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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 124. Begriff und Arten der Missethat.
finger höher, als die anderen Finger, das gebärfähige Weib höher denn
ein anderes Weib, das Auge des Einäugigen höher als das des Zwei-
äugigen, bei den Friesen die Hand des Harfenkünstlers, des Gold-
schmiedes und der Friesspinnerin um ein Viertel höher als eine andere
Hand gebüsst 26.

Das Verbrechen erfährt eine Steigerung durch Bruch eines höheren
Friedens, der gewisse Orte oder Personen auf die Dauer oder auf be-
stimmte Zeit zu schützen bestimmt ist. Von der strafrechtlichen Be-
deutung der Sonderfrieden soll in § 130 gehandelt werden.

Dieselbe Missethat kann mehrere Güter verletzen. An demselben
Objekte kann eine Mehrheit von Missethaten, sei es durch eine Hand-
lung, sei es durch mehrere Handlungen, begangen werden. König
Liutprand stellt aus Anlass eines einzelnen Falles (es handelt sich um
Diebstahl mit Bruch fremder Were) den Grundsatz auf: non possumus
in unam causam duas calumnias inponere 27. Eine nordische Rechts-
quelle sagt, dass derjenige, an dem mehrere strafbare Handlungen
verübt wurden, als Kläger wählen müsse, welche von ihnen er ver-
golten wissen wolle 28, ausgenommen bei Verwundungen, deren Bussen
sich bis zu einer gewissen Grenze aufsummen, und ausgenommen die
Konkurrenz von Tötung und Beraubung des Getöteten. Wo die ein-
zelne Missethat, wie dies ja in den nordischen Rechten grundsätzlich
der Fall war, zunächst die Friedlosigkeit nach sich zog, lag die Auf-
fassung nahe, dass von mehreren Verbrechen nur eines zu strafen
sei und nur ausnahmsweise eine Absorption nicht stattfinde. Auf
eine andere Behandlung waren dagegen jene Rechte angewiesen,
in denen das Busssystem derart vorherrschte, dass in erster Linie auf
Busse erkannt wurde. Sie bevorzugten das von den heutigen Krimi-
nalisten sogenannte Kumulationsprinzip. Bei dem Schwergewichte,
welches allenthalben das Strafrecht auf den schädlichen Erfolg zu
legen pflegte, bestand von vornherein die Tendenz, eine Handlung,
die gleichzeitig mehrere Güter verletzte, in eine Mehrheit von Ver-
brechen zu spalten. Wer eine schwangere Frau tötet 29, zahlt nicht nur

26 Roth. 377 verglichen mit Roth. 48. 81. 105. Lex Fris. Judicia Wulemari 10.
27 Liu. 131. Vgl. oben S. 509.
28 Sunesen 68 (V 26): quando plura penalia concurrerint opera eodem tem-
pore perpetrata, actor, adversus quem perpetrata sunt, debet eligere, pro quo uno
ex omnibus penalem exigit satisfactionem, nisi forte occisi cadaver armis et vesti-
bus spolietur ... vel nisi simul plura vulnera infligantur, quorum penales emenda-
tiones nullatenus se consumunt, donec quinque marce argenti fuerint persolute,
quibus solutis nichil erit pro pluribus ultra vulneribus persolvendum.
29 Lex Salica 24, 3 vgl. mit 24, 4. 6. Roth. 75. Alfred 9, pr.

§ 124. Begriff und Arten der Missethat.
finger höher, als die anderen Finger, das gebärfähige Weib höher denn
ein anderes Weib, das Auge des Einäugigen höher als das des Zwei-
äugigen, bei den Friesen die Hand des Harfenkünstlers, des Gold-
schmiedes und der Friesspinnerin um ein Viertel höher als eine andere
Hand gebüſst 26.

Das Verbrechen erfährt eine Steigerung durch Bruch eines höheren
Friedens, der gewisse Orte oder Personen auf die Dauer oder auf be-
stimmte Zeit zu schützen bestimmt ist. Von der strafrechtlichen Be-
deutung der Sonderfrieden soll in § 130 gehandelt werden.

Dieselbe Missethat kann mehrere Güter verletzen. An demselben
Objekte kann eine Mehrheit von Missethaten, sei es durch eine Hand-
lung, sei es durch mehrere Handlungen, begangen werden. König
Liutprand stellt aus Anlaſs eines einzelnen Falles (es handelt sich um
Diebstahl mit Bruch fremder Were) den Grundsatz auf: non possumus
in unam causam duas calumnias inponere 27. Eine nordische Rechts-
quelle sagt, daſs derjenige, an dem mehrere strafbare Handlungen
verübt wurden, als Kläger wählen müsse, welche von ihnen er ver-
golten wissen wolle 28, ausgenommen bei Verwundungen, deren Buſsen
sich bis zu einer gewissen Grenze aufsummen, und ausgenommen die
Konkurrenz von Tötung und Beraubung des Getöteten. Wo die ein-
zelne Missethat, wie dies ja in den nordischen Rechten grundsätzlich
der Fall war, zunächst die Friedlosigkeit nach sich zog, lag die Auf-
fassung nahe, daſs von mehreren Verbrechen nur eines zu strafen
sei und nur ausnahmsweise eine Absorption nicht stattfinde. Auf
eine andere Behandlung waren dagegen jene Rechte angewiesen,
in denen das Buſssystem derart vorherrschte, daſs in erster Linie auf
Buſse erkannt wurde. Sie bevorzugten das von den heutigen Krimi-
nalisten sogenannte Kumulationsprinzip. Bei dem Schwergewichte,
welches allenthalben das Strafrecht auf den schädlichen Erfolg zu
legen pflegte, bestand von vornherein die Tendenz, eine Handlung,
die gleichzeitig mehrere Güter verletzte, in eine Mehrheit von Ver-
brechen zu spalten. Wer eine schwangere Frau tötet 29, zahlt nicht nur

