Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.§ 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren. Gewalt und aus der inquisitorischen Thätigkeit, welche die Bischöfenicht selten als königliche Missi in weltlichen Angelegenheiten ent- falten mussten, mag es sich erklären, dass die fränkische Kirche in ihren Sendgerichten das Rügeverfahren recipierte. Anfangs auf einen ziemlich eng begrenzten Kreis von Übelthaten beschränkt, hat sich all- mählich die Fragegewalt des kirchlichen Richters merklich erweitert. In nachfränkischer Zeit gelangte das weltliche Rügeverfahren zu 32 Hasenöhrl, Oesterr. Landesrecht S. 209. Luschin v. Ebengreuth, Geschichte des älteren Gerichtswesens in Oesterreich S. 170. 267. 33 Rosenthal, Gesch. d. Gerichtswesens Baierns I (1889) S. 210. 34 Warnkönig, Flandr. RG III 321. Gilliodts van Severen, Cout. du Franc de Bruges II 20. Bennecke, Zur Gesch. des deutschen Strafprozesses 1886, S. 24 ff. Lameere, Les communes verites dans le droit flamand 1882. 35 H. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 458 f. 36 Bis zur Durchführung des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes vom
27. Januar 1877 bestand im Herzogtum Anhalt ein besonderes Klage- oder Rüge- gericht, welches bei dem ehemaligen Jagdschloss Volkmannsrode in der Nähe von Tilkerode alljährlich zweimal unter freiem Himmel für die Bewohner der Ortschaften Abberode, Stangenrode und Tilkerode gehegt wurde, um über Feld- und Forstpolizei- sachen und über Grenzstreitigkeiten zu richten. Ein ähnliches Gericht wurde für die Bewohner des Dorfes Steinbrücken bei der herzoglichen Kreisgerichtskommission zu Harzgerode abgehalten. Motive zum Gerichtsverfassungsgesetz in den Ver- handlungen des deutschen Reichstages 1874, S. 41, zu Nr. 4. -- In der reussischen Herrschaft Gera hatte sich an das Rügegericht ein Frontanz der Bauern ange- schlossen. Die Rechtssitte weist auf die uralte Verbindung von Gerichtsversamm- lungen und Opferfesten zurück. Mitteil. der Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes zu Altenburg I 32 ff. § 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren. Gewalt und aus der inquisitorischen Thätigkeit, welche die Bischöfenicht selten als königliche Missi in weltlichen Angelegenheiten ent- falten muſsten, mag es sich erklären, daſs die fränkische Kirche in ihren Sendgerichten das Rügeverfahren recipierte. Anfangs auf einen ziemlich eng begrenzten Kreis von Übelthaten beschränkt, hat sich all- mählich die Fragegewalt des kirchlichen Richters merklich erweitert. In nachfränkischer Zeit gelangte das weltliche Rügeverfahren zu 32 Hasenöhrl, Oesterr. Landesrecht S. 209. Luschin v. Ebengreuth, Geschichte des älteren Gerichtswesens in Oesterreich S. 170. 267. 33 Rosenthal, Gesch. d. Gerichtswesens Baierns I (1889) S. 210. 34 Warnkönig, Flandr. RG III 321. Gilliodts van Severen, Cout. du Franc de Bruges II 20. Bennecke, Zur Gesch. des deutschen Strafprozesses 1886, S. 24 ff. Lameere, Les communes verités dans le droit flamand 1882. 35 H. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 458 f. 36 Bis zur Durchführung des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes vom
27. Januar 1877 bestand im Herzogtum Anhalt ein besonderes Klage- oder Rüge- gericht, welches bei dem ehemaligen Jagdschloſs Volkmannsrode in der Nähe von Tilkerode alljährlich zweimal unter freiem Himmel für die Bewohner der Ortschaften Abberode, Stangenrode und Tilkerode gehegt wurde, um über Feld- und Forstpolizei- sachen und über Grenzstreitigkeiten zu richten. Ein ähnliches Gericht wurde für die Bewohner des Dorfes Steinbrücken bei der herzoglichen Kreisgerichtskommission zu Harzgerode abgehalten. Motive zum Gerichtsverfassungsgesetz in den Ver- handlungen des deutschen Reichstages 1874, S. 41, zu Nr. 4. — In der reuſsischen Herrschaft Gera hatte sich an das Rügegericht ein Frontanz der Bauern ange- schlossen. Die Rechtssitte weist auf die uralte Verbindung von Gerichtsversamm- lungen und Opferfesten zurück. Mitteil. der Geschichts- und Altertumsforschenden Gesellschaft des Osterlandes zu Altenburg I 32 ff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0512" n="494"/><fw place="top" type="header">§ 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren.