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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 119. Der Rechtsgang um Liegenschaften.
schaften auf, eine Erscheinung, die man nicht ohne Grund mit den
Nachwirkungen der Feldgemeinschaft in Zusammenhang bringt.

Die älteste Liegenschaftsklage war Klage um rechtswidrige Land-
nahme. Ran, Raub, jorth-ran 1, Landraub nennt man im Norden
die widerrechtliche Okkupation und Bearbeitung eines fremden Grund-
stückes 2. Londraf 3 heisst das Delikt bei den Friesen, reaflac (Raub)
bei den Angelsachsen 4. Nach den deutschen Rechten äussert sich
jene Auffassung u. a. in der Klagformel, durch die der Kläger be-
hauptet, dass der Beklagte das streitige Grundstück widerrechtlich an sich
gerissen habe, malo ordine oder injuste invasisset, pervasisset, tulisset,
tulisset vel abstraxisset, proprisisset, introisset, usurpasset 5.

Etwas jünger dürfte die Klagformel sein, die dem Besitzer vor-
wirft, dass er dem Kläger das Grundstück rechtswidrig vorenthalte,
malo ordine oder injuste retineret, contradiceret, detineret, possi-
deret, haberet, suprasederet 6. Sie scheint zunächst für die Klage um
anvertrautes Gut entstanden zu sein, nämlich für den Fall, dass der
Besitzer mit Bestreitung des gegnerischen Rechtes sich weigerte, den
durch Leihe oder Satzung erworbenen Besitz zu räumen 7, wurde aber
schon früh auf andere Fälle des Liegenschaftsprozesses ausgedehnt und
schliesslich geradezu als gleichwertig statt des Vorwurfs der invasio
gebraucht.

Die Klage um Liegenschaften hatte demnach ebenso wie die Fahr-
nisklage ursprünglich den Charakter einer Deliktsklage. Unterlag der

1 Wilda, Strafrecht S. 908. Jydske Lov II 40. Valdemars Saellandske Lov
66 (2, 42).
2 Im nordischen ran ist auch die Vorenthaltung inbegriffen.
3 Richthofen, Rqu. S. 124, 22; S. 339, 20; S. 340, 19 und wohl auch
schon in der achten Küre a. O. S. 12.
4 Urkunden bei Kemble Cod. dipl. 499 (1237). 1258. 693.
5 Invasio oder invadere z. B. in Lex Rib. 59, 8; 60, 3. Lex Baiuw. XVII 1;
App. 4. Paenit. Merseb. a c. 21. H. 359. -- Pervadere, pervasio: Lex Burg. 79, 3.
Form. Andeg. 47. Pertz, Dipl. M. 41. Lex Baiuw. XII 6. -- Tulit: Lex Rom.
Cur. XXIII 20. -- Tulit vel abstraxit: Pertz, Dipl. M. 70. -- Proprisit: Form.
Bignon. 13. Cap. Baiw. c. 6, I 158. -- Superprisit: Lex Rib. 62, 2. -- Introire:
Extrav. der Lex Sal. B 10. -- Usurpare: Meichelbeck Nr. 115. 117. Cap. legi Sal.
add. v. J. 819, c. 5, I 293. -- Vgl. Expositio zu Liber Pap. Pipp. 23: tollere
dicitur quantum ad res mobiles, invadere quantum ad inmobiles. -- Spoliare,
dispoliare, bireafian gebrauchen die angelsächsischen Urkunden.
6 Retinere z. B. in Pertz, Dipl. M. 49. 66, A. 16. 21. Form. Senon. rec. 7. --
Contradicere: Pertz, Dipl. M. 59, A. 10. -- Possidere, die typische langobardische
Formel z. B. in Roth. 228, Liu. 90. -- Habere: Pertz, Dipl. A. 18. -- Detinere:
H. 83. -- Suprasedere: Form. Merkel. 27.
7 Extravag. der Lex Sal. A 2, Hessels col. 420.

