Wie sind diese beiden Erscheinungsreihen mit einander zu vereinbaren? Handelt es sich um zwei einander ent- gegengesetzte Entwicklungsprinzipien? Oder sind vielleicht die modernen Wanderungen von ganz anderer Art als diejenigen früherer Jahrhunderte?
Fast möchte man das letztere glauben. Die Wande- rungen, welche vor Anfang der Geschichte der europäischen Menschheit stehen, sind Völkerwanderungen: ein Jahrhun- derte langes Schieben und Drängen kollektiver Gesamtheiten von Osten nach Westen. Die Wanderungen des Mittel- alters ergreifen immer nur einzelne Stände: die Ritter in den Kreuzzügen, die Kaufleute, die Lohnhandwerker, die Handwerksgesellen, die Gaukler und Spielleute, die Hörigen, welche Schutz hinter den städtischen Mauern suchen. Die modernen Wanderungen sind dagegen in der Regel eine Sache der Individuen, die sich dabei von den verschieden- artigsten Beweggründen leiten lassen. Sie sind fast immer unorganisiert, und der täglich tausendfach sich wiederholende Vorgang wird nur durch das eine Merkmal zusammenge- halten, daß es sich überall um eine Ortsveränderung von Personen handelt, welche günstigere Lebensbedingungen aufsuchen.
Und doch würde eine solche Unterscheidung dem Wesen der modernen und auch der mittelalterlichen Wanderungen nicht ganz gerecht werden. Wollen wir ihre wahre ent- wicklungsgeschichtliche Bedeutung erfassen, so müssen wir erst Lichtung bringen in das wirre Dickicht trüber Tages-
Wie ſind dieſe beiden Erſcheinungsreihen mit einander zu vereinbaren? Handelt es ſich um zwei einander ent- gegengeſetzte Entwicklungsprinzipien? Oder ſind vielleicht die modernen Wanderungen von ganz anderer Art als diejenigen früherer Jahrhunderte?
Faſt möchte man das letztere glauben. Die Wande- rungen, welche vor Anfang der Geſchichte der europäiſchen Menſchheit ſtehen, ſind Völkerwanderungen: ein Jahrhun- derte langes Schieben und Drängen kollektiver Geſamtheiten von Oſten nach Weſten. Die Wanderungen des Mittel- alters ergreifen immer nur einzelne Stände: die Ritter in den Kreuzzügen, die Kaufleute, die Lohnhandwerker, die Handwerksgeſellen, die Gaukler und Spielleute, die Hörigen, welche Schutz hinter den ſtädtiſchen Mauern ſuchen. Die modernen Wanderungen ſind dagegen in der Regel eine Sache der Individuen, die ſich dabei von den verſchieden- artigſten Beweggründen leiten laſſen. Sie ſind faſt immer unorganiſiert, und der täglich tauſendfach ſich wiederholende Vorgang wird nur durch das eine Merkmal zuſammenge- halten, daß es ſich überall um eine Ortsveränderung von Perſonen handelt, welche günſtigere Lebensbedingungen aufſuchen.
Und doch würde eine ſolche Unterſcheidung dem Weſen der modernen und auch der mittelalterlichen Wanderungen nicht ganz gerecht werden. Wollen wir ihre wahre ent- wicklungsgeſchichtliche Bedeutung erfaſſen, ſo müſſen wir erſt Lichtung bringen in das wirre Dickicht trüber Tages-
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Wie ſind dieſe beiden Erſcheinungsreihen mit einander
zu vereinbaren? Handelt es ſich um zwei einander ent-
gegengeſetzte Entwicklungsprinzipien? Oder ſind vielleicht
die modernen Wanderungen von ganz anderer Art als
diejenigen früherer Jahrhunderte?
Faſt möchte man das letztere glauben. Die Wande-
rungen, welche vor Anfang der Geſchichte der europäiſchen
Menſchheit ſtehen, ſind Völkerwanderungen: ein Jahrhun-
derte langes Schieben und Drängen kollektiver Geſamtheiten
von Oſten nach Weſten. Die Wanderungen des Mittel-
alters ergreifen immer nur einzelne Stände: die Ritter in
den Kreuzzügen, die Kaufleute, die Lohnhandwerker, die
Handwerksgeſellen, die Gaukler und Spielleute, die Hörigen,
welche Schutz hinter den ſtädtiſchen Mauern ſuchen. Die
modernen Wanderungen ſind dagegen in der Regel eine
Sache der Individuen, die ſich dabei von den verſchieden-
artigſten Beweggründen leiten laſſen. Sie ſind faſt immer
unorganiſiert, und der täglich tauſendfach ſich wiederholende
Vorgang wird nur durch das eine Merkmal zuſammenge-
halten, daß es ſich überall um eine Ortsveränderung von
Perſonen handelt, welche günſtigere Lebensbedingungen
aufſuchen.
Und doch würde eine ſolche Unterſcheidung dem Weſen
der modernen und auch der mittelalterlichen Wanderungen
nicht ganz gerecht werden. Wollen wir ihre wahre ent-
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Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/280>, abgerufen am 22.11.2024.
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