ständigen Daseins, und diese vollkommene Erinnerungs- losigkeit beweist für sein damaliges geistiges Nichtsein. Der Grund hiervon kann eben nur darin liegen, daß während des Fruchtzustandes die Eindrücke von Außen gänzlich fehlen und in der ersten Zeit nach demselben so mangelhaft sind, daß der geistige Mensch dabei nicht be- stehen kann. Es ist äußerst interessant, den fast komi- schen wissenschaftlichen Streit zu betrachten, welcher über den Zeitpunkt der s. g. Beseelung der menschlichen Frucht geführt worden ist, ein Streit, welcher von dem Momente an praktisch wichtig wurde, als man die Tödtung einer ungebornen Frucht als ein moralisches und juristi- sches Verbrechen anzusehen begann. Es handelte sich darum zu wissen, um welche Zeit in der menschlichen Frucht während der Dauer ihrer Entwicklung die per- sönliche Seele ihren Sitz nähme, indem erst nach diesem Zeitpunkte an der Frucht, als an einem beseelten We- sen ein Verbrechen begangen werden konnte. Die wissen- schaftliche und logische Unmöglichkeit, diesen Zeitpunkt zu bestimmen, beweist für die Verkehrtheit und Unwahr- heit jener ganzen Anschauungsweise, nach welcher eine höhere Macht dem Fötus Geist und Seele einbläst. Die römischen Juristen gingen allein von der richtigen Ansicht aus, indem sie die Frucht überhaupt nicht als ein beson- deres Wesen betrachteten, sondern nur als einen Theil des mütterlichen Körpers, welcher der Mutter und ihrem
ſtändigen Daſeins, und dieſe vollkommene Erinnerungs- loſigkeit beweiſt für ſein damaliges geiſtiges Nichtſein. Der Grund hiervon kann eben nur darin liegen, daß während des Fruchtzuſtandes die Eindrücke von Außen gänzlich fehlen und in der erſten Zeit nach demſelben ſo mangelhaft ſind, daß der geiſtige Menſch dabei nicht be- ſtehen kann. Es iſt äußerſt intereſſant, den faſt komi- ſchen wiſſenſchaftlichen Streit zu betrachten, welcher über den Zeitpunkt der ſ. g. Beſeelung der menſchlichen Frucht geführt worden iſt, ein Streit, welcher von dem Momente an praktiſch wichtig wurde, als man die Tödtung einer ungebornen Frucht als ein moraliſches und juriſti- ſches Verbrechen anzuſehen begann. Es handelte ſich darum zu wiſſen, um welche Zeit in der menſchlichen Frucht während der Dauer ihrer Entwicklung die per- ſönliche Seele ihren Sitz nähme, indem erſt nach dieſem Zeitpunkte an der Frucht, als an einem beſeelten We- ſen ein Verbrechen begangen werden konnte. Die wiſſen- ſchaftliche und logiſche Unmöglichkeit, dieſen Zeitpunkt zu beſtimmen, beweiſt für die Verkehrtheit und Unwahr- heit jener ganzen Anſchauungsweiſe, nach welcher eine höhere Macht dem Fötus Geiſt und Seele einbläſt. Die römiſchen Juriſten gingen allein von der richtigen Anſicht aus, indem ſie die Frucht überhaupt nicht als ein beſon- deres Weſen betrachteten, ſondern nur als einen Theil des mütterlichen Körpers, welcher der Mutter und ihrem
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ſtändigen Daſeins, und dieſe vollkommene Erinnerungs-
loſigkeit beweiſt für ſein damaliges geiſtiges Nichtſein.
Der Grund hiervon kann eben nur darin liegen, daß
während des Fruchtzuſtandes die Eindrücke von Außen
gänzlich fehlen und in der erſten Zeit nach demſelben ſo
mangelhaft ſind, daß der geiſtige Menſch dabei nicht be-
ſtehen kann. Es iſt äußerſt intereſſant, den faſt komi-
ſchen wiſſenſchaftlichen Streit zu betrachten, welcher über
den Zeitpunkt der ſ. g. Beſeelung der menſchlichen
Frucht geführt worden iſt, ein Streit, welcher von dem
Momente an praktiſch wichtig wurde, als man die Tödtung
einer ungebornen Frucht als ein moraliſches und juriſti-
ſches Verbrechen anzuſehen begann. Es handelte ſich
darum zu wiſſen, um welche Zeit in der menſchlichen
Frucht während der Dauer ihrer Entwicklung die per-
ſönliche Seele ihren Sitz nähme, indem erſt nach dieſem
Zeitpunkte an der Frucht, als an einem beſeelten We-
ſen ein Verbrechen begangen werden konnte. Die wiſſen-
ſchaftliche und logiſche Unmöglichkeit, dieſen Zeitpunkt
zu beſtimmen, beweiſt für die Verkehrtheit und Unwahr-
heit jener ganzen Anſchauungsweiſe, nach welcher eine
höhere Macht dem Fötus Geiſt und Seele einbläſt. Die
römiſchen Juriſten gingen allein von der richtigen Anſicht
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deres Weſen betrachteten, ſondern nur als einen Theil
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/179>, abgerufen am 21.11.2024.
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