§ 119. Der Rechtsgang um Liegenschaften.
schaften auf, eine Erscheinung, die man nicht ohne Grund mit den
Nachwirkungen der Feldgemeinschaft in Zusammenhang bringt.

Die älteste Liegenschaftsklage war Klage um rechtswidrige Land-
nahme. Rán, Raub, jorþ-rán 1, Landraub nennt man im Norden
die widerrechtliche Okkupation und Bearbeitung eines fremden Grund-
stückes 2. Londrâf 3 heiſst das Delikt bei den Friesen, réaflác (Raub)
bei den Angelsachsen 4. Nach den deutschen Rechten äuſsert sich
jene Auffassung u. a. in der Klagformel, durch die der Kläger be-
hauptet, daſs der Beklagte das streitige Grundstück widerrechtlich an sich
gerissen habe, malo ordine oder injuste invasisset, pervasisset, tulisset,
tulisset vel abstraxisset, proprisisset, introisset, usurpasset 5.

Etwas jünger dürfte die Klagformel sein, die dem Besitzer vor-
wirft, daſs er dem Kläger das Grundstück rechtswidrig vorenthalte,
malo ordine oder injuste retineret, contradiceret, detineret, possi-
deret, haberet, suprasederet 6. Sie scheint zunächst für die Klage um
anvertrautes Gut entstanden zu sein, nämlich für den Fall, daſs der
Besitzer mit Bestreitung des gegnerischen Rechtes sich weigerte, den
durch Leihe oder Satzung erworbenen Besitz zu räumen 7, wurde aber
schon früh auf andere Fälle des Liegenschaftsprozesses ausgedehnt und
schlieſslich geradezu als gleichwertig statt des Vorwurfs der invasio
gebraucht.

Die Klage um Liegenschaften hatte demnach ebenso wie die Fahr-
nisklage ursprünglich den Charakter einer Deliktsklage. Unterlag der

