these in der Ausdehnung, wie sie von Religion und Philosophie benutzt wird, verläßt den einzig sicheren Bo- den menschlichen Begreifens, die sinnliche Erkenntniß, und erhebt die Phantasie der Willkühr auf den Thron. Die Hypothese kann Götter und Engel, Dämonen und Teu- fel in Menge erfinden, sie kann einen Himmel und eine Hölle construiren, sie kann eine geistige Materie erfinden und die Seelen der Abgeschiedenen durch alle Himmel reiten lassen; sie wird nie an ein Ende gelangen; denn hinter Dem, was unserer sinnlichen Erkenntniß ver- schlossen ist, können ja alle denkbaren Dinge existiren; aber Alles dieses kann sie nur willkührlich, nur ideell, nur metaphysisch. Wer die Empirie verwirft, verwirft alles menschliche Begreifen überhaupt und hat noch nicht einmal eingesehen, daß menschliches Wissen und Denken ohne reale Objekte ein non ens ist. Denken und Sein sind ebenso unzertrennlich, als Kraft und Stoff, als Geist und Materie, und ein materienloser Geist ist eine willkührliche Annahme ohne jede reale Basis, eine Hypothese. Besäße der menschliche Geist metaphysische, durch die reale Welt nicht bestimmbare Kenntnisse, so müßte man von den Metaphysikern die- selbe Uebereinstimmung und Sicherheit der Ansichten verlangen dürfen, wie sie unter den Physiologen über die Funktion eines Muskels oder unter den Physikern über das Gesetz der Schwere u. s. w. besteht; statt
theſe in der Ausdehnung, wie ſie von Religion und Philoſophie benutzt wird, verläßt den einzig ſicheren Bo- den menſchlichen Begreifens, die ſinnliche Erkenntniß, und erhebt die Phantaſie der Willkühr auf den Thron. Die Hypotheſe kann Götter und Engel, Dämonen und Teu- fel in Menge erfinden, ſie kann einen Himmel und eine Hölle conſtruiren, ſie kann eine geiſtige Materie erfinden und die Seelen der Abgeſchiedenen durch alle Himmel reiten laſſen; ſie wird nie an ein Ende gelangen; denn hinter Dem, was unſerer ſinnlichen Erkenntniß ver- ſchloſſen iſt, können ja alle denkbaren Dinge exiſtiren; aber Alles dieſes kann ſie nur willkührlich, nur ideell, nur metaphyſiſch. Wer die Empirie verwirft, verwirft alles menſchliche Begreifen überhaupt und hat noch nicht einmal eingeſehen, daß menſchliches Wiſſen und Denken ohne reale Objekte ein non ens iſt. Denken und Sein ſind ebenſo unzertrennlich, als Kraft und Stoff, als Geiſt und Materie, und ein materienloſer Geiſt iſt eine willkührliche Annahme ohne jede reale Baſis, eine Hypotheſe. Beſäße der menſchliche Geiſt metaphyſiſche, durch die reale Welt nicht beſtimmbare Kenntniſſe, ſo müßte man von den Metaphyſikern die- ſelbe Uebereinſtimmung und Sicherheit der Anſichten verlangen dürfen, wie ſie unter den Phyſiologen über die Funktion eines Muskels oder unter den Phyſikern über das Geſetz der Schwere u. ſ. w. beſteht; ſtatt
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theſe in der Ausdehnung, wie ſie von Religion und
Philoſophie benutzt wird, verläßt den einzig ſicheren Bo-
den menſchlichen Begreifens, die ſinnliche Erkenntniß,
und erhebt die Phantaſie der Willkühr auf den Thron.
Die Hypotheſe kann Götter und Engel, Dämonen und Teu-
fel in Menge erfinden, ſie kann einen Himmel und eine
Hölle conſtruiren, ſie kann eine geiſtige Materie erfinden
und die Seelen der Abgeſchiedenen durch alle Himmel
reiten laſſen; ſie wird nie an ein Ende gelangen; denn
hinter Dem, was unſerer ſinnlichen Erkenntniß ver-
ſchloſſen iſt, können ja alle denkbaren Dinge exiſtiren;
aber Alles dieſes kann ſie nur willkührlich, nur ideell,
nur metaphyſiſch. Wer die Empirie verwirft, verwirft
alles menſchliche Begreifen überhaupt und hat noch
nicht einmal eingeſehen, daß menſchliches Wiſſen und
Denken ohne reale Objekte ein non ens iſt. Denken
und Sein ſind ebenſo unzertrennlich, als Kraft und
Stoff, als Geiſt und Materie, und ein materienloſer
Geiſt iſt eine willkührliche Annahme ohne jede reale
Baſis, eine Hypotheſe. Beſäße der menſchliche Geiſt
metaphyſiſche, durch die reale Welt nicht beſtimmbare
Kenntniſſe, ſo müßte man von den Metaphyſikern die-
ſelbe Uebereinſtimmung und Sicherheit der Anſichten
verlangen dürfen, wie ſie unter den Phyſiologen über
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/281>, abgerufen am 21.11.2024.
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