Dieser Grundsatz des römischen Rechtes hat sich im westgothischen und im fränkischen Reiche für die römische Bevölkerung erhalten 34. Formulare für jene Inscriptionen sind uns aus fränkischer Zeit über- liefert 35.
Der fremdrechtliche Gedanke ist zuerst in das westgotische Recht 36, aus diesem für Fälle wissentlich falscher Anklage in die Lex Baiuwariorum 37 eingedrungen. Für die gegen den Richter wegen Bestechlichkeit erhobene Anklage hat ihn die Lex Burgundionum auf- genommen 38. In einem singulären Falle wendet ihn auch eine Satzung Liutprands an 39.
Mit Unrecht behauptet man, dass das ältere deutsche Recht die falsche Anklage nach dem Gesichtspunkte der Talion bestraft habe. Im Volksgerichte erhoben, machte die falsche Anklage den Ankläger wahrscheinlich nur strafbar, soweit sie an die Ehre ging. Im übrigen schützte gegen mutwillige und verleumderische Anklagen der ganze Zuschnitt des Gerichtsverfahrens, indem der Voreid, der dem Kläger unbedingt oder auf Verlangen des Gegners oblag, Anlass zu einer Meineidsklage geben konnte, und indem der Kläger, der den Beklagten zur Reinigung durch ein Gottesurteil zwang, im Falle des Gelingens den Bussen der Eidesschelte verfiel.
Unter besonderen Voraussetzungen ist nach salischem Rechte die falsche Anklage vor dem Könige unter Strafe gestellt. Wenn jemand einen Unschuldigen in dessen Abwesenheit vor dem Könige beschuldigt, so büsst er nach den älteren Texten der Lex Salica 621/2 Solidi 40. Die Lex denkt dabei wohl hauptsächlich an die Be- schuldigung der Infidelität. Die Busse ist nicht Talionbusse, sondern Busse der Lebensgefährdung. Die Lex Ribuaria setzt auf die falsche Anklage vor dem Könige schlechtweg die Busse von 60 Solidi 41. Nach
34 Lex Rom. Wisig. Cod. Theod. IX 1, 8, interpr.
35 Form. Turon. 29. Form. Extravag. I 6, Zeumer, Formulae S. 537.
36 Lex Wisig. VII 1, 5 (antiqua): ille vero, qui accusavit, et poenam et dampna suscipiat, quae debuit pati accusatus, si de crimine fuisset convictus.
37 Lex Baiuw. IX 18: si quis ... pro quacumque invidia iniustam accusa- tionem commoverit, ipse penam vel damnum, quod alteri intulit, excipiat.
38 Lex Burg. prima constit. 9.
39 Liu. 111. Jemand verabredet mit einem fremden Knechte, dass dieser sich als handhaften Dieb binden lasse, und klagt gegen den Herrn neunfachen Ersatz des Gestohlenen ein. Wird der Betrug entdeckt, so soll der Kläger an den Herrn des Knechtes das Octogild der angeblich gestohlenen Sache zahlen und ausserdem 40 Solidi pro inlicita praesumptione, die den 40 Solidi entsprechen, um die der Herr den bei handhaftem Diebstahl dem Tode verfallenen Knecht auslösen könnte.
40 Lex Sal. 18.
41 Lex Rib. 38.
§ 144. Ehrenkränkung und falsche Anklage.
Dieser Grundsatz des römischen Rechtes hat sich im westgothischen und im fränkischen Reiche für die römische Bevölkerung erhalten 34. Formulare für jene Inscriptionen sind uns aus fränkischer Zeit über- liefert 35.
Der fremdrechtliche Gedanke ist zuerst in das westgotische Recht 36, aus diesem für Fälle wissentlich falscher Anklage in die Lex Baiuwariorum 37 eingedrungen. Für die gegen den Richter wegen Bestechlichkeit erhobene Anklage hat ihn die Lex Burgundionum auf- genommen 38. In einem singulären Falle wendet ihn auch eine Satzung Liutprands an 39.
Mit Unrecht behauptet man, daſs das ältere deutsche Recht die falsche Anklage nach dem Gesichtspunkte der Talion bestraft habe. Im Volksgerichte erhoben, machte die falsche Anklage den Ankläger wahrscheinlich nur strafbar, soweit sie an die Ehre ging. Im übrigen schützte gegen mutwillige und verleumderische Anklagen der ganze Zuschnitt des Gerichtsverfahrens, indem der Voreid, der dem Kläger unbedingt oder auf Verlangen des Gegners oblag, Anlaſs zu einer Meineidsklage geben konnte, und indem der Kläger, der den Beklagten zur Reinigung durch ein Gottesurteil zwang, im Falle des Gelingens den Buſsen der Eidesschelte verfiel.
