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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 139. Diebstahl, Raub und Unterschlagung.

Weil der Diebstahl ein Wegnehmen aus fremdem Gewahrsam er-
fordert11, ist die Aneignung jagdbarer Tiere und von Objekten der
Fischerei nicht Diebstahl, sondern eine selbständige Missethat. Non
hic re possessa, heisst es in der Lex Ribuaria, sed de venationibus
agitur12. Aus gleichem Grunde fallen Holzfrevel in öffentlichen Wäl-
dern13 und fällt die Aneignung von Waldbienen und Waldvögeln14
nicht unter den Begriff des Diebstahls.

Dass die Sache gerade dem Gewahrsam des Eigentümers ent-
fremdet werde, ist nicht notwendig. Wird sie dem Nichteigentümer,
z. B. dem Verwahrer, gestohlen, so ist es dieser, dem die Diebstahls-
und die Anefangsklage zusteht15.

An eigener Sache kann man, wie wenigstens für das langobar-
dische Recht feststeht, keinen Diebstahl begehen16. Wer eine fremde
Sache an sich nimmt, weil er sie irrtümlich für die seine hält, haftet
nicht als Dieb, sondern befreit sich durch Gefährdeeid und Rückgabe
der Sache17.

Gegenstand eines Diebstahls können auch Knechte werden. Die
Volksrechte sprechen geradezu von servum furare, ancillam furare18.
Theo-tascaga heisst der Knechtsdiebstahl bei den Saliern, mantheof, wer
einen Knecht stiehlt, bei den Angelsachsen19. Eine Ausnahme machen
das westgotische und das burgundische Recht und einzelne Stellen
der Lex Salica, die auf jene Missethat die römischen Ausdrücke und
Begriffe der sollicitatio und des plagium anwenden20.

Der Diebstahl ist entweder grosser oder kleiner Diebstahl, eine
Einteilung, die auf den ursprünglichen Gegensatz todeswürdigen und
minder straf baren Diebstahls zurückgehen dürfte. Die Grenze wird

11 Lex Fris. 2, 11: si quis servum .., animal vel quodcunque homo ad usum
necessarium in potestate habuerit, ... alii ad auferendum exposuerit ...
12 Lex Rib. 42, 1.
13 Lex Rib. 76.
14 Roth. 319. 320. 321.
15 Siehe oben S. 509.
16 Roth. 380. Wer sein gepfändetes Vieh heimlich aus fremder Were hin-
wegnimmt, büsst nur den Bruch der Were. Dagegen kann nach schwedischen
Rechten am gepfändeten Tiere vom Eigentümer Diebstahl verbrochen werden.
v. Amira, Obligationenrecht I 244.
17 Roth. 342.
18 Lex Sal. 10, 1. Lex Rib. 72, 1. Lex Alam. 7. Lex Baiuw. IX 3. Lex
Angl. et Werin. 36. Vgl. Lex Fris. 2, 11. Pactus pro tenore pacis c. 7.
19 Schmid, Ges. der Ags. S. 555. Eigentümlich ist dem angelsächsischen
Rechte die Auffassung, dass der Knecht, der dem Herrn entläuft, sich selbst stiehlt.
Ine 24. Aethelstan VI 6, 3.
20 Siehe oben I 295, Anm. 17. Die Recapitulatio Legis Sal. A 16 ff. nimmt
den Begriff des furare auf.
§ 139. Diebstahl, Raub und Unterschlagung.

Weil der Diebstahl ein Wegnehmen aus fremdem Gewahrsam er-
fordert11, ist die Aneignung jagdbarer Tiere und von Objekten der
Fischerei nicht Diebstahl, sondern eine selbständige Missethat. Non
hic re possessa, heiſst es in der Lex Ribuaria, sed de venationibus
agitur12. Aus gleichem Grunde fallen Holzfrevel in öffentlichen Wäl-
dern13 und fällt die Aneignung von Waldbienen und Waldvögeln14
nicht unter den Begriff des Diebstahls.

Daſs die Sache gerade dem Gewahrsam des Eigentümers ent-
fremdet werde, ist nicht notwendig. Wird sie dem Nichteigentümer,
z. B. dem Verwahrer, gestohlen, so ist es dieser, dem die Diebstahls-
und die Anefangsklage zusteht15.

An eigener Sache kann man, wie wenigstens für das langobar-
dische Recht feststeht, keinen Diebstahl begehen16. Wer eine fremde
Sache an sich nimmt, weil er sie irrtümlich für die seine hält, haftet
nicht als Dieb, sondern befreit sich durch Gefährdeeid und Rückgabe
der Sache17.

Gegenstand eines Diebstahls können auch Knechte werden. Die
Volksrechte sprechen geradezu von servum furare, ancillam furare18.
Theo-tascaga heiſst der Knechtsdiebstahl bei den Saliern, manþéof, wer
einen Knecht stiehlt, bei den Angelsachsen19. Eine Ausnahme machen
das westgotische und das burgundische Recht und einzelne Stellen
der Lex Salica, die auf jene Missethat die römischen Ausdrücke und
Begriffe der sollicitatio und des plagium anwenden20.

