und Geschlechtslust, Verdauungs- und Fortpflanzungs- werkzeuge sind bei ihnen entwickelt. Wer hätte noch nicht auf einer Gebirgsreise die Cretinen gesehen, wie sie stumpf und theilnahmlos, mit stierem Blick am Wege oder vor den Thüren der Hütten kauern! Das Wesen dieser scheußlichen Abnormität des Menschengeschlechts besteht in einer meist angeborenen Verkümmerung des Gehirns. Eine von der sardinischen Regierung zu diesem Zwecke ernannte Commission stattete einen sehr genauen und ausführlichen Bericht über die Cre- tinen ab, welcher ergab, daß bei allen Cretinen eine fehlerhafte Bildung der Hirnschaale und mangel- oder fehlerhafte Entwicklung des Ge- hirns vorhanden ist. "Das Gehirn," sagt Förster (Lehrbuch der pathol. Anatomie), "ist bei Cretinismus stets in den großen Hemisphären kleiner als normal, der Schädel stets abnorm gestaltet, und zwar in verschiede- nen Formen, die sich meist durch Kleinheit, Asymmetrie und Mißgestalt der Schädeldecke charakterisiren." Dr. Knolz beobachtete, daß die Cretinen bis in ihr höchstes Alter Kinder bleiben und Alles thun, was Kinder zu thun pflegen. "Jndem ich die hervorstechendsten Züge der Entwicklung der Cretinen im Einzelnen studirte," sagt Baillarger, "fand ich etc., daß die allgemeinen Formen des Körpers und der Glieder fortfuhren, die- jenigen von sehr jungen Kindern zu sein, daß es sich
und Geſchlechtsluſt, Verdauungs- und Fortpflanzungs- werkzeuge ſind bei ihnen entwickelt. Wer hätte noch nicht auf einer Gebirgsreiſe die Cretinen geſehen, wie ſie ſtumpf und theilnahmlos, mit ſtierem Blick am Wege oder vor den Thüren der Hütten kauern! Das Weſen dieſer ſcheußlichen Abnormität des Menſchengeſchlechts beſteht in einer meiſt angeborenen Verkümmerung des Gehirns. Eine von der ſardiniſchen Regierung zu dieſem Zwecke ernannte Commiſſion ſtattete einen ſehr genauen und ausführlichen Bericht über die Cre- tinen ab, welcher ergab, daß bei allen Cretinen eine fehlerhafte Bildung der Hirnſchaale und mangel- oder fehlerhafte Entwicklung des Ge- hirns vorhanden iſt. „Das Gehirn,‟ ſagt Förſter (Lehrbuch der pathol. Anatomie), „iſt bei Cretinismus ſtets in den großen Hemiſphären kleiner als normal, der Schädel ſtets abnorm geſtaltet, und zwar in verſchiede- nen Formen, die ſich meiſt durch Kleinheit, Aſymmetrie und Mißgeſtalt der Schädeldecke charakteriſiren.‟ Dr. Knolz beobachtete, daß die Cretinen bis in ihr höchſtes Alter Kinder bleiben und Alles thun, was Kinder zu thun pflegen. „Jndem ich die hervorſtechendſten Züge der Entwicklung der Cretinen im Einzelnen ſtudirte,‟ ſagt Baillarger, „fand ich ꝛc., daß die allgemeinen Formen des Körpers und der Glieder fortfuhren, die- jenigen von ſehr jungen Kindern zu ſein, daß es ſich
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0148"n="128"/>
und Geſchlechtsluſt, Verdauungs- und Fortpflanzungs-<lb/>
werkzeuge ſind bei ihnen entwickelt. Wer hätte noch<lb/>
nicht auf einer Gebirgsreiſe die <hirendition="#g">Cretinen</hi> geſehen, wie<lb/>ſie ſtumpf und theilnahmlos, mit ſtierem Blick am Wege<lb/>