Unter besonderen Voraussetzungen ist nach salischem Rechte die falsche Anklage vor dem Könige unter Strafe gestellt. Wenn jemand einen Unschuldigen in dessen Abwesenheit vor dem Könige beschuldigt, so büſst er nach den älteren Texten der Lex Salica 62½ Solidi 40. Die Lex denkt dabei wohl hauptsächlich an die Be- schuldigung der Infidelität. Die Buſse ist nicht Talionbuſse, sondern Buſse der Lebensgefährdung. Die Lex Ribuaria setzt auf die falsche Anklage vor dem Könige schlechtweg die Buſse von 60 Solidi 41. Nach
34 Lex Rom. Wisig. Cod. Theod. IX 1, 8, interpr.
35 Form. Turon. 29. Form. Extravag. I 6, Zeumer, Formulae S. 537.
36 Lex Wisig. VII 1, 5 (antiqua): ille vero, qui accusavit, et poenam et dampna suscipiat, quae debuit pati accusatus, si de crimine fuisset convictus.
37 Lex Baiuw. IX 18: si quis … pro quacumque invidia iniustam accusa- tionem commoverit, ipse penam vel damnum, quod alteri intulit, excipiat.
38 Lex Burg. prima constit. 9.
39 Liu. 111. Jemand verabredet mit einem fremden Knechte, daſs dieser sich als handhaften Dieb binden lasse, und klagt gegen den Herrn neunfachen Ersatz des Gestohlenen ein. Wird der Betrug entdeckt, so soll der Kläger an den Herrn des Knechtes das Octogild der angeblich gestohlenen Sache zahlen und auſserdem 40 Solidi pro inlicita praesumptione, die den 40 Solidi entsprechen, um die der Herr den bei handhaftem Diebstahl dem Tode verfallenen Knecht auslösen könnte.
40 Lex Sal. 18.
41 Lex Rib. 38.
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Formulare für jene Inscriptionen sind uns aus fränkischer Zeit über-
liefert 35.
Der fremdrechtliche Gedanke ist zuerst in das westgotische
Recht 36, aus diesem für Fälle wissentlich falscher Anklage in die Lex
Baiuwariorum 37 eingedrungen. Für die gegen den Richter wegen
Bestechlichkeit erhobene Anklage hat ihn die Lex Burgundionum auf-
genommen 38. In einem singulären Falle wendet ihn auch eine Satzung
Liutprands an 39.
Mit Unrecht behauptet man, daſs das ältere deutsche Recht die
falsche Anklage nach dem Gesichtspunkte der Talion bestraft habe.
Im Volksgerichte erhoben, machte die falsche Anklage den Ankläger
wahrscheinlich nur strafbar, soweit sie an die Ehre ging. Im übrigen
schützte gegen mutwillige und verleumderische Anklagen der ganze
Zuschnitt des Gerichtsverfahrens, indem der Voreid, der dem Kläger
unbedingt oder auf Verlangen des Gegners oblag, Anlaſs zu einer
Meineidsklage geben konnte, und indem der Kläger, der den Beklagten
zur Reinigung durch ein Gottesurteil zwang, im Falle des Gelingens
den Buſsen der Eidesschelte verfiel.
Unter besonderen Voraussetzungen ist nach salischem Rechte
die falsche Anklage vor dem Könige unter Strafe gestellt. Wenn
jemand einen Unschuldigen in dessen Abwesenheit vor dem Könige
beschuldigt, so büſst er nach den älteren Texten der Lex Salica
62½ Solidi 40. Die Lex denkt dabei wohl hauptsächlich an die Be-
schuldigung der Infidelität. Die Buſse ist nicht Talionbuſse, sondern
Buſse der Lebensgefährdung. Die Lex Ribuaria setzt auf die falsche
Anklage vor dem Könige schlechtweg die Buſse von 60 Solidi 41. Nach
34 Lex Rom. Wisig. Cod. Theod. IX 1, 8, interpr.
35 Form. Turon. 29. Form. Extravag. I 6, Zeumer, Formulae S. 537.
36 Lex Wisig. VII 1, 5 (antiqua): ille vero, qui accusavit, et poenam et dampna
suscipiat, quae debuit pati accusatus, si de crimine fuisset convictus.
37 Lex Baiuw. IX 18: si quis … pro quacumque invidia iniustam accusa-
tionem commoverit, ipse penam vel damnum, quod alteri intulit, excipiat.
38 Lex Burg. prima constit. 9.
39 Liu. 111. Jemand verabredet mit einem fremden Knechte, daſs dieser sich
als handhaften Dieb binden lasse, und klagt gegen den Herrn neunfachen Ersatz
des Gestohlenen ein. Wird der Betrug entdeckt, so soll der Kläger an den Herrn
des Knechtes das Octogild der angeblich gestohlenen Sache zahlen und auſserdem
40 Solidi pro inlicita praesumptione, die den 40 Solidi entsprechen, um die der
Herr den bei handhaftem Diebstahl dem Tode verfallenen Knecht auslösen könnte.
40 Lex Sal. 18.
41 Lex Rib. 38.
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 677. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/695>, abgerufen am 17.06.2024.
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