todesstrafen und der verstümmeln- den Leibesstrafen zur rechtlichen Folge hatte. Allein dieser Gegen- satz erlitt unter dem Einfluſs des Christentums eine wesentliche Ab- schwächung durch die grundsätzliche Ausdehnung des Buſssystems. Er tritt daher gerade in den Volksrechten der merowingischen Zeit so sehr zurück, daſs wir über das Verfahren in Achtsachen — ab- gesehen von dem Falle der handhaften That — nur verhältnismäſsig dürftige Kunde haben. Schon darum empfiehlt es sich nicht, jenen Gegensatz, der uns noch in der Geschichte des Strafrechts beschäftigen wird, der Darstellung des Rechtsgangs zu Grunde zu legen. Auſser- dem kommt noch in Betracht, daſs im Laufe der fränkischen Zeit sich eine neue Differenzierung der Delikte und der Deliktsklagen geltend macht, u. a. insofern, als gewisse Verbrechen von Amts wegen verfolgt und bestraft werden. Wenn fränkische Rechtsquellen nicht selten schwere Verbrechen (causae maiores) als crimina schlechtweg 3, die deshalb erhobenen Klagen als actiones criminales bezeichnen, so liegt diesen Ausdrücken nicht etwa eine durchgreifende Unterscheidung der Rechtsstreitig- keiten in causae criminales und causae civiles zu Grunde. Vielmehr ist der Begriff der Civilsache und der Civilklage im heutigen Sinne der deutschen Rechtsanschauung der fränkischen Zeit unbekannt ge- blieben 4, auch als sie in einzelnen Fällen sachlich bereits vor- handen waren. Die Geschichte des Rechtsgangs der fränkischen Zeit soll zunächst und zwar mit vorwiegender Berücksichtigung der fränkischen Quellen den ordentlichen Rechtsgang zur Darstellung bringen. Dann folgen die besonderen Arten des Verfahrens. Im ordentlichen Rechtsgang 3 Siehe unten § 124. 4 Daran darf uns auch Edictum Chlotharii II., c. 4 (de civilibus causis praeter criminale negucia) trotz der neuestens üblich gewordenen Übersetzung nicht irre machen. Denn causa civilis bedeutet hier, wie oben S. 315, Anm. 10 bemerkt wurde, die weltliche, die vor den iudex civilis gehörige Rechtssache im Gegensatz zur causa ecclesiastica. Solcher Sprachgebrauch ist schon den römischen Rechts- quellen bekannt. So sagt Novelle 83 v. J. 539 in der Übersetzung des Authenti- cum: si vero de criminibus conveniantur, si quidem civilia sunt (πεϱὶ ἐγκλημάτων … εἰ μὲν πολιτικῶν) … sin autem ecclesiasticum sit delictum … Vgl. Juliani Ep. 77 (78), Benedictus Levita V 378. Bereits Cod. Theod. XVI 2, 23 v. J. 376 spricht von caussae civiles im Gegensatz zu den negotia ecclesiastica. — Die Lex Curiensis erklärt XVI 1, 3 causa privata als causa minor.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/347>, abgerufen am 22.11.2024.