26 Roth. 377 verglichen mit Roth. 48. 81. 105. Lex Fris. Judicia Wulemari 10.
27 Liu. 131. Vgl. oben S. 509.
28 Sunesen 68 (V 26): quando plura penalia concurrerint opera eodem tem-
pore perpetrata, actor, adversus quem perpetrata sunt, debet eligere, pro quo uno
ex omnibus penalem exigit satisfactionem, nisi forte occisi cadaver armis et vesti-
bus spolietur … vel nisi simul plura vulnera infligantur, quorum penales emenda-
tiones nullatenus se consumunt, donec quinque marce argenti fuerint persolute,
quibus solutis nichil erit pro pluribus ultra vulneribus persolvendum.
29 Lex Salica 24, 3 vgl. mit 24, 4. 6. Roth. 75. Alfred 9, pr.
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[541/0559] § 124. Begriff und Arten der Missethat. finger höher, als die anderen Finger, das gebärfähige Weib höher denn ein anderes Weib, das Auge des Einäugigen höher als das des Zwei- äugigen, bei den Friesen die Hand des Harfenkünstlers, des Gold- schmiedes und der Friesspinnerin um ein Viertel höher als eine andere Hand gebüſst 26. Das Verbrechen erfährt eine Steigerung durch Bruch eines höheren Friedens, der gewisse Orte oder Personen auf die Dauer oder auf be- stimmte Zeit zu schützen bestimmt ist. Von der strafrechtlichen Be- deutung der Sonderfrieden soll in § 130 gehandelt werden. Dieselbe Missethat kann mehrere Güter verletzen. An demselben Objekte kann eine Mehrheit von Missethaten, sei es durch eine Hand- lung, sei es durch mehrere Handlungen, begangen werden. König Liutprand stellt aus Anlaſs eines einzelnen Falles (es handelt sich um Diebstahl mit Bruch fremder Were) den Grundsatz auf: non possumus in unam causam duas calumnias inponere 27. Eine nordische Rechts- quelle sagt, daſs derjenige, an dem mehrere strafbare Handlungen verübt wurden, als Kläger wählen müsse, welche von ihnen er ver- golten wissen wolle 28, ausgenommen bei Verwundungen, deren Buſsen sich bis zu einer gewissen Grenze aufsummen, und ausgenommen die Konkurrenz von Tötung und Beraubung des Getöteten. Wo die ein- zelne Missethat, wie dies ja in den nordischen Rechten grundsätzlich der Fall war, zunächst die Friedlosigkeit nach sich zog, lag die Auf- fassung nahe, daſs von mehreren Verbrechen nur eines zu strafen sei und nur ausnahmsweise eine Absorption nicht stattfinde. Auf eine andere Behandlung waren dagegen jene Rechte angewiesen, in denen das Buſssystem derart vorherrschte, daſs in erster Linie auf Buſse erkannt wurde. Sie bevorzugten das von den heutigen Krimi- nalisten sogenannte Kumulationsprinzip. Bei dem Schwergewichte, welches allenthalben das Strafrecht auf den schädlichen Erfolg zu legen pflegte, bestand von vornherein die Tendenz, eine Handlung, die gleichzeitig mehrere Güter verletzte, in eine Mehrheit von Ver- brechen zu spalten. Wer eine schwangere Frau tötet 29, zahlt nicht nur 26 Roth. 377 verglichen mit Roth. 48. 81. 105. Lex Fris. Judicia Wulemari 10. 27 Liu. 131. Vgl. oben S. 509. 28 Sunesen 68 (V 26): quando plura penalia concurrerint opera eodem tem- pore perpetrata, actor, adversus quem perpetrata sunt, debet eligere, pro quo uno ex omnibus penalem exigit satisfactionem, nisi forte occisi cadaver armis et vesti- bus spolietur … vel nisi simul plura vulnera infligantur, quorum penales emenda- tiones nullatenus se consumunt, donec quinque marce argenti fuerint persolute, quibus solutis nichil erit pro pluribus ultra vulneribus persolvendum. 29 Lex Salica 24, 3 vgl. mit 24, 4. 6. Roth. 75. Alfred 9, pr.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 541. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/559>, abgerufen am 22.11.2024.