1 Wilda, Strafrecht S. 908. Jydske Lov II 40. Valdemars Sællandske Lov
66 (2, 42).
2 Im nordischen rán ist auch die Vorenthaltung inbegriffen.
3 Richthofen, Rqu. S. 124, 22; S. 339, 20; S. 340, 19 und wohl auch
schon in der achten Küre a. O. S. 12.
4 Urkunden bei Kemble Cod. dipl. 499 (1237). 1258. 693.
5 Invasio oder invadere z. B. in Lex Rib. 59, 8; 60, 3. Lex Baiuw. XVII 1;
App. 4. Paenit. Merseb. a c. 21. H. 359. — Pervadere, pervasio: Lex Burg. 79, 3.
Form. Andeg. 47. Pertz, Dipl. M. 41. Lex Baiuw. XII 6. — Tulit: Lex Rom.
Cur. XXIII 20. — Tulit vel abstraxit: Pertz, Dipl. M. 70. — Proprisit: Form.
Bignon. 13. Cap. Baiw. c. 6, I 158. — Superprisit: Lex Rib. 62, 2. — Introire:
Extrav. der Lex Sal. B 10. — Usurpare: Meichelbeck Nr. 115. 117. Cap. legi Sal.
add. v. J. 819, c. 5, I 293. — Vgl. Expositio zu Liber Pap. Pipp. 23: tollere
dicitur quantum ad res mobiles, invadere quantum ad inmobiles. — Spoliare,
dispoliare, biréafian gebrauchen die angelsächsischen Urkunden.
6 Retinere z. B. in Pertz, Dipl. M. 49. 66, A. 16. 21. Form. Senon. rec. 7. —
Contradicere: Pertz, Dipl. M. 59, A. 10. — Possidere, die typische langobardische
Formel z. B. in Roth. 228, Liu. 90. — Habere: Pertz, Dipl. A. 18. — Detinere:
H. 83. — Suprasedere: Form. Merkel. 27.
7 Extravag. der Lex Sal. A 2, Hessels col. 420.
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[512/0530] § 119. Der Rechtsgang um Liegenschaften. schaften auf, eine Erscheinung, die man nicht ohne Grund mit den Nachwirkungen der Feldgemeinschaft in Zusammenhang bringt. Die älteste Liegenschaftsklage war Klage um rechtswidrige Land- nahme. Rán, Raub, jorþ-rán 1, Landraub nennt man im Norden die widerrechtliche Okkupation und Bearbeitung eines fremden Grund- stückes 2. Londrâf 3 heiſst das Delikt bei den Friesen, réaflác (Raub) bei den Angelsachsen 4. Nach den deutschen Rechten äuſsert sich jene Auffassung u. a. in der Klagformel, durch die der Kläger be- hauptet, daſs der Beklagte das streitige Grundstück widerrechtlich an sich gerissen habe, malo ordine oder injuste invasisset, pervasisset, tulisset, tulisset vel abstraxisset, proprisisset, introisset, usurpasset 5. Etwas jünger dürfte die Klagformel sein, die dem Besitzer vor- wirft, daſs er dem Kläger das Grundstück rechtswidrig vorenthalte, malo ordine oder injuste retineret, contradiceret, detineret, possi- deret, haberet, suprasederet 6. Sie scheint zunächst für die Klage um anvertrautes Gut entstanden zu sein, nämlich für den Fall, daſs der Besitzer mit Bestreitung des gegnerischen Rechtes sich weigerte, den durch Leihe oder Satzung erworbenen Besitz zu räumen 7, wurde aber schon früh auf andere Fälle des Liegenschaftsprozesses ausgedehnt und schlieſslich geradezu als gleichwertig statt des Vorwurfs der invasio gebraucht. Die Klage um Liegenschaften hatte demnach ebenso wie die Fahr- nisklage ursprünglich den Charakter einer Deliktsklage. Unterlag der 1 Wilda, Strafrecht S. 908. Jydske Lov II 40. Valdemars Sællandske Lov 66 (2, 42). 2 Im nordischen rán ist auch die Vorenthaltung inbegriffen. 3 Richthofen, Rqu. S. 124, 22; S. 339, 20; S. 340, 19 und wohl auch schon in der achten Küre a. O. S. 12. 4 Urkunden bei Kemble Cod. dipl. 499 (1237). 1258. 693. 5 Invasio oder invadere z. B. in Lex Rib. 59, 8; 60, 3. Lex Baiuw. XVII 1; App. 4. Paenit. Merseb. a c. 21. H. 359. — Pervadere, pervasio: Lex Burg. 79, 3. Form. Andeg. 47. Pertz, Dipl. M. 41. Lex Baiuw. XII 6. — Tulit: Lex Rom. Cur. XXIII 20. — Tulit vel abstraxit: Pertz, Dipl. M. 70. — Proprisit: Form. Bignon. 13. Cap. Baiw. c. 6, I 158. — Superprisit: Lex Rib. 62, 2. — Introire: Extrav. der Lex Sal. B 10. — Usurpare: Meichelbeck Nr. 115. 117. Cap. legi Sal. add. v. J. 819, c. 5, I 293. — Vgl. Expositio zu Liber Pap. Pipp. 23: tollere dicitur quantum ad res mobiles, invadere quantum ad inmobiles. — Spoliare, dispoliare, biréafian gebrauchen die angelsächsischen Urkunden. 6 Retinere z. B. in Pertz, Dipl. M. 49. 66, A. 16. 21. Form. Senon. rec. 7. — Contradicere: Pertz, Dipl. M. 59, A. 10. — Possidere, die typische langobardische Formel z. B. in Roth. 228, Liu. 90. — Habere: Pertz, Dipl. A. 18. — Detinere: H. 83. — Suprasedere: Form. Merkel. 27. 7 Extravag. der Lex Sal. A 2, Hessels col. 420.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/530>, abgerufen am 22.11.2024.