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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855.

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wenig hat sein Gefallen am Schönen den Werth irgend
einer angeborenen Anschauung. Jm Gegentheil äußern
Kinder oft einen sehr sonderbaren und für Erwachsene
lächerlichen Geschmack; sie wissen nicht oder nur schwer
zwischen Mein und Dein zu unterscheiden, haben keinen
Begriff von dem Unrecht, welches in der Lüge oder im
Diebstahl liegt, ja zeigen keine Spur jener geistigen
Qualität, welche später mit so großer Gewalt hervor-
tritt, der Schamhaftigkeit. Erst nach Erreichung
eines bestimmten und ziemlich hohen Alters erkennt der
Staat eine persönliche Zurechnungsfähigkeit an -- Be-
weis genug dafür, daß man dem Kinde keine angeborene
Rechtsidee zutraut. Dasselbe Verhalten, wie bei Kin-
dern, dieselbe moralische Unzurechnungsfähigkeit, Scham-
losigkeit u. s. w. sehen wir bei wilden, unerzogenen
Völkern. Der Sinn für Schönheit, für Recht und
Wahres, obgleich er sich am Ende Jedem mit einer
gewissen Nothwendigkeit und bis zu einem gewissen Grade
aus der objectiven Welt heraus aufdrängt, kann und
muß doch geübt werden, um Kraft und Geltung zu
erlangen. Wie anders überlegt und schließt der an's
Denken gewöhnte Gelehrte, als derjenige, der sich nur
mit körperlichen Arbeiten beschäftigt! Wie ganz anders
erglüht der vom Leben gewiegte und am Busen der
Geschichte großgezogene Mann für Recht und Gerechtig-
keit, als der einem unbestimmten und noch unklaren

wenig hat ſein Gefallen am Schönen den Werth irgend
einer angeborenen Anſchauung. Jm Gegentheil äußern
Kinder oft einen ſehr ſonderbaren und für Erwachſene
lächerlichen Geſchmack; ſie wiſſen nicht oder nur ſchwer
zwiſchen Mein und Dein zu unterſcheiden, haben keinen
Begriff von dem Unrecht, welches in der Lüge oder im
Diebſtahl liegt, ja zeigen keine Spur jener geiſtigen
Qualität, welche ſpäter mit ſo großer Gewalt hervor-
tritt, der Schamhaftigkeit. Erſt nach Erreichung
eines beſtimmten und ziemlich hohen Alters erkennt der
Staat eine perſönliche Zurechnungsfähigkeit an — Be-
weis genug dafür, daß man dem Kinde keine angeborene
Rechtsidee zutraut. Daſſelbe Verhalten, wie bei Kin-
dern, dieſelbe moraliſche Unzurechnungsfähigkeit, Scham-
loſigkeit u. ſ. w. ſehen wir bei wilden, unerzogenen
Völkern. Der Sinn für Schönheit, für Recht und
Wahres, obgleich er ſich am Ende Jedem mit einer
gewiſſen Nothwendigkeit und bis zu einem gewiſſen Grade
aus der objectiven Welt heraus aufdrängt, kann und
muß doch geübt werden, um Kraft und Geltung zu
erlangen. Wie anders überlegt und ſchließt der an’s
Denken gewöhnte Gelehrte, als derjenige, der ſich nur
mit körperlichen Arbeiten beſchäftigt! Wie ganz anders
erglüht der vom Leben gewiegte und am Buſen der
Geſchichte großgezogene Mann für Recht und Gerechtig-
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[174/0194] wenig hat ſein Gefallen am Schönen den Werth irgend einer angeborenen Anſchauung. Jm Gegentheil äußern Kinder oft einen ſehr ſonderbaren und für Erwachſene lächerlichen Geſchmack; ſie wiſſen nicht oder nur ſchwer zwiſchen Mein und Dein zu unterſcheiden, haben keinen Begriff von dem Unrecht, welches in der Lüge oder im Diebſtahl liegt, ja zeigen keine Spur jener geiſtigen Qualität, welche ſpäter mit ſo großer Gewalt hervor- tritt, der Schamhaftigkeit. Erſt nach Erreichung eines beſtimmten und ziemlich hohen Alters erkennt der Staat eine perſönliche Zurechnungsfähigkeit an — Be- weis genug dafür, daß man dem Kinde keine angeborene Rechtsidee zutraut. Daſſelbe Verhalten, wie bei Kin- dern, dieſelbe moraliſche Unzurechnungsfähigkeit, Scham- loſigkeit u. ſ. w. ſehen wir bei wilden, unerzogenen Völkern. Der Sinn für Schönheit, für Recht und Wahres, obgleich er ſich am Ende Jedem mit einer gewiſſen Nothwendigkeit und bis zu einem gewiſſen Grade aus der objectiven Welt heraus aufdrängt, kann und muß doch geübt werden, um Kraft und Geltung zu erlangen. Wie anders überlegt und ſchließt der an’s Denken gewöhnte Gelehrte, als derjenige, der ſich nur mit körperlichen Arbeiten beſchäftigt! Wie ganz anders erglüht der vom Leben gewiegte und am Buſen der Geſchichte großgezogene Mann für Recht und Gerechtig- keit, als der einem unbeſtimmten und noch unklaren

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Zitationshilfe: Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/194>, abgerufen am 21.11.2024.