gen Lage, Zahlen von einiger Zuverlässigkeit geben zu können. Da die Häufigkeit dieses Gebrechens bei unsern Volkszäh- lungen ermittelt wird, so will ich zunächst erwähnen, daß nach den neuesten Aufnahmen auf 10000 Einwohner in Deutschland und Frankreich 7--8, in Oesterreich und Eng- land 9, in Italien 10, in Spanien 11 und in Norwegen 13 Blinde kommen. Im mittelalterlichen Frankfurt da- gegen, wo sich für zehn verschiedene Jahre zwischen 1399 und 1499 die Zahl der Blinden annähernd ermitteln ließ, war dieselbe so hoch, daß die Rechnung auf 10000 Menschen 20--42 Blinde ergeben würde (heute nur 5). Diese Höhe erreicht die Blindenhäufigkeit gegenwärtig nur noch bei einem Volke in Europa, dem finnisch-estnischen: in Finn- land kommen auf 10000 Einwohner 69, in Estland 46 Blinde.
Das Mittelalter dachte nicht daran, für diese verschie- denen Arten von Gebrechlichen eigene Heilanstalten zu er- richten, da man ihr Unglück als eine unabwendbare Schickung der Vorsehung betrachtete. So weit sie rüstig und unge- fährlich waren, wurden sie mit mancherlei Arbeiten be- schäftigt -- freilich zuweilen sehr ungeeigneten. Hatte doch 1440 der Rat eine Anzahl Blinder als Thorhüter und Nachtwächter in seinen Diensten. Die meisten waren jedoch für ihren Unterhalt auf den Bettel angewiesen, und dieser Umstand ist für unsere Frage nicht ohne Wert. Denn wie noch heute die Bettler in Rußland Artele bilden, so schlossen jene Krüppel und Gebrechlichen im Mittelalter zur gegen-
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gen Lage, Zahlen von einiger Zuverläſſigkeit geben zu können. Da die Häufigkeit dieſes Gebrechens bei unſern Volkszäh- lungen ermittelt wird, ſo will ich zunächſt erwähnen, daß nach den neueſten Aufnahmen auf 10000 Einwohner in Deutſchland und Frankreich 7—8, in Oeſterreich und Eng- land 9, in Italien 10, in Spanien 11 und in Norwegen 13 Blinde kommen. Im mittelalterlichen Frankfurt da- gegen, wo ſich für zehn verſchiedene Jahre zwiſchen 1399 und 1499 die Zahl der Blinden annähernd ermitteln ließ, war dieſelbe ſo hoch, daß die Rechnung auf 10000 Menſchen 20—42 Blinde ergeben würde (heute nur 5). Dieſe Höhe erreicht die Blindenhäufigkeit gegenwärtig nur noch bei einem Volke in Europa, dem finniſch-eſtniſchen: in Finn- land kommen auf 10000 Einwohner 69, in Eſtland 46 Blinde.
Das Mittelalter dachte nicht daran, für dieſe verſchie- denen Arten von Gebrechlichen eigene Heilanſtalten zu er- richten, da man ihr Unglück als eine unabwendbare Schickung der Vorſehung betrachtete. So weit ſie rüſtig und unge- fährlich waren, wurden ſie mit mancherlei Arbeiten be- ſchäftigt — freilich zuweilen ſehr ungeeigneten. Hatte doch 1440 der Rat eine Anzahl Blinder als Thorhüter und Nachtwächter in ſeinen Dienſten. Die meiſten waren jedoch für ihren Unterhalt auf den Bettel angewieſen, und dieſer Umſtand iſt für unſere Frage nicht ohne Wert. Denn wie noch heute die Bettler in Rußland Artele bilden, ſo ſchloſſen jene Krüppel und Gebrechlichen im Mittelalter zur gegen-
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gen Lage, Zahlen von einiger Zuverläſſigkeit geben zu können.
Da die Häufigkeit dieſes Gebrechens bei unſern Volkszäh-
lungen ermittelt wird, ſo will ich zunächſt erwähnen, daß
nach den neueſten Aufnahmen auf 10000 Einwohner in
Deutſchland und Frankreich 7—8, in Oeſterreich und Eng-
land 9, in Italien 10, in Spanien 11 und in Norwegen
13 Blinde kommen. Im mittelalterlichen Frankfurt da-
gegen, wo ſich für zehn verſchiedene Jahre zwiſchen 1399
und 1499 die Zahl der Blinden annähernd ermitteln ließ,
war dieſelbe ſo hoch, daß die Rechnung auf 10000 Menſchen
20—42 Blinde ergeben würde (heute nur 5). Dieſe Höhe
erreicht die Blindenhäufigkeit gegenwärtig nur noch bei
einem Volke in Europa, dem finniſch-eſtniſchen: in Finn-
land kommen auf 10000 Einwohner 69, in Eſtland 46
Blinde.
Das Mittelalter dachte nicht daran, für dieſe verſchie-
denen Arten von Gebrechlichen eigene Heilanſtalten zu er-
richten, da man ihr Unglück als eine unabwendbare Schickung
der Vorſehung betrachtete. So weit ſie rüſtig und unge-
fährlich waren, wurden ſie mit mancherlei Arbeiten be-
ſchäftigt — freilich zuweilen ſehr ungeeigneten. Hatte doch
1440 der Rat eine Anzahl Blinder als Thorhüter und
Nachtwächter in ſeinen Dienſten. Die meiſten waren jedoch
für ihren Unterhalt auf den Bettel angewieſen, und dieſer
Umſtand iſt für unſere Frage nicht ohne Wert. Denn wie
noch heute die Bettler in Rußland Artele bilden, ſo ſchloſſen
jene Krüppel und Gebrechlichen im Mittelalter zur gegen-
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Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/249>, abgerufen am 22.11.2024.
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