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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 110. Die aussergerichtliche Pfandnahme.
geben, ehe die Schuld bezahlt sei 19. Dann hat der Gläubiger den
Schuldner dreimal von Woche zu Woche zu mahnen. Mit jeder ver-
geblichen Mahnung steigt die Schuld um drei Solidi. Ist die letzte
Wochenfrist verstrichen, so darf der Gläubiger zur aussergerichtlichen
Pfandnahme schreiten 20.

Das Recht der Pfandnahme steht nicht nur dem Gläubiger, son-
dern auch dem Bürgen zu, der seinerseits wiederum von dem Gläu-
biger gepfändet werden darf. Einst scheint es erlaubt gewesen zu
sein, nicht nur den eigentlichen Schuldner, sondern auch gewisse
Sippegenossen desselben zu pfänden, so dass die Sippe, wie der Fehde,
auch der Pfändung ausgesetzt war. Denn die Volksrechte sehen sich
veranlasst, besondere Busse zu setzen, si quis alterum pro altero
pignoraverit 21, und ausdrücklich gestattet Rotharis Edikt, des Schuld-
ners gafand, das heisst, nächsten wartberechtigten Anerben, zu
pfänden 22.


19 Über dieses testare siehe Behrend, Zum Prozess der Lex Salica, Fest-
gaben für Heffter, S. 75 f.
20 Dass auf Grund des nexti chantigio aussergerichtliche Pfändung gestattet
war, ergiebt Lex Sal. 75 (Cap. I 10): si quis debitorem suum per ignorantiam sine
iudice pignoraverit antequam eum nesti canthechigio, hoc est accusante, et debitum
perdat et insuper -- similiter si male pignoraverit -- cum lege componat, hoc est
capitale reddat et solidos XV culp. iud. Die Worte per ignorantiam sind nicht auf den
Richter, nicht auf den Pfandnehmer, sondern auf den Schuldner zu beziehen, der
gepfändet wird, ohne vorher durch Erhebung der Pfändungsklage davon erfahren
zu haben. Wird das gesetzliche Verfahren eingehalten, so weiss der Schuldner,
dass er gepfändet werden soll. Plötzliche Pfändung ist in Abwesenheit des nicht
benachrichtigten Schuldners sehr wohl denkbar. Im dänischen Rechte ist es sogar
vorgeschrieben, ohne Wissen, d. h. in Abwesenheit des Schuldners, zu pfänden.
Sine iudice bezeichnet in der angeführten Novelle nicht den Thungin, der niemals
auspfändet, sondern den Grafen. Wer durch diesen eine Pfändung vollziehen lässt,
ohne dass die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, bezahlt zweihundert Solidi.
Der Graf, welcher male pignorat, büsst mit dem Leben, der selbstpfändende Gläu-
biger nur 15 Solidi. Über das Verhältnis von Lex Sal. 50, 3 zu 50, 2 siehe unten
§ 111, Anm. 3.
21 Lex Burg. 19, 3. Pactus Alam. III 7. Roth. 247. Vgl. Cassiod. Var. 4, 10:
si vero alterum pro altero, quod nefas dictu est, pignorare maluerit, in duplum
cui vim fecit direpta restituat.
22 Roth. 247: nulli liceat alium pro alio pignerare excepto illo, qui gafand esse
invenitur, id est coheres parens proximior, qui illi ad hereditatem, si casus evene-
rit, venturus est. Nach Glosse und Expositio zu Roth. 247 sollte solches Pfand dem
Gläubiger niemals zu Eigentum verfallen, sondern der gafand ein unbefristetes Ein-
lösungsrecht haben. Die Lombardisten erklärten den gafand aus der Vergabung von
Todeswegen. Carolus de Tocco zu Lombarda II 21, 3: gaphans, ut dicebant prae-
ceptores mei, hic ponitur pro donatario universitatis, qui verus dominus est rerum

§ 110. Die auſsergerichtliche Pfandnahme.
geben, ehe die Schuld bezahlt sei 19. Dann hat der Gläubiger den
Schuldner dreimal von Woche zu Woche zu mahnen. Mit jeder ver-
geblichen Mahnung steigt die Schuld um drei Solidi. Ist die letzte
Wochenfrist verstrichen, so darf der Gläubiger zur auſsergerichtlichen
Pfandnahme schreiten 20.