</fw><lb/> Gewalt und aus der inquisitorischen Thätigkeit, welche die Bischöfe<lb/> nicht selten als königliche Missi in weltlichen Angelegenheiten ent-<lb/> falten muſsten, mag es sich erklären, daſs die fränkische Kirche in<lb/> ihren Sendgerichten das Rügeverfahren recipierte. Anfangs auf einen<lb/> ziemlich eng begrenzten Kreis von Übelthaten beschränkt, hat sich all-<lb/> mählich die Fragegewalt des kirchlichen Richters merklich erweitert.</p><lb/> <p>In nachfränkischer Zeit gelangte das weltliche Rügeverfahren zu<lb/> ausgedehnter Anwendung. Wir finden es bei allen deutschen Stämmen<lb/> zum Teil unter eigenartigen Bezeichnungen; so z. B. in Oesterreich<lb/> als Geräunen, Landfrage <note place="foot" n="32"><hi rendition="#g">Hasenöhrl</hi>, Oesterr. Landesrecht S. 209. <hi rendition="#g">Luschin v. Ebengreuth</hi>,<lb/> Geschichte des älteren Gerichtswesens in Oesterreich S. 170. 267.</note> oder Rüegat, in Baiern als Rügung <note place="foot" n="33"><hi rendition="#g">Rosenthal</hi>, Gesch. d. Gerichtswesens Baierns I (1889) S. 210.</note>, bei<lb/> den Friesen als wroginge, in holländischen, flandrischen und nord-<lb/> französischen Keuren und Coutumes als stille, als durchgehende Wahr-<lb/> heit, coye verité, franche verité, commune verité <note place="foot" n="34"><hi rendition="#g">Warnkönig</hi>, Flandr. RG III 321. <hi rendition="#g">Gilliodts van Severen</hi>, Cout. du<lb/> Franc de Bruges II 20. <hi rendition="#g">Bennecke</hi>, Zur Gesch. des deutschen Strafprozesses 1886,<lb/> S. 24 ff. <hi rendition="#g">Lameere</hi>, Les communes verités dans le droit flamand 1882.</note>. Auf das fränkische<lb/> Rügeverfahren führt im wesentlichen das eigenartige Strafverfahren der<lb/> westfälischen Vehmgerichte zurück, ebenso die Einrichtung der An-<lb/> klagejury, wie sie in England unter normannischem Einfluſs erwuchs <note place="foot" n="35">H. <hi rendition="#g">Brunner</hi>, Entstehung der Schwurgerichte S. 458 f.</note>.<lb/> Auf deutscher Erde sind die letzten geschichtlichen Ausläufer des Rüge-<lb/> verfahrens in den Feld- und Forstrügegerichten des Herzogtums Anhalt<lb/> erst kürzlich verschwunden <note place="foot" n="36">Bis zur Durchführung des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes vom<lb/> 27. Januar 1877 bestand im Herzogtum Anhalt ein besonderes Klage- oder Rüge-<lb/> gericht, welches bei dem ehemaligen Jagdschloſs Volkmannsrode in der Nähe von<lb/> Tilkerode alljährlich zweimal unter freiem Himmel für die Bewohner der <choice><sic>Ortschafteu</sic><corr>Ortschaften</corr></choice><lb/> Abberode, Stangenrode und Tilkerode gehegt wurde, um über Feld- und Forstpolizei-<lb/> sachen und über Grenzstreitigkeiten zu richten. Ein ähnliches Gericht wurde für<lb/> die Bewohner des Dorfes Steinbrücken bei der herzoglichen Kreisgerichtskommission<lb/> zu Harzgerode abgehalten. Motive zum Gerichtsverfassungsgesetz in den Ver-<lb/> handlungen des deutschen Reichstages 1874, S. 41, zu Nr. 4. — In der reuſsischen<lb/> Herrschaft Gera hatte sich an das Rügegericht ein Frontanz der Bauern ange-<lb/> schlossen. Die Rechtssitte weist auf die uralte Verbindung von Gerichtsversamm-<lb/> lungen und Opferfesten zurück. Mitteil. der Geschichts- und Altertumsforschenden<lb/> Gesellschaft des Osterlandes zu Altenburg I 32 ff.</note>.</p> </div><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [494/0512]
§ 117. Vorgehen von Amtswegen. Insbesondere das Rügeverfahren.