oder vor den Thüren der Hütten kauern! Das Weſen<lb/>
dieſer ſcheußlichen Abnormität des Menſchengeſchlechts<lb/>
beſteht in einer meiſt angeborenen <hirendition="#g">Verkümmerung<lb/>
des Gehirns.</hi> Eine von der ſardiniſchen Regierung<lb/>
zu dieſem Zwecke ernannte Commiſſion ſtattete einen<lb/>ſehr genauen und ausführlichen Bericht über die Cre-<lb/>
tinen ab, welcher ergab, <hirendition="#g">daß bei allen Cretinen<lb/>
eine fehlerhafte Bildung der Hirnſchaale und<lb/>
mangel- oder fehlerhafte Entwicklung des Ge-<lb/>
hirns vorhanden iſt.</hi>„Das Gehirn,‟ſagt <hirendition="#g">Förſter</hi><lb/>
(Lehrbuch der pathol. Anatomie), „iſt bei Cretinismus<lb/>ſtets in den großen Hemiſphären kleiner als normal, der<lb/>
Schädel ſtets abnorm geſtaltet, und zwar in verſchiede-<lb/>
nen Formen, die ſich meiſt durch Kleinheit, Aſymmetrie<lb/>
und Mißgeſtalt der Schädeldecke charakteriſiren.‟<hirendition="#aq">Dr.</hi><lb/><hirendition="#g">Knolz</hi> beobachtete, daß die Cretinen bis in ihr höchſtes<lb/>
Alter <hirendition="#g">Kinder</hi> bleiben und Alles thun, was Kinder zu<lb/>
thun pflegen. „Jndem ich die hervorſtechendſten Züge<lb/>
der Entwicklung der Cretinen im Einzelnen ſtudirte,‟<lb/>ſagt <hirendition="#g">Baillarger,</hi>„fand ich ꝛc., daß die allgemeinen<lb/>
Formen des Körpers und der Glieder fortfuhren, die-<lb/>
jenigen von ſehr jungen Kindern zu ſein, daß es ſich<lb/></p></div></body></text></TEI>
[128/0148]
und Geſchlechtsluſt, Verdauungs- und Fortpflanzungs-
werkzeuge ſind bei ihnen entwickelt. Wer hätte noch
nicht auf einer Gebirgsreiſe die Cretinen geſehen, wie
ſie ſtumpf und theilnahmlos, mit ſtierem Blick am Wege
oder vor den Thüren der Hütten kauern! Das Weſen
dieſer ſcheußlichen Abnormität des Menſchengeſchlechts
beſteht in einer meiſt angeborenen Verkümmerung
des Gehirns. Eine von der ſardiniſchen Regierung
zu dieſem Zwecke ernannte Commiſſion ſtattete einen
ſehr genauen und ausführlichen Bericht über die Cre-
tinen ab, welcher ergab, daß bei allen Cretinen
eine fehlerhafte Bildung der Hirnſchaale und
mangel- oder fehlerhafte Entwicklung des Ge-
hirns vorhanden iſt. „Das Gehirn,‟ ſagt Förſter
(Lehrbuch der pathol. Anatomie), „iſt bei Cretinismus
ſtets in den großen Hemiſphären kleiner als normal, der
Schädel ſtets abnorm geſtaltet, und zwar in verſchiede-
nen Formen, die ſich meiſt durch Kleinheit, Aſymmetrie
und Mißgeſtalt der Schädeldecke charakteriſiren.‟ Dr.
Knolz beobachtete, daß die Cretinen bis in ihr höchſtes
Alter Kinder bleiben und Alles thun, was Kinder zu
thun pflegen. „Jndem ich die hervorſtechendſten Züge
der Entwicklung der Cretinen im Einzelnen ſtudirte,‟
ſagt Baillarger, „fand ich ꝛc., daß die allgemeinen
Formen des Körpers und der Glieder fortfuhren, die-
jenigen von ſehr jungen Kindern zu ſein, daß es ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/148>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.