Das Recht der Pfandnahme steht nicht nur dem Gläubiger, son-
dern auch dem Bürgen zu, der seinerseits wiederum von dem Gläu-
biger gepfändet werden darf. Einst scheint es erlaubt gewesen zu
sein, nicht nur den eigentlichen Schuldner, sondern auch gewisse
Sippegenossen desselben zu pfänden, so daſs die Sippe, wie der Fehde,
auch der Pfändung ausgesetzt war. Denn die Volksrechte sehen sich
veranlaſst, besondere Buſse zu setzen, si quis alterum pro altero
pignoraverit 21, und ausdrücklich gestattet Rotharis Edikt, des Schuld-
ners gafand, das heiſst, nächsten wartberechtigten Anerben, zu
pfänden 22.


19 Über dieses testare siehe Behrend, Zum Prozeſs der Lex Salica, Fest-
gaben für Heffter, S. 75 f.
20 Daſs auf Grund des nexti chantigio auſsergerichtliche Pfändung gestattet
war, ergiebt Lex Sal. 75 (Cap. I 10): si quis debitorem suum per ignorantiam sine
iudice pignoraverit antequam eum nesti canthechigio, hoc est accusante, et debitum
perdat et insuper — similiter si male pignoraverit — cum lege componat, hoc est
capitale reddat et solidos XV culp. iud. Die Worte per ignorantiam sind nicht auf den
Richter, nicht auf den Pfandnehmer, sondern auf den Schuldner zu beziehen, der
gepfändet wird, ohne vorher durch Erhebung der Pfändungsklage davon erfahren
zu haben. Wird das gesetzliche Verfahren eingehalten, so weiſs der Schuldner,
daſs er gepfändet werden soll. Plötzliche Pfändung ist in Abwesenheit des nicht
benachrichtigten Schuldners sehr wohl denkbar. Im dänischen Rechte ist es sogar
vorgeschrieben, ohne Wissen, d. h. in Abwesenheit des Schuldners, zu pfänden.
Sine iudice bezeichnet in der angeführten Novelle nicht den Thungin, der niemals
auspfändet, sondern den Grafen. Wer durch diesen eine Pfändung vollziehen läſst,
ohne daſs die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, bezahlt zweihundert Solidi.
Der Graf, welcher male pignorat, büſst mit dem Leben, der selbstpfändende Gläu-
biger nur 15 Solidi. Über das Verhältnis von Lex Sal. 50, 3 zu 50, 2 siehe unten
§ 111, Anm. 3.
21 Lex Burg. 19, 3. Pactus Alam. III 7. Roth. 247. Vgl. Cassiod. Var. 4, 10:
si vero alterum pro altero, quod nefas dictu est, pignorare maluerit, in duplum
cui vim fecit direpta restituat.
22 Roth. 247: nulli liceat alium pro alio pignerare excepto illo, qui gafand esse
invenitur, id est coheres parens proximior, qui illi ad hereditatem, si casus evene-
rit, venturus est. Nach Glosse und Expositio zu Roth. 247 sollte solches Pfand dem
Gläubiger niemals zu Eigentum verfallen, sondern der gafand ein unbefristetes Ein-
lösungsrecht haben. Die Lombardisten erklärten den gafand aus der Vergabung von
Todeswegen. Carolus de Tocco zu Lombarda II 21, 3: gaphans, ut dicebant prae-
ceptores mei, hic ponitur pro donatario universitatis, qui verus dominus est rerum