Gewalt und aus der inquisitorischen Thätigkeit, welche die Bischöfe
nicht selten als königliche Missi in weltlichen Angelegenheiten ent-
falten muſsten, mag es sich erklären, daſs die fränkische Kirche in
ihren Sendgerichten das Rügeverfahren recipierte. Anfangs auf einen
ziemlich eng begrenzten Kreis von Übelthaten beschränkt, hat sich all-
mählich die Fragegewalt des kirchlichen Richters merklich erweitert.
In nachfränkischer Zeit gelangte das weltliche Rügeverfahren zu
ausgedehnter Anwendung. Wir finden es bei allen deutschen Stämmen
zum Teil unter eigenartigen Bezeichnungen; so z. B. in Oesterreich
als Geräunen, Landfrage 32 oder Rüegat, in Baiern als Rügung 33, bei
den Friesen als wroginge, in holländischen, flandrischen und nord-
französischen Keuren und Coutumes als stille, als durchgehende Wahr-
heit, coye verité, franche verité, commune verité 34. Auf das fränkische
Rügeverfahren führt im wesentlichen das eigenartige Strafverfahren der
westfälischen Vehmgerichte zurück, ebenso die Einrichtung der An-
klagejury, wie sie in England unter normannischem Einfluſs erwuchs 35.
Auf deutscher Erde sind die letzten geschichtlichen Ausläufer des Rüge-
verfahrens in den Feld- und Forstrügegerichten des Herzogtums Anhalt
erst kürzlich verschwunden 36.
32 Hasenöhrl, Oesterr. Landesrecht S. 209. Luschin v. Ebengreuth,
Geschichte des älteren Gerichtswesens in Oesterreich S. 170. 267.
33 Rosenthal, Gesch. d. Gerichtswesens Baierns I (1889) S. 210.
34 Warnkönig, Flandr. RG III 321. Gilliodts van Severen, Cout. du
Franc de Bruges II 20. Bennecke, Zur Gesch. des deutschen Strafprozesses 1886,
S. 24 ff. Lameere, Les communes verités dans le droit flamand 1882.
35 H. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 458 f.
36 Bis zur Durchführung des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes vom
27. Januar 1877 bestand im Herzogtum Anhalt ein besonderes Klage- oder Rüge-
gericht, welches bei dem ehemaligen Jagdschloſs Volkmannsrode in der Nähe von
Tilkerode alljährlich zweimal unter freiem Himmel für die Bewohner der Ortschaften
Abberode, Stangenrode und Tilkerode gehegt wurde, um über Feld- und Forstpolizei-
sachen und über Grenzstreitigkeiten zu richten. Ein ähnliches Gericht wurde für
die Bewohner des Dorfes Steinbrücken bei der herzoglichen Kreisgerichtskommission
zu Harzgerode abgehalten. Motive zum Gerichtsverfassungsgesetz in den Ver-
handlungen des deutschen Reichstages 1874, S. 41, zu Nr. 4. — In der reuſsischen
Herrschaft Gera hatte sich an das Rügegericht ein Frontanz der Bauern ange-
schlossen. Die Rechtssitte weist auf die uralte Verbindung von Gerichtsversamm-
lungen und Opferfesten zurück. Mitteil. der Geschichts- und Altertumsforschenden
Gesellschaft des Osterlandes zu Altenburg I 32 ff.
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