Der Diebstahl ist entweder groſser oder kleiner Diebstahl, eine
Einteilung, die auf den ursprünglichen Gegensatz todeswürdigen und
minder straf baren Diebstahls zurückgehen dürfte. Die Grenze wird

11 Lex Fris. 2, 11: si quis servum .., animal vel quodcunque homo ad usum
necessarium in potestate habuerit, … alii ad auferendum exposuerit …
12 Lex Rib. 42, 1.
13 Lex Rib. 76.
14 Roth. 319. 320. 321.
15 Siehe oben S. 509.
16 Roth. 380. Wer sein gepfändetes Vieh heimlich aus fremder Were hin-
wegnimmt, büſst nur den Bruch der Were. Dagegen kann nach schwedischen
Rechten am gepfändeten Tiere vom Eigentümer Diebstahl verbrochen werden.
v. Amira, Obligationenrecht I 244.
17 Roth. 342.
18 Lex Sal. 10, 1. Lex Rib. 72, 1. Lex Alam. 7. Lex Baiuw. IX 3. Lex
Angl. et Werin. 36. Vgl. Lex Fris. 2, 11. Pactus pro tenore pacis c. 7.
19 Schmid, Ges. der Ags. S. 555. Eigentümlich ist dem angelsächsischen
Rechte die Auffassung, daſs der Knecht, der dem Herrn entläuft, sich selbst stiehlt.
Ine 24. Aethelstan VI 6, 3.
20 Siehe oben I 295, Anm. 17. Die Recapitulatio Legis Sal. A 16 ff. nimmt
den Begriff des furare auf.
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[639/0657] § 139. Diebstahl, Raub und Unterschlagung. Weil der Diebstahl ein Wegnehmen aus fremdem Gewahrsam er- fordert 11, ist die Aneignung jagdbarer Tiere und von Objekten der Fischerei nicht Diebstahl, sondern eine selbständige Missethat. Non hic re possessa, heiſst es in der Lex Ribuaria, sed de venationibus agitur 12. Aus gleichem Grunde fallen Holzfrevel in öffentlichen Wäl- dern 13 und fällt die Aneignung von Waldbienen und Waldvögeln 14 nicht unter den Begriff des Diebstahls. Daſs die Sache gerade dem Gewahrsam des Eigentümers ent- fremdet werde, ist nicht notwendig. Wird sie dem Nichteigentümer, z. B. dem Verwahrer, gestohlen, so ist es dieser, dem die Diebstahls- und die Anefangsklage zusteht 15. An eigener Sache kann man, wie wenigstens für das langobar- dische Recht feststeht, keinen Diebstahl begehen 16. Wer eine fremde Sache an sich nimmt, weil er sie irrtümlich für die seine hält, haftet nicht als Dieb, sondern befreit sich durch Gefährdeeid und Rückgabe der Sache 17. Gegenstand eines Diebstahls können auch Knechte werden. Die Volksrechte sprechen geradezu von servum furare, ancillam furare 18. Theo-tascaga heiſst der Knechtsdiebstahl bei den Saliern, manþéof, wer einen Knecht stiehlt, bei den Angelsachsen 19. Eine Ausnahme machen das westgotische und das burgundische Recht und einzelne Stellen der Lex Salica, die auf jene Missethat die römischen Ausdrücke und Begriffe der sollicitatio und des plagium anwenden 20. Der Diebstahl ist entweder groſser oder kleiner Diebstahl, eine Einteilung, die auf den ursprünglichen Gegensatz todeswürdigen und minder straf baren Diebstahls zurückgehen dürfte. Die Grenze wird 11 Lex Fris. 2, 11: si quis servum .., animal vel quodcunque homo ad usum necessarium in potestate habuerit, … alii ad auferendum exposuerit … 12 Lex Rib. 42, 1. 13 Lex Rib. 76. 14 Roth. 319. 320. 321. 15 Siehe oben S. 509. 16 Roth. 380. Wer sein gepfändetes Vieh heimlich aus fremder Were hin- wegnimmt, büſst nur den Bruch der Were. Dagegen kann nach schwedischen Rechten am gepfändeten Tiere vom Eigentümer Diebstahl verbrochen werden. v. Amira, Obligationenrecht I 244. 17 Roth. 342. 18 Lex Sal. 10, 1. Lex Rib. 72, 1. Lex Alam. 7. Lex Baiuw. IX 3. Lex Angl. et Werin. 36. Vgl. Lex Fris. 2, 11. Pactus pro tenore pacis c. 7. 19 Schmid, Ges. der Ags. S. 555. Eigentümlich ist dem angelsächsischen Rechte die Auffassung, daſs der Knecht, der dem Herrn entläuft, sich selbst stiehlt. Ine 24. Aethelstan VI 6, 3. 20 Siehe oben I 295, Anm. 17. Die Recapitulatio Legis Sal. A 16 ff. nimmt den Begriff des furare auf.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 639. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/657>, abgerufen am 22.11.2024.