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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 125. Absicht und Ungefähr.
an gevaere, an gevaerde, die ohngefähr begangene, die unfährliche 4
That, das, was nolens, non volens, extra voluntatem, casu, casu faci-
ente, negligentia 5 geschehen ist. Die Friesen nennen solche Thaten
unweldich, urwalda deda; die Angelsachsen unterscheiden was un-
gewealdes oder unwilles, was gewealdes oder willes verübt wurde,
während die Nordgermanen das Ungefährwerk als vathaverk dem vilia-
verk oder valdsverk gegenüberstellen.

Im Begriffe des Ohngefähr gingen Zufall und Fahrlässigkeit unter-
schiedslos auf. Denn eine ausgebildete Theorie der Fahrlässigkeit 6 be-
sass das altdeutsche Recht ebensowenig, als das griechische und alt-
römische sie besessen hatten.

Strafrechtlich kam die Berücksichtigung der fara und ihres
Gegensatzes dadurch zur Geltung, dass erstens bei gewissen Verbrechen
die Äusserung der bösen Absicht ein wesentliches Merkmal des That-
bestandes bildete 7 und dass zweitens gewisse Thatbestände, bei welchen
die Volksanschauung das Vorhandensein der bösen Absicht von vorn-
herein ausschloss, als Ungefährwerke behandelt wurden. Zwischen
beiden Gruppen von Ausnahmefällen lagerte die breite Masse der
Übelthaten, bei welchen aus dem schädigenden Thatbestande ohne
weiteres auf das Dasein des verbrecherischen Willens geschlossen
wurde.

Jene Ausnahmen waren auf bestimmte Typen zugeschnitten. Wo
die Absicht wesentlich war, musste sie in der That, oder in dem Be-

binden und damit eine Busse von 100 Solidi verwirken werde. Nicht den Mangel
an Überlegung, sondern die feindselige Gesinnung bezeichnet haistan in Roth. 277,
haistera hanti in Lex Alam. 9, bairisch haistlichen ebenda Cod. B 18.
4 Fahrlichen Tod begehen sagt die Urk. Karls IV. bei Haltaus Gl. Sp. 440.
Von ungeverlicher Entleibung spricht im Sinne absichtsloser Tötung die Carolina
Art. 146. Die Bambergensis hat ungeverdlich.
5 Unter der Rubrik de negligentiis parvulorum handelt Lex Sal 24, 5 von
den Missethaten der Unmündigen. Vgl. Cap. miss. v. J. 821, c. 1, I 300. Regino,
De synod. causis II, c. 17. 29: si voluntate vel negligentia factum est. Über die
technische Anwendung von negligence im englischen Rechte Holmes, Common
Law S. 77 ff., Bigelow, Elements of the law of torts 1889, S. 279 ff. In den
Formeln steht negligentia mitunter in weiterem Sinne auch für absichtliche Misse-
that, z. B. in Form. Andeg. 2. 3.
6 Die Geschichte dieses nicht vor dem fünfzehnten Jahrhundert nachweis-
baren Wortes ist wenig aufgehellt. Die Erklärung: träge sich zu bewegen, zu
fahren, einer, der die Dinge fahren lässt, vermag nicht zu befriedigen. Grimm,
WB III 1260. Das Althochdeutsche hatte das Wort caumalosi, negligentia, gau-
malos, negligens, fargaumaloson, zu gaum, cura. Vgl. ags. gymeleasnes, gymeleas.
Graff, Sprachschatz II 269. Grimm, WB IV 1, Sp. 1583.
7 Siehe unten §§ 138. 139. 141.
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 35

§ 125. Absicht und Ungefähr.
ân gevaere, ân gevaerde, die ohngefähr begangene, die unfährliche 4
That, das, was nolens, non volens, extra voluntatem, casu, casu faci-
ente, negligentia 5 geschehen ist. Die Friesen nennen solche Thaten
unweldich, urwalda deda; die Angelsachsen unterscheiden was un-
gewealdes oder unwilles, was gewealdes oder willes verübt wurde,
während die Nordgermanen das Ungefährwerk als vaþaverk dem vilia-
verk oder valdsverk gegenüberstellen.

Im Begriffe des Ohngefähr gingen Zufall und Fahrlässigkeit unter-
schiedslos auf. Denn eine ausgebildete Theorie der Fahrlässigkeit 6 be-
saſs das altdeutsche Recht ebensowenig, als das griechische und alt-
römische sie besessen hatten.

Strafrechtlich kam die Berücksichtigung der fâra und ihres
Gegensatzes dadurch zur Geltung, daſs erstens bei gewissen Verbrechen
die Äuſserung der bösen Absicht ein wesentliches Merkmal des That-
bestandes bildete 7 und daſs zweitens gewisse Thatbestände, bei welchen
die Volksanschauung das Vorhandensein der bösen Absicht von vorn-
herein ausschloſs, als Ungefährwerke behandelt wurden. Zwischen
beiden Gruppen von Ausnahmefällen lagerte die breite Masse der
Übelthaten, bei welchen aus dem schädigenden Thatbestande ohne
weiteres auf das Dasein des verbrecherischen Willens geschlossen
wurde.

