Büchner, Georg: Danton's Tod. Frankfurt (Main), 1835.
merkt' er's. Er kam eines Morgens und küßte mich, als wollte er mich ersticken; seine Arme schnürten sich um meinen Hals, ich war in unsäglicher Angst. Da ließ er mich los, und lachte, und sagte: er hätte fast einen dummen Streich gemacht, ich solle mein Kleid nur behalten und es brauchen, es würde sich schon von selbst abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit verderben, es wäre doch das Einzige, was ich hätte. Dann ging er, ich wußte wieder nicht, was er wollte. Den Abend saß ich am Fenster, ich bin sehr reizbar und hänge mit Allem um mich nur durch eine Empfindung zu- sammen; ich versank in die Wellen der Abendröthe. Da kam ein Haufe die Straße herab, die Kinder liefen voraus, die Weiber sahen aus den Fenstern. Ich sah hinunter, sie trugen ihn in einem Korb vorbei, der Mond schien auf seine bleiche Stirn, seine Locken waren feucht, er hatte sich ersäuft. Ich mußte weinen. Das war der einzige Bruch in mei- nem Wesen. Die andern Leute haben Sonn- und Werktage, sie arbeiten sechs Tage und beten am siebenten, sie sind jedes Jahr auf ihrem Geburts- tag einmal gerührt und denken auf Neujahr einmal nach. Ich begreife nichts davon; ich kenne keinen
merkt’ er’s. Er kam eines Morgens und küßte mich, als wollte er mich erſticken; ſeine Arme ſchnürten ſich um meinen Hals, ich war in unſäglicher Angſt. Da ließ er mich los, und lachte, und ſagte: er hätte faſt einen dummen Streich gemacht, ich ſolle mein Kleid nur behalten und es brauchen, es würde ſich ſchon von ſelbſt abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit verderben, es wäre doch das Einzige, was ich hätte. Dann ging er, ich wußte wieder nicht, was er wollte. Den Abend ſaß ich am Fenſter, ich bin ſehr reizbar und hänge mit Allem um mich nur durch eine Empfindung zu- ſammen; ich verſank in die Wellen der Abendröthe. Da kam ein Haufe die Straße herab, die Kinder liefen voraus, die Weiber ſahen aus den Fenſtern. Ich ſah hinunter, ſie trugen ihn in einem Korb vorbei, der Mond ſchien auf ſeine bleiche Stirn, ſeine Locken waren feucht, er hatte ſich erſäuft. Ich mußte weinen. Das war der einzige Bruch in mei- nem Weſen. Die andern Leute haben Sonn- und Werktage, ſie arbeiten ſechs Tage und beten am ſiebenten, ſie ſind jedes Jahr auf ihrem Geburts- tag einmal gerührt und denken auf Neujahr einmal nach. Ich begreife nichts davon; ich kenne keinen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#MAR"> <p><pb facs="#f0038" n="34"/> merkt’ er’s. Er kam eines Morgens und küßte mich,<lb/> als wollte er mich erſticken; ſeine Arme ſchnürten<lb/> ſich um meinen Hals, ich war in unſäglicher Angſt.<lb/> Da ließ er mich los, und lachte, und ſagte: er hätte<lb/> faſt einen dummen Streich gemacht, ich ſolle mein<lb/> Kleid nur behalten und es brauchen, es würde ſich<lb/> ſchon von ſelbſt abtragen, er wolle mir den Spaß<lb/> nicht vor der Zeit verderben, es wäre doch das<lb/> Einzige, was ich hätte. Dann ging er, ich wußte<lb/> wieder nicht, was er wollte. Den Abend ſaß ich<lb/> am Fenſter, ich bin ſehr reizbar und hänge mit<lb/> Allem um mich nur durch eine Empfindung zu-<lb/> ſammen; ich verſank in die Wellen der Abendröthe.<lb/> Da kam ein Haufe die Straße herab, die Kinder<lb/> liefen voraus, die Weiber ſahen aus den Fenſtern.<lb/> Ich ſah hinunter, ſie trugen ihn in einem Korb<lb/> vorbei, der Mond ſchien auf ſeine bleiche Stirn,<lb/> ſeine Locken waren feucht, er hatte ſich erſäuft. Ich<lb/> mußte weinen. Das war der einzige Bruch in mei-<lb/> nem Weſen. Die andern Leute haben Sonn- und<lb/> Werktage, ſie arbeiten ſechs Tage und beten am<lb/> ſiebenten, ſie ſind jedes Jahr auf ihrem Geburts-<lb/> tag einmal gerührt und denken auf Neujahr einmal<lb/> nach. Ich begreife nichts davon; ich kenne keinen<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [34/0038]
merkt’ er’s. Er kam eines Morgens und küßte mich,
als wollte er mich erſticken; ſeine Arme ſchnürten
ſich um meinen Hals, ich war in unſäglicher Angſt.
Da ließ er mich los, und lachte, und ſagte: er hätte
faſt einen dummen Streich gemacht, ich ſolle mein
Kleid nur behalten und es brauchen, es würde ſich
ſchon von ſelbſt abtragen, er wolle mir den Spaß
nicht vor der Zeit verderben, es wäre doch das
Einzige, was ich hätte. Dann ging er, ich wußte
wieder nicht, was er wollte. Den Abend ſaß ich
am Fenſter, ich bin ſehr reizbar und hänge mit
Allem um mich nur durch eine Empfindung zu-
ſammen; ich verſank in die Wellen der Abendröthe.
Da kam ein Haufe die Straße herab, die Kinder
liefen voraus, die Weiber ſahen aus den Fenſtern.
Ich ſah hinunter, ſie trugen ihn in einem Korb
vorbei, der Mond ſchien auf ſeine bleiche Stirn,
ſeine Locken waren feucht, er hatte ſich erſäuft. Ich
mußte weinen. Das war der einzige Bruch in mei-
nem Weſen. Die andern Leute haben Sonn- und
Werktage, ſie arbeiten ſechs Tage und beten am
ſiebenten, ſie ſind jedes Jahr auf ihrem Geburts-
tag einmal gerührt und denken auf Neujahr einmal
nach. Ich begreife nichts davon; ich kenne keinen
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