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[448/0466] § 110. Die auſsergerichtliche Pfandnahme. geben, ehe die Schuld bezahlt sei 19. Dann hat der Gläubiger den Schuldner dreimal von Woche zu Woche zu mahnen. Mit jeder ver- geblichen Mahnung steigt die Schuld um drei Solidi. Ist die letzte Wochenfrist verstrichen, so darf der Gläubiger zur auſsergerichtlichen Pfandnahme schreiten 20. Das Recht der Pfandnahme steht nicht nur dem Gläubiger, son- dern auch dem Bürgen zu, der seinerseits wiederum von dem Gläu- biger gepfändet werden darf. Einst scheint es erlaubt gewesen zu sein, nicht nur den eigentlichen Schuldner, sondern auch gewisse Sippegenossen desselben zu pfänden, so daſs die Sippe, wie der Fehde, auch der Pfändung ausgesetzt war. Denn die Volksrechte sehen sich veranlaſst, besondere Buſse zu setzen, si quis alterum pro altero pignoraverit 21, und ausdrücklich gestattet Rotharis Edikt, des Schuld- ners gafand, das heiſst, nächsten wartberechtigten Anerben, zu pfänden 22. 19 Über dieses testare siehe Behrend, Zum Prozeſs der Lex Salica, Fest- gaben für Heffter, S. 75 f. 20 Daſs auf Grund des nexti chantigio auſsergerichtliche Pfändung gestattet war, ergiebt Lex Sal. 75 (Cap. I 10): si quis debitorem suum per ignorantiam sine iudice pignoraverit antequam eum nesti canthechigio, hoc est accusante, et debitum perdat et insuper — similiter si male pignoraverit — cum lege componat, hoc est capitale reddat et solidos XV culp. iud. Die Worte per ignorantiam sind nicht auf den Richter, nicht auf den Pfandnehmer, sondern auf den Schuldner zu beziehen, der gepfändet wird, ohne vorher durch Erhebung der Pfändungsklage davon erfahren zu haben. Wird das gesetzliche Verfahren eingehalten, so weiſs der Schuldner, daſs er gepfändet werden soll. Plötzliche Pfändung ist in Abwesenheit des nicht benachrichtigten Schuldners sehr wohl denkbar. Im dänischen Rechte ist es sogar vorgeschrieben, ohne Wissen, d. h. in Abwesenheit des Schuldners, zu pfänden. Sine iudice bezeichnet in der angeführten Novelle nicht den Thungin, der niemals auspfändet, sondern den Grafen. Wer durch diesen eine Pfändung vollziehen läſst, ohne daſs die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, bezahlt zweihundert Solidi. Der Graf, welcher male pignorat, büſst mit dem Leben, der selbstpfändende Gläu- biger nur 15 Solidi. Über das Verhältnis von Lex Sal. 50, 3 zu 50, 2 siehe unten § 111, Anm. 3. 21 Lex Burg. 19, 3. Pactus Alam. III 7. Roth. 247. Vgl. Cassiod. Var. 4, 10: si vero alterum pro altero, quod nefas dictu est, pignorare maluerit, in duplum cui vim fecit direpta restituat. 22 Roth. 247: nulli liceat alium pro alio pignerare excepto illo, qui gafand esse invenitur, id est coheres parens proximior, qui illi ad hereditatem, si casus evene- rit, venturus est. Nach Glosse und Expositio zu Roth. 247 sollte solches Pfand dem Gläubiger niemals zu Eigentum verfallen, sondern der gafand ein unbefristetes Ein- lösungsrecht haben. Die Lombardisten erklärten den gafand aus der Vergabung von Todeswegen. Carolus de Tocco zu Lombarda II 21, 3: gaphans, ut dicebant prae- ceptores mei, hic ponitur pro donatario universitatis, qui verus dominus est rerum

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/466>, abgerufen am 22.11.2024.