Jene Ausnahmen waren auf bestimmte Typen zugeschnitten. Wo
die Absicht wesentlich war, muſste sie in der That, oder in dem Be-

binden und damit eine Buſse von 100 Solidi verwirken werde. Nicht den Mangel
an Überlegung, sondern die feindselige Gesinnung bezeichnet haistan in Roth. 277,
haistera hanti in Lex Alam. 9, bairisch haistlichen ebenda Cod. B 18.
4 Fahrlichen Tod begehen sagt die Urk. Karls IV. bei Haltaus Gl. Sp. 440.
Von ungeverlicher Entleibung spricht im Sinne absichtsloser Tötung die Carolina
Art. 146. Die Bambergensis hat ungeverdlich.
5 Unter der Rubrik de negligentiis parvulorum handelt Lex Sal 24, 5 von
den Missethaten der Unmündigen. Vgl. Cap. miss. v. J. 821, c. 1, I 300. Regino,
De synod. causis II, c. 17. 29: si voluntate vel negligentia factum est. Über die
technische Anwendung von negligence im englischen Rechte Holmes, Common
Law S. 77 ff., Bigelow, Elements of the law of torts 1889, S. 279 ff. In den
Formeln steht negligentia mitunter in weiterem Sinne auch für absichtliche Misse-
that, z. B. in Form. Andeg. 2. 3.
6 Die Geschichte dieses nicht vor dem fünfzehnten Jahrhundert nachweis-
baren Wortes ist wenig aufgehellt. Die Erklärung: träge sich zu bewegen, zu
fahren, einer, der die Dinge fahren läſst, vermag nicht zu befriedigen. Grimm,
WB III 1260. Das Althochdeutsche hatte das Wort caumalôsi, negligentia, gau-
malôs, negligens, fargaumalôsôn, zu gaum, cura. Vgl. ags. gýmeléasnes, gýmeléas.
Graff, Sprachschatz II 269. Grimm, WB IV 1, Sp. 1583.
7 Siehe unten §§ 138. 139. 141.
Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 35
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[545/0563] § 125. Absicht und Ungefähr. ân gevaere, ân gevaerde, die ohngefähr begangene, die unfährliche 4 That, das, was nolens, non volens, extra voluntatem, casu, casu faci- ente, negligentia 5 geschehen ist. Die Friesen nennen solche Thaten unweldich, urwalda deda; die Angelsachsen unterscheiden was un- gewealdes oder unwilles, was gewealdes oder willes verübt wurde, während die Nordgermanen das Ungefährwerk als vaþaverk dem vilia- verk oder valdsverk gegenüberstellen. Im Begriffe des Ohngefähr gingen Zufall und Fahrlässigkeit unter- schiedslos auf. Denn eine ausgebildete Theorie der Fahrlässigkeit 6 be- saſs das altdeutsche Recht ebensowenig, als das griechische und alt- römische sie besessen hatten. Strafrechtlich kam die Berücksichtigung der fâra und ihres Gegensatzes dadurch zur Geltung, daſs erstens bei gewissen Verbrechen die Äuſserung der bösen Absicht ein wesentliches Merkmal des That- bestandes bildete 7 und daſs zweitens gewisse Thatbestände, bei welchen die Volksanschauung das Vorhandensein der bösen Absicht von vorn- herein ausschloſs, als Ungefährwerke behandelt wurden. Zwischen beiden Gruppen von Ausnahmefällen lagerte die breite Masse der Übelthaten, bei welchen aus dem schädigenden Thatbestande ohne weiteres auf das Dasein des verbrecherischen Willens geschlossen wurde. Jene Ausnahmen waren auf bestimmte Typen zugeschnitten. Wo die Absicht wesentlich war, muſste sie in der That, oder in dem Be- 3 4 Fahrlichen Tod begehen sagt die Urk. Karls IV. bei Haltaus Gl. Sp. 440. Von ungeverlicher Entleibung spricht im Sinne absichtsloser Tötung die Carolina Art. 146. Die Bambergensis hat ungeverdlich. 5 Unter der Rubrik de negligentiis parvulorum handelt Lex Sal 24, 5 von den Missethaten der Unmündigen. Vgl. Cap. miss. v. J. 821, c. 1, I 300. Regino, De synod. causis II, c. 17. 29: si voluntate vel negligentia factum est. Über die technische Anwendung von negligence im englischen Rechte Holmes, Common Law S. 77 ff., Bigelow, Elements of the law of torts 1889, S. 279 ff. In den Formeln steht negligentia mitunter in weiterem Sinne auch für absichtliche Misse- that, z. B. in Form. Andeg. 2. 3. 6 Die Geschichte dieses nicht vor dem fünfzehnten Jahrhundert nachweis- baren Wortes ist wenig aufgehellt. Die Erklärung: träge sich zu bewegen, zu fahren, einer, der die Dinge fahren läſst, vermag nicht zu befriedigen. Grimm, WB III 1260. Das Althochdeutsche hatte das Wort caumalôsi, negligentia, gau- malôs, negligens, fargaumalôsôn, zu gaum, cura. Vgl. ags. gýmeléasnes, gýmeléas. Graff, Sprachschatz II 269. Grimm, WB IV 1, Sp. 1583. 7 Siehe unten §§ 138. 139. 141. 3 binden und damit eine Buſse von 100 Solidi verwirken werde. Nicht den Mangel an Überlegung, sondern die feindselige Gesinnung bezeichnet haistan in Roth. 277, haistera hanti in Lex Alam. 9, bairisch haistlichen ebenda Cod. B 18. Binding, Handbuch. II. 1. II: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. II. 35

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 545. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/563>, abgerufen am 25.11.2024.